Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Goethes Religion nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorüber¬ Wie sehr die Gräfin im Irrtum war, wissen wir. Ihr blieb verborgen, Goethe begann das Gedicht im Sommer 1785, als er schon entschiedener Dieses unvollendet gebliebene Epos kann selbst als eine Art Symbol Goethes Religion nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorüber¬ Wie sehr die Gräfin im Irrtum war, wissen wir. Ihr blieb verborgen, Goethe begann das Gedicht im Sommer 1785, als er schon entschiedener Dieses unvollendet gebliebene Epos kann selbst als eine Art Symbol <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318967"/> <fw type="header" place="top"> Goethes Religion</fw><lb/> <p xml:id="ID_34" prev="#ID_33"> nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorüber¬<lb/> gehende lassen wir uns gefallen. Bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick<lb/> gegenwärtig, so leiden wir gar nicht an der vergänglichen Zeit. Redlich habe<lb/> ich es mein Leben lang mit mir und anderen gemeint und bei allem irdischen<lb/> Treiben immer aufs Höchste hingeblickt. Sie und die Ihrigen haben es auch<lb/> getan. Wirken wir also immerfort, solange es Tag für uns ist. Für andere<lb/> wird auch eine Sonne scheinen. Sie werden sich an ihr hervortnn und uns<lb/> indessen ein helleres Licht erleuchten. Und so bleiben wir wegen der Zukunft<lb/> unbekümmert."</p><lb/> <p xml:id="ID_35"> Wie sehr die Gräfin im Irrtum war, wissen wir. Ihr blieb verborgen,<lb/> daß Goethe eine durchaus religiöse Natur war und blieb, wenn er sich auch<lb/> von den hergebrachten Formen des Bekenntnisses losgesagt hatte. Wie aber<lb/> seine Größe zum nicht geringen Teil darauf beruht, daß alle seine Eigenschaften<lb/> produktiv wurden, so regte sich auch einmal der Trieb, seine Auffassung des<lb/> Glaubens in die Tat umzusetzen d. h. er wollte sich als Religionsstifter ver¬<lb/> suchen. Natürlich geschah das nicht praktisch, sondern künstlerisch auf dem<lb/> Gebiete der Poesie. Dies ist der eigentliche Ursprung des Fragmentes der<lb/> „Geheimnisse".</p><lb/> <p xml:id="ID_36"> Goethe begann das Gedicht im Sommer 1785, als er schon entschiedener<lb/> Nichtchrist war, angeregt von Lessings „Nathan" und unter dein Einflüsse des<lb/> Hanges seiner Zeit zu Verbrüderungen und geheimen Gesellschaften. Er hatte<lb/> die Absicht, eine Genossenschaft von zwölf Rittermönchen darzustellen, von denen<lb/> jeder eine eigene Art des Glaubens verkörpern sollte. Sie sind gruppiert um<lb/> einen Mann, in dem sie eine Art Häuptling erblicken und der den Namen<lb/> Humanus führt. Soweit wir aus den vierundvierzig formschönen Stanzen, bis<lb/> zu denen das Gedicht gediehen ist, urteilen können, sollte sich aus der Darstellung<lb/> der zwölf Religionen, uuter denen das Christentum uicht gefehlt hätte, das<lb/> Ideal des religiösen Wesens ergeben. Wie das beschaffen sein sollte, erklärt<lb/> wenigstens ungefähr das Symbol, das die gemeinsame Wohnstätte der Ritter¬<lb/> mönche schmückt: das mit Rosen umwundene Kreuz. Es deutet zunächst auf<lb/> Gottergebenheit und Selbstüberwindung, wie sie schon das Christentum zur<lb/> Geltung gebracht hatte. Insofern es dabei aber den Sinn für die Schönheit<lb/> und Fülle des Lebens vernichtet hatte, erschien es dem Dichter unzulänglich.<lb/> Die für das Glück der Menschen unentbehrliche Freude an der Welt sollte<lb/> nicht nur zurückgewonnen, sondern geradezu ein Element der religiösen Gesinnung<lb/> werden. Das bedeuten die Rosen.</p><lb/> <p xml:id="ID_37" next="#ID_38"> Dieses unvollendet gebliebene Epos kann selbst als eine Art Symbol<lb/> betrachtet werden, indem es wie ein Wahrzeichen in der Mitte der religiösen<lb/> Entwicklung Goethes steht, das nach dem Beginn und dem Ende blicken läßt.<lb/> Während der Dichter von der italienischen Reise bis zum Erscheinen des Buches<lb/> über Winckelmann, also von 1786 bis 1803, wie wir sahen, den Lebensgenuß<lb/> betonte und das Christentum wegen seiner Verneinung dieses Elementes des</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Goethes Religion
nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorüber¬
gehende lassen wir uns gefallen. Bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick
gegenwärtig, so leiden wir gar nicht an der vergänglichen Zeit. Redlich habe
ich es mein Leben lang mit mir und anderen gemeint und bei allem irdischen
Treiben immer aufs Höchste hingeblickt. Sie und die Ihrigen haben es auch
getan. Wirken wir also immerfort, solange es Tag für uns ist. Für andere
wird auch eine Sonne scheinen. Sie werden sich an ihr hervortnn und uns
indessen ein helleres Licht erleuchten. Und so bleiben wir wegen der Zukunft
unbekümmert."
Wie sehr die Gräfin im Irrtum war, wissen wir. Ihr blieb verborgen,
daß Goethe eine durchaus religiöse Natur war und blieb, wenn er sich auch
von den hergebrachten Formen des Bekenntnisses losgesagt hatte. Wie aber
seine Größe zum nicht geringen Teil darauf beruht, daß alle seine Eigenschaften
produktiv wurden, so regte sich auch einmal der Trieb, seine Auffassung des
Glaubens in die Tat umzusetzen d. h. er wollte sich als Religionsstifter ver¬
suchen. Natürlich geschah das nicht praktisch, sondern künstlerisch auf dem
Gebiete der Poesie. Dies ist der eigentliche Ursprung des Fragmentes der
„Geheimnisse".
Goethe begann das Gedicht im Sommer 1785, als er schon entschiedener
Nichtchrist war, angeregt von Lessings „Nathan" und unter dein Einflüsse des
Hanges seiner Zeit zu Verbrüderungen und geheimen Gesellschaften. Er hatte
die Absicht, eine Genossenschaft von zwölf Rittermönchen darzustellen, von denen
jeder eine eigene Art des Glaubens verkörpern sollte. Sie sind gruppiert um
einen Mann, in dem sie eine Art Häuptling erblicken und der den Namen
Humanus führt. Soweit wir aus den vierundvierzig formschönen Stanzen, bis
zu denen das Gedicht gediehen ist, urteilen können, sollte sich aus der Darstellung
der zwölf Religionen, uuter denen das Christentum uicht gefehlt hätte, das
Ideal des religiösen Wesens ergeben. Wie das beschaffen sein sollte, erklärt
wenigstens ungefähr das Symbol, das die gemeinsame Wohnstätte der Ritter¬
mönche schmückt: das mit Rosen umwundene Kreuz. Es deutet zunächst auf
Gottergebenheit und Selbstüberwindung, wie sie schon das Christentum zur
Geltung gebracht hatte. Insofern es dabei aber den Sinn für die Schönheit
und Fülle des Lebens vernichtet hatte, erschien es dem Dichter unzulänglich.
Die für das Glück der Menschen unentbehrliche Freude an der Welt sollte
nicht nur zurückgewonnen, sondern geradezu ein Element der religiösen Gesinnung
werden. Das bedeuten die Rosen.
Dieses unvollendet gebliebene Epos kann selbst als eine Art Symbol
betrachtet werden, indem es wie ein Wahrzeichen in der Mitte der religiösen
Entwicklung Goethes steht, das nach dem Beginn und dem Ende blicken läßt.
Während der Dichter von der italienischen Reise bis zum Erscheinen des Buches
über Winckelmann, also von 1786 bis 1803, wie wir sahen, den Lebensgenuß
betonte und das Christentum wegen seiner Verneinung dieses Elementes des
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