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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Bahr

nur Ableitungen sind. Bei Bahr geschieht häufig das Umgekehrte. Von den
Dichtungen fort zieht es den Klarheit suchenden Leser zu seinen Essays als seinen
eigentlichen Hervorbringungen. Übrigens kann man die Sehnsucht nach dem
Essayisten oft genug in seinen dichterischen Büchern selber befriedigen; denn
besonders im Roman hält Bahr die Grenze zwischen Dichtung und Essay nicht
immer ein, und wo er sie überschreitet, bietet er sein Bestes.

Das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Essayisten erscheint mir
derart. Gleich nach beendeten juristischen Studium stürzt sich der junge Mensch
sozusagen auf die nichtösterreichische Welt; durch weite Reisen sucht er Europas
Art zu erfassen; die scharfe europäische Luft, insbesondere wohl die Pariser, soll
ihm den österreichischen Schlaf aus den Augen blasen, und was er an Bewegung,
an Neuem, an wahrem Leben da draußen findet, das gilt es nun auch nach
Hause zu berichten -- vielleicht daß man damit dein österreichischen Traumzustand
ein Ende bereite. Und nicht nur berichten, nein, auch anwenden, selber nach¬
bilden I Ihm fehlt ja nicht die entscheidende Gabe, der geistvolle Plauderer kann
auch erzählen, vermag auch dramatisch zu gestalten, seine Menschen führen ein
wirkliches Leben -- kurz, es fehlt ihn: nichts zum Dichter, nur daß der Dichter
eben als der Gefolgsmann, gewissermaßen als der Assistent des Essayisten auftritt.
Erst ist es ihm um die unmittelbare deutsche Anwendung des Neuen zu tun.
Richard M. Meyer weist in seiner Literaturgeschichte darauf hin, wie sich der
junge Bahr von den Jbsenschen Problemen, wie sehr besonders von "Strind-
bergscher Weiberverachtung und Sinnlichkeit" beeinflussen läßt, wie er auch in
Maupassants Fahrwasser gerät. Es ist dies eben jenes völlige Hineinschlüpfen
in fremde Seelen, was sich etwa in dem Roman "Die gute Schule" oder in
den meisten Abschnitten des Skizzenbuches "Caps" begibt.

Aber nun nehme man -- als Beispiel, nicht als einziges Stück dieser
Art -- die Novelle "Leander". Sie ist durchaus Maupassant in der spöttisch¬
graziösen Art des Erzählens, in der unpathetischen Verhöhnung der üblichen
"Tugend", dem unpathetischen Mitleid mit der Dirne. Ein junger, wie er
von sich selber glaubt, getreuer und sogar verliebter Ehemann unterbricht die
Fahrt zu seiner Gattin, um bei irgendeinen! "Linerl" zu bleiben, das von
Bahr mit viel größerer Sympathie gezeichnet ist als der makellose Herr. All
das ist ganz Maupassant -- aber die Fahrt geht von Wien nach Ischl während
einer Betriebsstörung durch große Überschwemmungen. Da ist denn dem Nach¬
ahmer des Franzosen Gelegenheit geboten, österreichische Zustünde zu schildern,
und er besorgt das mit kräftiger Ironie. Das eigentliche Ich Hermann Bahrs
schlägt durch. Über all dem Neuen und über all dem zornigen Tadel des
gegenwärtigen Österreichs will er aber auch nicht das Gute der Heimat ver¬
gessen, und so schlüpft Bahr mit gutem Gelingen -- weil er hier trotz aller
suchenden Unrast doch vielleicht mehr zu Hause ist als bei den Fremden -- ins
schlichte Wiener Volksstück hinein. Freilich noch besseres Gelingen als in diesen
einfachen Spielen, im "Tschaperl" und "Star" etwa, wird ihm zuteil, wenn


Hermann Bahr

nur Ableitungen sind. Bei Bahr geschieht häufig das Umgekehrte. Von den
Dichtungen fort zieht es den Klarheit suchenden Leser zu seinen Essays als seinen
eigentlichen Hervorbringungen. Übrigens kann man die Sehnsucht nach dem
Essayisten oft genug in seinen dichterischen Büchern selber befriedigen; denn
besonders im Roman hält Bahr die Grenze zwischen Dichtung und Essay nicht
immer ein, und wo er sie überschreitet, bietet er sein Bestes.

Das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Essayisten erscheint mir
derart. Gleich nach beendeten juristischen Studium stürzt sich der junge Mensch
sozusagen auf die nichtösterreichische Welt; durch weite Reisen sucht er Europas
Art zu erfassen; die scharfe europäische Luft, insbesondere wohl die Pariser, soll
ihm den österreichischen Schlaf aus den Augen blasen, und was er an Bewegung,
an Neuem, an wahrem Leben da draußen findet, das gilt es nun auch nach
Hause zu berichten — vielleicht daß man damit dein österreichischen Traumzustand
ein Ende bereite. Und nicht nur berichten, nein, auch anwenden, selber nach¬
bilden I Ihm fehlt ja nicht die entscheidende Gabe, der geistvolle Plauderer kann
auch erzählen, vermag auch dramatisch zu gestalten, seine Menschen führen ein
wirkliches Leben — kurz, es fehlt ihn: nichts zum Dichter, nur daß der Dichter
eben als der Gefolgsmann, gewissermaßen als der Assistent des Essayisten auftritt.
Erst ist es ihm um die unmittelbare deutsche Anwendung des Neuen zu tun.
Richard M. Meyer weist in seiner Literaturgeschichte darauf hin, wie sich der
junge Bahr von den Jbsenschen Problemen, wie sehr besonders von „Strind-
bergscher Weiberverachtung und Sinnlichkeit" beeinflussen läßt, wie er auch in
Maupassants Fahrwasser gerät. Es ist dies eben jenes völlige Hineinschlüpfen
in fremde Seelen, was sich etwa in dem Roman „Die gute Schule" oder in
den meisten Abschnitten des Skizzenbuches „Caps" begibt.

Aber nun nehme man — als Beispiel, nicht als einziges Stück dieser
Art — die Novelle „Leander". Sie ist durchaus Maupassant in der spöttisch¬
graziösen Art des Erzählens, in der unpathetischen Verhöhnung der üblichen
„Tugend", dem unpathetischen Mitleid mit der Dirne. Ein junger, wie er
von sich selber glaubt, getreuer und sogar verliebter Ehemann unterbricht die
Fahrt zu seiner Gattin, um bei irgendeinen! „Linerl" zu bleiben, das von
Bahr mit viel größerer Sympathie gezeichnet ist als der makellose Herr. All
das ist ganz Maupassant — aber die Fahrt geht von Wien nach Ischl während
einer Betriebsstörung durch große Überschwemmungen. Da ist denn dem Nach¬
ahmer des Franzosen Gelegenheit geboten, österreichische Zustünde zu schildern,
und er besorgt das mit kräftiger Ironie. Das eigentliche Ich Hermann Bahrs
schlägt durch. Über all dem Neuen und über all dem zornigen Tadel des
gegenwärtigen Österreichs will er aber auch nicht das Gute der Heimat ver¬
gessen, und so schlüpft Bahr mit gutem Gelingen — weil er hier trotz aller
suchenden Unrast doch vielleicht mehr zu Hause ist als bei den Fremden — ins
schlichte Wiener Volksstück hinein. Freilich noch besseres Gelingen als in diesen
einfachen Spielen, im „Tschaperl" und „Star" etwa, wird ihm zuteil, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/187>, abgerufen am 01.01.2025.