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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Bahr

sagt. Er spielt da mit Gedanken, die auch in seinen Betrachtungen des Griechen¬
tums und der griechischen Tragödie (Dialog vom Marsyas, Dialog vom Tra¬
gischen) ausklingen, stellt den Urmenschen, den ungesellschaftlichen mit den freien
Trieben, dem gebändigten, geknechteten sozialen Geschöpf des Staates gegenüber,
versteht das Urchristentum als die Befreiung des Individuums von allem gesell¬
schaftlichen Zwang und sieht den Kunstgriff der Barocke in einen: seltsam krummen
Zurückgreifen auf jenes Urchristen- und also Urmenschentum. Die Barocke nämlich
predige "listig", mit "prachtvollem Betrug", es sei jenes einzig wahre, wache
und freie Leben überhaupt nicht auf dieser Welt zu finden, sondern werde erst
nach dem Tode, im Jenseits, anheben; hier unten sei alles Fesselung und Lüge.
Schlaf und Traum, woraus sich dann ohne weiteres gleichzeitig Lebensverneinung
und -bejahung ergebe, indem man das Leben als einen bloßen Traum verachten,
als einen bunten Traum genießen könne -- und jedenfalls eine Abkehrung vom
Wirklichen, ein Träumen eben. . . .

So vielfach grübelnd sucht Bahr die Schlaffheit des Österreichers zu ver¬
stehe". Aber Verstehen heißt bei ihm noch längst nicht Verzeihen, und dies ist
der andere Reiz seines Wiener Buches, mit welcher Empörung er das "un¬
wirkliche" Wesen seiner Landsleute an den Pranger stellt. "Um den Wiener zu
kennen, muß man wissen, wie Beethoven hier gestorben ist, und wie Grillparzer
hier gelebt hat." Und er erzählt mit großer Gewalt, wie die Wiener den
heroischen Ringer Beethoven fast in: Elend sterben ließen, um ihn dann mit
desto größerem Pomp zu begraben -- "da war ganz Wien dabei; im Begraben
sind sie groß". Und er breitet mit höhnischer Bitterkeit das Leben des alternden
Grillparzer aus, "dieses entsetzliche in der Mitte geborstene Leben". Und dann,
wie zu sich selber sprechend, fast wieder einmal sich selber über seinen journa¬
listischen Beruf tröstend, zeichnet er noch einen Wiener: Ferdinand Kürnberger.
"Und das ist auch wienerisch, daß er, der mit seiner Einsicht in jedes Problem,
mit seinem Trieb zum notwendigen ..., mit seiner Kraft überall sonst ein Mann
der Tat geworden wäre, hier ins Feuilleton gesteckt wurde. Man ließ in
Gottes Namen einmal die Wahrheit zu, doch nur unter dem Strich.
Auch er verfiel dem österreichischen Gesetz: zu scheinen. Man verzieh ihm,
daß er ein Mann war, weil er den Narren gab, den Feuilletonisten, der ja
doch nur spaße."

Ich lese aus diesen Worten eine Tröstung Bahrs über den eigenen Beruf
heraus, ich sprach bisher fast ausschließlich von dem Essayisten Bahr -- so kann
mich der Vorwurf treffen, ich wollte das ungemein ausgiebige dichterische Schaffen
des Mannes wenn nicht unterschlagen, so doch ungebührlich gering einschätzen.
Das ist gewiß nicht meine Absicht; aber freilich dem essayistischen Hermann
Bahr gegenüber spielt der dichterische doch nur die zweite Rolle, jener ist ein
Meister, dieser nur ein tüchtiger Schüler -- seiner selbst. Liest man ästhetische
Studien der großen Dichter, so hat man das Verlangen, ihre dichterischen
Schöpfungen kennen zu lernen, als ihr Eigentlichstes, wovon jene Betrachtungen


Hermann Bahr

sagt. Er spielt da mit Gedanken, die auch in seinen Betrachtungen des Griechen¬
tums und der griechischen Tragödie (Dialog vom Marsyas, Dialog vom Tra¬
gischen) ausklingen, stellt den Urmenschen, den ungesellschaftlichen mit den freien
Trieben, dem gebändigten, geknechteten sozialen Geschöpf des Staates gegenüber,
versteht das Urchristentum als die Befreiung des Individuums von allem gesell¬
schaftlichen Zwang und sieht den Kunstgriff der Barocke in einen: seltsam krummen
Zurückgreifen auf jenes Urchristen- und also Urmenschentum. Die Barocke nämlich
predige „listig", mit „prachtvollem Betrug", es sei jenes einzig wahre, wache
und freie Leben überhaupt nicht auf dieser Welt zu finden, sondern werde erst
nach dem Tode, im Jenseits, anheben; hier unten sei alles Fesselung und Lüge.
Schlaf und Traum, woraus sich dann ohne weiteres gleichzeitig Lebensverneinung
und -bejahung ergebe, indem man das Leben als einen bloßen Traum verachten,
als einen bunten Traum genießen könne — und jedenfalls eine Abkehrung vom
Wirklichen, ein Träumen eben. . . .

So vielfach grübelnd sucht Bahr die Schlaffheit des Österreichers zu ver¬
stehe«. Aber Verstehen heißt bei ihm noch längst nicht Verzeihen, und dies ist
der andere Reiz seines Wiener Buches, mit welcher Empörung er das „un¬
wirkliche" Wesen seiner Landsleute an den Pranger stellt. „Um den Wiener zu
kennen, muß man wissen, wie Beethoven hier gestorben ist, und wie Grillparzer
hier gelebt hat." Und er erzählt mit großer Gewalt, wie die Wiener den
heroischen Ringer Beethoven fast in: Elend sterben ließen, um ihn dann mit
desto größerem Pomp zu begraben — „da war ganz Wien dabei; im Begraben
sind sie groß". Und er breitet mit höhnischer Bitterkeit das Leben des alternden
Grillparzer aus, „dieses entsetzliche in der Mitte geborstene Leben". Und dann,
wie zu sich selber sprechend, fast wieder einmal sich selber über seinen journa¬
listischen Beruf tröstend, zeichnet er noch einen Wiener: Ferdinand Kürnberger.
„Und das ist auch wienerisch, daß er, der mit seiner Einsicht in jedes Problem,
mit seinem Trieb zum notwendigen ..., mit seiner Kraft überall sonst ein Mann
der Tat geworden wäre, hier ins Feuilleton gesteckt wurde. Man ließ in
Gottes Namen einmal die Wahrheit zu, doch nur unter dem Strich.
Auch er verfiel dem österreichischen Gesetz: zu scheinen. Man verzieh ihm,
daß er ein Mann war, weil er den Narren gab, den Feuilletonisten, der ja
doch nur spaße."

Ich lese aus diesen Worten eine Tröstung Bahrs über den eigenen Beruf
heraus, ich sprach bisher fast ausschließlich von dem Essayisten Bahr — so kann
mich der Vorwurf treffen, ich wollte das ungemein ausgiebige dichterische Schaffen
des Mannes wenn nicht unterschlagen, so doch ungebührlich gering einschätzen.
Das ist gewiß nicht meine Absicht; aber freilich dem essayistischen Hermann
Bahr gegenüber spielt der dichterische doch nur die zweite Rolle, jener ist ein
Meister, dieser nur ein tüchtiger Schüler — seiner selbst. Liest man ästhetische
Studien der großen Dichter, so hat man das Verlangen, ihre dichterischen
Schöpfungen kennen zu lernen, als ihr Eigentlichstes, wovon jene Betrachtungen


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[0186] Hermann Bahr sagt. Er spielt da mit Gedanken, die auch in seinen Betrachtungen des Griechen¬ tums und der griechischen Tragödie (Dialog vom Marsyas, Dialog vom Tra¬ gischen) ausklingen, stellt den Urmenschen, den ungesellschaftlichen mit den freien Trieben, dem gebändigten, geknechteten sozialen Geschöpf des Staates gegenüber, versteht das Urchristentum als die Befreiung des Individuums von allem gesell¬ schaftlichen Zwang und sieht den Kunstgriff der Barocke in einen: seltsam krummen Zurückgreifen auf jenes Urchristen- und also Urmenschentum. Die Barocke nämlich predige „listig", mit „prachtvollem Betrug", es sei jenes einzig wahre, wache und freie Leben überhaupt nicht auf dieser Welt zu finden, sondern werde erst nach dem Tode, im Jenseits, anheben; hier unten sei alles Fesselung und Lüge. Schlaf und Traum, woraus sich dann ohne weiteres gleichzeitig Lebensverneinung und -bejahung ergebe, indem man das Leben als einen bloßen Traum verachten, als einen bunten Traum genießen könne — und jedenfalls eine Abkehrung vom Wirklichen, ein Träumen eben. . . . So vielfach grübelnd sucht Bahr die Schlaffheit des Österreichers zu ver¬ stehe«. Aber Verstehen heißt bei ihm noch längst nicht Verzeihen, und dies ist der andere Reiz seines Wiener Buches, mit welcher Empörung er das „un¬ wirkliche" Wesen seiner Landsleute an den Pranger stellt. „Um den Wiener zu kennen, muß man wissen, wie Beethoven hier gestorben ist, und wie Grillparzer hier gelebt hat." Und er erzählt mit großer Gewalt, wie die Wiener den heroischen Ringer Beethoven fast in: Elend sterben ließen, um ihn dann mit desto größerem Pomp zu begraben — „da war ganz Wien dabei; im Begraben sind sie groß". Und er breitet mit höhnischer Bitterkeit das Leben des alternden Grillparzer aus, „dieses entsetzliche in der Mitte geborstene Leben". Und dann, wie zu sich selber sprechend, fast wieder einmal sich selber über seinen journa¬ listischen Beruf tröstend, zeichnet er noch einen Wiener: Ferdinand Kürnberger. „Und das ist auch wienerisch, daß er, der mit seiner Einsicht in jedes Problem, mit seinem Trieb zum notwendigen ..., mit seiner Kraft überall sonst ein Mann der Tat geworden wäre, hier ins Feuilleton gesteckt wurde. Man ließ in Gottes Namen einmal die Wahrheit zu, doch nur unter dem Strich. Auch er verfiel dem österreichischen Gesetz: zu scheinen. Man verzieh ihm, daß er ein Mann war, weil er den Narren gab, den Feuilletonisten, der ja doch nur spaße." Ich lese aus diesen Worten eine Tröstung Bahrs über den eigenen Beruf heraus, ich sprach bisher fast ausschließlich von dem Essayisten Bahr — so kann mich der Vorwurf treffen, ich wollte das ungemein ausgiebige dichterische Schaffen des Mannes wenn nicht unterschlagen, so doch ungebührlich gering einschätzen. Das ist gewiß nicht meine Absicht; aber freilich dem essayistischen Hermann Bahr gegenüber spielt der dichterische doch nur die zweite Rolle, jener ist ein Meister, dieser nur ein tüchtiger Schüler — seiner selbst. Liest man ästhetische Studien der großen Dichter, so hat man das Verlangen, ihre dichterischen Schöpfungen kennen zu lernen, als ihr Eigentlichstes, wovon jene Betrachtungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/186>, abgerufen am 01.01.2025.