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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Bahr

Beseelungen herausspürt. Bahr zitiert einmal ein spöttisch aufrichtiges Wort
von Anatole France: ,Me88leur8, je vaig parler ac moi ü propos as
ZnaKe8pöars, a pra>po8 as Racine, on as ?a8LaI vu ac Ooettis; e'eZt uns
Ä88S? belle c>LLa8ion." Das paßt merkwürdigerweise auf Bahr selber; der
Mann des völligen Hineinschlüpfens, des Sichverlierens ans Fremde, der Mann
also der buchstäblich grenzenlosen, eben die Grenze der Persönlichkeit durch¬
brechenden Objektivität benutzt doch, und häufig in geradezu rührender Unbewußt-
heit, jede bells 0LLÄ8ion, von seinem gleichbleibenden Ich zu sprechen.

Und der Vergleich dieses Wesenskerns mit dem Ernst Moritz Arndts war
kein zufälliger. Beide Männer haben denselben innersten Seelengehalt: einen
leidenschaftlichen Patriotismus. Und noch weiter stimmt der Vergleich: sie lieben
beide nicht so sehr das Vaterland, das ist, als ein zukünftiges, das vorerst noch
nur in ihrer Sehnsucht lebt, das vielleicht niemals Wirklichkeit werden wird,
dem allzu viele Hemmungen entgegenstehen. Der biedere, ehrwürdige deutsche
Patriarch und der quecksilberne österreichische Stimmungsmensch, jener ein wilder
Franzosenhasser, dieser ein großer Verehrer Frankreichs, der eine zum kindlichen
Christenglauben nach kurzem Schwanken mit aller Überzeugung zurückkehrend,
der andere dem Christentum ganz entfremdet, zwei so in vielen und beinahe
allen Zügen grundverschiedene Männer sehen doch in ihrem Wesentlichsten
einander unerhört ähnlich: Teutschland, das Deutschland der Zukunft, ist die
Sehnsucht des Alten, Österreich, das Österreich der Zukunft, die Sehnsucht des
Jungen, und welches auch Arndts Thema sei, diese Sehnsucht ist darin, und
welche Verwandlung auch Bahr vornehme, seine österreichische Sehnsucht
bleibt spürbar.

Man, könnte vielleicht sagen, im Grunde stimme Bahr mit dem viel
schlichterer, einfältigerer Friedrich Schlögl überein. Denn beiden geht es um
dieselbe Aufrüttelung des verschlafenen, verträumten, bequem entsagenden, schlaff
"gemütlichen" Österreichs, nur mit dem Unterschiede, daß sich Schlögl gegen
den Philister und Kleinbürger wendet, Bahr vielmehr gegen die Führer, die
das Führen vergessen oder doch lässig betreiben, gegen die Männer der Negierung
also, der Kunst, der Wissenschaft, der Industrie, des Großhandels. Es gibt
einen Grillparzervers, in dem Bahr die Zauberformel der Einschläferung
Österreichs sieht, und den er mit immer erneutem Ingrimm unablässig
hersagt:

Er hat einen Haß gegen alles kleinliche Sichbescheiden, gegen jeden, der
die Größe um ihrer Gefahren willen meidet. Er hat eine persönliche leiden-


Hermann Bahr

Beseelungen herausspürt. Bahr zitiert einmal ein spöttisch aufrichtiges Wort
von Anatole France: ,Me88leur8, je vaig parler ac moi ü propos as
ZnaKe8pöars, a pra>po8 as Racine, on as ?a8LaI vu ac Ooettis; e'eZt uns
Ä88S? belle c>LLa8ion." Das paßt merkwürdigerweise auf Bahr selber; der
Mann des völligen Hineinschlüpfens, des Sichverlierens ans Fremde, der Mann
also der buchstäblich grenzenlosen, eben die Grenze der Persönlichkeit durch¬
brechenden Objektivität benutzt doch, und häufig in geradezu rührender Unbewußt-
heit, jede bells 0LLÄ8ion, von seinem gleichbleibenden Ich zu sprechen.

Und der Vergleich dieses Wesenskerns mit dem Ernst Moritz Arndts war
kein zufälliger. Beide Männer haben denselben innersten Seelengehalt: einen
leidenschaftlichen Patriotismus. Und noch weiter stimmt der Vergleich: sie lieben
beide nicht so sehr das Vaterland, das ist, als ein zukünftiges, das vorerst noch
nur in ihrer Sehnsucht lebt, das vielleicht niemals Wirklichkeit werden wird,
dem allzu viele Hemmungen entgegenstehen. Der biedere, ehrwürdige deutsche
Patriarch und der quecksilberne österreichische Stimmungsmensch, jener ein wilder
Franzosenhasser, dieser ein großer Verehrer Frankreichs, der eine zum kindlichen
Christenglauben nach kurzem Schwanken mit aller Überzeugung zurückkehrend,
der andere dem Christentum ganz entfremdet, zwei so in vielen und beinahe
allen Zügen grundverschiedene Männer sehen doch in ihrem Wesentlichsten
einander unerhört ähnlich: Teutschland, das Deutschland der Zukunft, ist die
Sehnsucht des Alten, Österreich, das Österreich der Zukunft, die Sehnsucht des
Jungen, und welches auch Arndts Thema sei, diese Sehnsucht ist darin, und
welche Verwandlung auch Bahr vornehme, seine österreichische Sehnsucht
bleibt spürbar.

Man, könnte vielleicht sagen, im Grunde stimme Bahr mit dem viel
schlichterer, einfältigerer Friedrich Schlögl überein. Denn beiden geht es um
dieselbe Aufrüttelung des verschlafenen, verträumten, bequem entsagenden, schlaff
„gemütlichen" Österreichs, nur mit dem Unterschiede, daß sich Schlögl gegen
den Philister und Kleinbürger wendet, Bahr vielmehr gegen die Führer, die
das Führen vergessen oder doch lässig betreiben, gegen die Männer der Negierung
also, der Kunst, der Wissenschaft, der Industrie, des Großhandels. Es gibt
einen Grillparzervers, in dem Bahr die Zauberformel der Einschläferung
Österreichs sieht, und den er mit immer erneutem Ingrimm unablässig
hersagt:

Er hat einen Haß gegen alles kleinliche Sichbescheiden, gegen jeden, der
die Größe um ihrer Gefahren willen meidet. Er hat eine persönliche leiden-


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[0184] Hermann Bahr Beseelungen herausspürt. Bahr zitiert einmal ein spöttisch aufrichtiges Wort von Anatole France: ,Me88leur8, je vaig parler ac moi ü propos as ZnaKe8pöars, a pra>po8 as Racine, on as ?a8LaI vu ac Ooettis; e'eZt uns Ä88S? belle c>LLa8ion." Das paßt merkwürdigerweise auf Bahr selber; der Mann des völligen Hineinschlüpfens, des Sichverlierens ans Fremde, der Mann also der buchstäblich grenzenlosen, eben die Grenze der Persönlichkeit durch¬ brechenden Objektivität benutzt doch, und häufig in geradezu rührender Unbewußt- heit, jede bells 0LLÄ8ion, von seinem gleichbleibenden Ich zu sprechen. Und der Vergleich dieses Wesenskerns mit dem Ernst Moritz Arndts war kein zufälliger. Beide Männer haben denselben innersten Seelengehalt: einen leidenschaftlichen Patriotismus. Und noch weiter stimmt der Vergleich: sie lieben beide nicht so sehr das Vaterland, das ist, als ein zukünftiges, das vorerst noch nur in ihrer Sehnsucht lebt, das vielleicht niemals Wirklichkeit werden wird, dem allzu viele Hemmungen entgegenstehen. Der biedere, ehrwürdige deutsche Patriarch und der quecksilberne österreichische Stimmungsmensch, jener ein wilder Franzosenhasser, dieser ein großer Verehrer Frankreichs, der eine zum kindlichen Christenglauben nach kurzem Schwanken mit aller Überzeugung zurückkehrend, der andere dem Christentum ganz entfremdet, zwei so in vielen und beinahe allen Zügen grundverschiedene Männer sehen doch in ihrem Wesentlichsten einander unerhört ähnlich: Teutschland, das Deutschland der Zukunft, ist die Sehnsucht des Alten, Österreich, das Österreich der Zukunft, die Sehnsucht des Jungen, und welches auch Arndts Thema sei, diese Sehnsucht ist darin, und welche Verwandlung auch Bahr vornehme, seine österreichische Sehnsucht bleibt spürbar. Man, könnte vielleicht sagen, im Grunde stimme Bahr mit dem viel schlichterer, einfältigerer Friedrich Schlögl überein. Denn beiden geht es um dieselbe Aufrüttelung des verschlafenen, verträumten, bequem entsagenden, schlaff „gemütlichen" Österreichs, nur mit dem Unterschiede, daß sich Schlögl gegen den Philister und Kleinbürger wendet, Bahr vielmehr gegen die Führer, die das Führen vergessen oder doch lässig betreiben, gegen die Männer der Negierung also, der Kunst, der Wissenschaft, der Industrie, des Großhandels. Es gibt einen Grillparzervers, in dem Bahr die Zauberformel der Einschläferung Österreichs sieht, und den er mit immer erneutem Ingrimm unablässig hersagt: Er hat einen Haß gegen alles kleinliche Sichbescheiden, gegen jeden, der die Größe um ihrer Gefahren willen meidet. Er hat eine persönliche leiden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/184>, abgerufen am 01.01.2025.