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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Bahr

kaum noch über Dekadenz reden, sondern als Dekadenter, fast aus eigener
Seelenqual, sprechen. Zwar am Schluß dieses Essays steht noch ein sicheres
Urteil über den künstlerischen Unwert französischer, englischer und deutscher
Dekadenz, aber auf jeder Stufe seines essayistischen Ergreifens und Ergriffenseins
betätigt sich Hermann Bahr auch dichterisch, und in seinen dichterischen Analogien
bleibt er dann völlig in der Seele, in die er einmal hineingeschlüpft ist, und
oft genug findet auch der Essayist selber nicht mehr heraus.

Der Berliner liebt es, mit etwas burschikosen Ausdruck von unheimlicher
Gewandtheit zu sprechen. Man kann das ohne jeden burschikosen und ohne
jeden spöttischen Anklang buchstäblich auf Bahr anwenden. Er ist unheimlich
gewandt, unheimlich wandlungsfähig, und ihm selber ist diese Eigenschaft
unheimlich, ihm graut bisweilen vor der Vielfältigkeit des eigenen Ich, lind
schließlich bringt er zur eigenen Beruhigung diese Vielfältigkeit in ein System.
Man könnte auch hier von einem essayistischen Ergreifen und Hineinschlüpfen
reden, ja man könnte hier sogar den Vorwurf der journalistischen Leicht¬
fertigkeit erheben, denn einmal gibt Bahr selber zu, der naturhistorischen und
physiologischen Entwicklung der Sache im einzelnen nicht gewachsen zu sein.
Doch liegt es hier insofern anders, als Bahr in Machs Lehre nicht einem
ihm völlig fremden Ding entgegentritt, sondern einem längst, wenn auch
unklar, ersehnten. "Manchmal hat man wirklich die Empfindung, als würde
man, ohne es zu wissen, geheimnisvoll geführt, und mir ist, als wäre ich die
ganzen letzten drei Jahre her durch eine unbekannte Macht nur immer auf
einen Gedanken gestimmt worden, den: ich nun also wehrlos erliegen mußte."
Es ist dies der Gedanke vom "unrettbaren Ich". So heißt auch die Überschrift
des Abschnittes, der in dem nach seiner Hauptstudie "Dialog vom Tragischen"
benannten Bande steht. Bahr erzählt, wie ihn zuerst bei der Euripides-Lektüre
der rasende Herakles erschütterte, von dem es heißt: "er war nicht mehr der¬
selbe", wie es ihm später "allmählich der eigentliche Gedanke des Euripides
schien, die Unsicherheit des Ich darzustellen". Durch "ein entsetzliches Buch"
aus dein Gebiet der Nervenkrankheiten, durch Nibots "I^es malaäies ac la
per8our>alles" wird er dann noch peinvoller beunruhigt, es treibt ihn, die
Veränderungen des Ich am Menschen überhaupt zu betrachten, er findet keine
entfernteste Ähnlichkeit, "keinen Gedanken, kein Gefühl, kaum noch irgendeine
Laune oder Grille" dem Goethe von 1770 und 1830 gemeinsam, bis sich
schließlich dies alles als "ein wunderlicher Weg" herausstellt, "um reif zu
werden, reif für Mach". Er entwickelt nun mit der Begeisterung und Dank¬
barkeit eines Jüngers und Erlösten Machs Weltanschauung, die er bald danach
die "Philosophie des Impressionismus" nenut, obwohl es "sehr leicht möglich,
daß sich Mach, ein österreichischer Professor, durch die Beziehung auf den
Impressionismus beleidigt fühlt": "Das Ich ist unrettbar. Es ist nur ein
Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen,
um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von


Hermann Bahr

kaum noch über Dekadenz reden, sondern als Dekadenter, fast aus eigener
Seelenqual, sprechen. Zwar am Schluß dieses Essays steht noch ein sicheres
Urteil über den künstlerischen Unwert französischer, englischer und deutscher
Dekadenz, aber auf jeder Stufe seines essayistischen Ergreifens und Ergriffenseins
betätigt sich Hermann Bahr auch dichterisch, und in seinen dichterischen Analogien
bleibt er dann völlig in der Seele, in die er einmal hineingeschlüpft ist, und
oft genug findet auch der Essayist selber nicht mehr heraus.

Der Berliner liebt es, mit etwas burschikosen Ausdruck von unheimlicher
Gewandtheit zu sprechen. Man kann das ohne jeden burschikosen und ohne
jeden spöttischen Anklang buchstäblich auf Bahr anwenden. Er ist unheimlich
gewandt, unheimlich wandlungsfähig, und ihm selber ist diese Eigenschaft
unheimlich, ihm graut bisweilen vor der Vielfältigkeit des eigenen Ich, lind
schließlich bringt er zur eigenen Beruhigung diese Vielfältigkeit in ein System.
Man könnte auch hier von einem essayistischen Ergreifen und Hineinschlüpfen
reden, ja man könnte hier sogar den Vorwurf der journalistischen Leicht¬
fertigkeit erheben, denn einmal gibt Bahr selber zu, der naturhistorischen und
physiologischen Entwicklung der Sache im einzelnen nicht gewachsen zu sein.
Doch liegt es hier insofern anders, als Bahr in Machs Lehre nicht einem
ihm völlig fremden Ding entgegentritt, sondern einem längst, wenn auch
unklar, ersehnten. „Manchmal hat man wirklich die Empfindung, als würde
man, ohne es zu wissen, geheimnisvoll geführt, und mir ist, als wäre ich die
ganzen letzten drei Jahre her durch eine unbekannte Macht nur immer auf
einen Gedanken gestimmt worden, den: ich nun also wehrlos erliegen mußte."
Es ist dies der Gedanke vom „unrettbaren Ich". So heißt auch die Überschrift
des Abschnittes, der in dem nach seiner Hauptstudie „Dialog vom Tragischen"
benannten Bande steht. Bahr erzählt, wie ihn zuerst bei der Euripides-Lektüre
der rasende Herakles erschütterte, von dem es heißt: „er war nicht mehr der¬
selbe", wie es ihm später „allmählich der eigentliche Gedanke des Euripides
schien, die Unsicherheit des Ich darzustellen". Durch „ein entsetzliches Buch"
aus dein Gebiet der Nervenkrankheiten, durch Nibots „I^es malaäies ac la
per8our>alles" wird er dann noch peinvoller beunruhigt, es treibt ihn, die
Veränderungen des Ich am Menschen überhaupt zu betrachten, er findet keine
entfernteste Ähnlichkeit, „keinen Gedanken, kein Gefühl, kaum noch irgendeine
Laune oder Grille" dem Goethe von 1770 und 1830 gemeinsam, bis sich
schließlich dies alles als „ein wunderlicher Weg" herausstellt, „um reif zu
werden, reif für Mach". Er entwickelt nun mit der Begeisterung und Dank¬
barkeit eines Jüngers und Erlösten Machs Weltanschauung, die er bald danach
die „Philosophie des Impressionismus" nenut, obwohl es „sehr leicht möglich,
daß sich Mach, ein österreichischer Professor, durch die Beziehung auf den
Impressionismus beleidigt fühlt": „Das Ich ist unrettbar. Es ist nur ein
Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen,
um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von


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[0182] Hermann Bahr kaum noch über Dekadenz reden, sondern als Dekadenter, fast aus eigener Seelenqual, sprechen. Zwar am Schluß dieses Essays steht noch ein sicheres Urteil über den künstlerischen Unwert französischer, englischer und deutscher Dekadenz, aber auf jeder Stufe seines essayistischen Ergreifens und Ergriffenseins betätigt sich Hermann Bahr auch dichterisch, und in seinen dichterischen Analogien bleibt er dann völlig in der Seele, in die er einmal hineingeschlüpft ist, und oft genug findet auch der Essayist selber nicht mehr heraus. Der Berliner liebt es, mit etwas burschikosen Ausdruck von unheimlicher Gewandtheit zu sprechen. Man kann das ohne jeden burschikosen und ohne jeden spöttischen Anklang buchstäblich auf Bahr anwenden. Er ist unheimlich gewandt, unheimlich wandlungsfähig, und ihm selber ist diese Eigenschaft unheimlich, ihm graut bisweilen vor der Vielfältigkeit des eigenen Ich, lind schließlich bringt er zur eigenen Beruhigung diese Vielfältigkeit in ein System. Man könnte auch hier von einem essayistischen Ergreifen und Hineinschlüpfen reden, ja man könnte hier sogar den Vorwurf der journalistischen Leicht¬ fertigkeit erheben, denn einmal gibt Bahr selber zu, der naturhistorischen und physiologischen Entwicklung der Sache im einzelnen nicht gewachsen zu sein. Doch liegt es hier insofern anders, als Bahr in Machs Lehre nicht einem ihm völlig fremden Ding entgegentritt, sondern einem längst, wenn auch unklar, ersehnten. „Manchmal hat man wirklich die Empfindung, als würde man, ohne es zu wissen, geheimnisvoll geführt, und mir ist, als wäre ich die ganzen letzten drei Jahre her durch eine unbekannte Macht nur immer auf einen Gedanken gestimmt worden, den: ich nun also wehrlos erliegen mußte." Es ist dies der Gedanke vom „unrettbaren Ich". So heißt auch die Überschrift des Abschnittes, der in dem nach seiner Hauptstudie „Dialog vom Tragischen" benannten Bande steht. Bahr erzählt, wie ihn zuerst bei der Euripides-Lektüre der rasende Herakles erschütterte, von dem es heißt: „er war nicht mehr der¬ selbe", wie es ihm später „allmählich der eigentliche Gedanke des Euripides schien, die Unsicherheit des Ich darzustellen". Durch „ein entsetzliches Buch" aus dein Gebiet der Nervenkrankheiten, durch Nibots „I^es malaäies ac la per8our>alles" wird er dann noch peinvoller beunruhigt, es treibt ihn, die Veränderungen des Ich am Menschen überhaupt zu betrachten, er findet keine entfernteste Ähnlichkeit, „keinen Gedanken, kein Gefühl, kaum noch irgendeine Laune oder Grille" dem Goethe von 1770 und 1830 gemeinsam, bis sich schließlich dies alles als „ein wunderlicher Weg" herausstellt, „um reif zu werden, reif für Mach". Er entwickelt nun mit der Begeisterung und Dank¬ barkeit eines Jüngers und Erlösten Machs Weltanschauung, die er bald danach die „Philosophie des Impressionismus" nenut, obwohl es „sehr leicht möglich, daß sich Mach, ein österreichischer Professor, durch die Beziehung auf den Impressionismus beleidigt fühlt": „Das Ich ist unrettbar. Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/182>, abgerufen am 01.01.2025.