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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Es kennzeichnet die Chinesen, daß
sie weder auf dem Gebiet des Glaubens noch auf dem der Philosophie (obwohl
es gerade hier an fruchtbaren Gedanken und vielversprechenden Ansätzen keines¬
wegs gefehlt hat) ein geschlossenes Lehrsystem geschaffen haben, -- wohl aber
auf dem Gebiet des Aberglaubens, denn das Feng-shui-System ist die einzige
konsequent durchgeführte Disziplin, die aus chinesischem Boden hervorgegangen
ist. Tatsächlich dürfte im modernen China den Mächten der Einbildungskraft
vielfach eine ungleich realere Bedeutung beizumessen sein als denen der Wirk¬
lichkeit -- man braucht nur daran zu denken, wie so manches Eisenbahnprojekt
geomantischen Bedenken zum Opfer fallen mußte.

So steht die uralte chinesische Kulturwelt vor unseren Augen da, zwar
durch selbstverschuldete Hemmungen um eine sreie Entfaltung der ihr inne¬
wohnenden Kräfte gebracht, aber trotz aller Unvollkommenheit, Verschrobenheit
und Gebundenheit, trotz allem scheinbar unentwirrbaren Durcheinander sich gegen¬
seitig widersprechender Elemente dennoch ein Gebilde von großartiger Einheit¬
lichkeit, Geschlossenheit und Selbständigkeit -- eine Kulturwelt freilich, die nach
ihrer ganzen Beschaffenheit in einem diametralen Gegensatz zu der unseren steht.
Und da erhebt sich die Frage: was weiter?

Nachdem es einmal teils auf dem friedlichen Wege der Handelsbeziehungen,
teils durch Waffengewalt zu einem unmittelbaren Kontakt zwischen China und
den Westmächten gekommen ist, gibt es kein Zurück mehr, denn der geschicht¬
lichen Notwendigkeit kann sich keine Macht der Erde entziehen. Ein feinsinniger
Beurteiler der Chinesen hat sie einmal mit Männern verglichen, die sich auf
ihrem Standpunkt sicher wissen und nur verlangen, daß man sie in Ruhe lasse,
und gemeint, es liege etwas Achtunggebietendes in dieser sicheren Haltung.
Das klingt ja freilich sehr schön; aber erstens wird die Welt von dem naiven
Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, vermutlich auch in Zukunft ebensowenig
Notiz nehmen, als sie es bisher getan hat, und zweitens hat doch nur derjenige
ein Recht auf Achtung, der sie sich zu erobern und nötigenfalls zu erzwingen
vermag. Daß die Chinesen nicht länger in ihrer bisherigen Lethargie ver¬
harren dürfen, darüber hat sie nachgerade die Logik der Tatsachen zur Genüge
belehrt, und die Anzeichen mehren sich, daß sie sich über diesen Punkt auch
völlig im klaren sind. Es fragt sich eben nur, welche Wege sie einschlagen
werden, um sich für den Kampf um ihre Existenz vorzubereiten.

Daß sie, wie jetzt vielfach behauptet wird, dem Beispiel der Japaner folgen
und sich Hals über Kopf der europäischen Zivilisation in die Arme werfen werden,
wird wohl niemand, der seine Kenntnis des Chinesentums nicht ausschließlich
aus Leitartikeln geschöpft hat, für wahrscheinlich halten. Zwei Völker, die ihrem
ganzen Wesen nach so grundverschieden sind, wie die Chinesen und die Japaner,
sollte man überhaupt nicht so ohne weiteres über einen Kamm scheren. Die
Japaner sind von jeher Nachahmer gewesen, -- geniale Nachahmer zwar, denn
sie haben es wie vielleicht kein zweites Volk der Erde verstanden, fremdes Gut


Bausteine der chinesischen Kultur

dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Es kennzeichnet die Chinesen, daß
sie weder auf dem Gebiet des Glaubens noch auf dem der Philosophie (obwohl
es gerade hier an fruchtbaren Gedanken und vielversprechenden Ansätzen keines¬
wegs gefehlt hat) ein geschlossenes Lehrsystem geschaffen haben, — wohl aber
auf dem Gebiet des Aberglaubens, denn das Feng-shui-System ist die einzige
konsequent durchgeführte Disziplin, die aus chinesischem Boden hervorgegangen
ist. Tatsächlich dürfte im modernen China den Mächten der Einbildungskraft
vielfach eine ungleich realere Bedeutung beizumessen sein als denen der Wirk¬
lichkeit — man braucht nur daran zu denken, wie so manches Eisenbahnprojekt
geomantischen Bedenken zum Opfer fallen mußte.

So steht die uralte chinesische Kulturwelt vor unseren Augen da, zwar
durch selbstverschuldete Hemmungen um eine sreie Entfaltung der ihr inne¬
wohnenden Kräfte gebracht, aber trotz aller Unvollkommenheit, Verschrobenheit
und Gebundenheit, trotz allem scheinbar unentwirrbaren Durcheinander sich gegen¬
seitig widersprechender Elemente dennoch ein Gebilde von großartiger Einheit¬
lichkeit, Geschlossenheit und Selbständigkeit — eine Kulturwelt freilich, die nach
ihrer ganzen Beschaffenheit in einem diametralen Gegensatz zu der unseren steht.
Und da erhebt sich die Frage: was weiter?

Nachdem es einmal teils auf dem friedlichen Wege der Handelsbeziehungen,
teils durch Waffengewalt zu einem unmittelbaren Kontakt zwischen China und
den Westmächten gekommen ist, gibt es kein Zurück mehr, denn der geschicht¬
lichen Notwendigkeit kann sich keine Macht der Erde entziehen. Ein feinsinniger
Beurteiler der Chinesen hat sie einmal mit Männern verglichen, die sich auf
ihrem Standpunkt sicher wissen und nur verlangen, daß man sie in Ruhe lasse,
und gemeint, es liege etwas Achtunggebietendes in dieser sicheren Haltung.
Das klingt ja freilich sehr schön; aber erstens wird die Welt von dem naiven
Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, vermutlich auch in Zukunft ebensowenig
Notiz nehmen, als sie es bisher getan hat, und zweitens hat doch nur derjenige
ein Recht auf Achtung, der sie sich zu erobern und nötigenfalls zu erzwingen
vermag. Daß die Chinesen nicht länger in ihrer bisherigen Lethargie ver¬
harren dürfen, darüber hat sie nachgerade die Logik der Tatsachen zur Genüge
belehrt, und die Anzeichen mehren sich, daß sie sich über diesen Punkt auch
völlig im klaren sind. Es fragt sich eben nur, welche Wege sie einschlagen
werden, um sich für den Kampf um ihre Existenz vorzubereiten.

Daß sie, wie jetzt vielfach behauptet wird, dem Beispiel der Japaner folgen
und sich Hals über Kopf der europäischen Zivilisation in die Arme werfen werden,
wird wohl niemand, der seine Kenntnis des Chinesentums nicht ausschließlich
aus Leitartikeln geschöpft hat, für wahrscheinlich halten. Zwei Völker, die ihrem
ganzen Wesen nach so grundverschieden sind, wie die Chinesen und die Japaner,
sollte man überhaupt nicht so ohne weiteres über einen Kamm scheren. Die
Japaner sind von jeher Nachahmer gewesen, — geniale Nachahmer zwar, denn
sie haben es wie vielleicht kein zweites Volk der Erde verstanden, fremdes Gut


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[0176] Bausteine der chinesischen Kultur dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Es kennzeichnet die Chinesen, daß sie weder auf dem Gebiet des Glaubens noch auf dem der Philosophie (obwohl es gerade hier an fruchtbaren Gedanken und vielversprechenden Ansätzen keines¬ wegs gefehlt hat) ein geschlossenes Lehrsystem geschaffen haben, — wohl aber auf dem Gebiet des Aberglaubens, denn das Feng-shui-System ist die einzige konsequent durchgeführte Disziplin, die aus chinesischem Boden hervorgegangen ist. Tatsächlich dürfte im modernen China den Mächten der Einbildungskraft vielfach eine ungleich realere Bedeutung beizumessen sein als denen der Wirk¬ lichkeit — man braucht nur daran zu denken, wie so manches Eisenbahnprojekt geomantischen Bedenken zum Opfer fallen mußte. So steht die uralte chinesische Kulturwelt vor unseren Augen da, zwar durch selbstverschuldete Hemmungen um eine sreie Entfaltung der ihr inne¬ wohnenden Kräfte gebracht, aber trotz aller Unvollkommenheit, Verschrobenheit und Gebundenheit, trotz allem scheinbar unentwirrbaren Durcheinander sich gegen¬ seitig widersprechender Elemente dennoch ein Gebilde von großartiger Einheit¬ lichkeit, Geschlossenheit und Selbständigkeit — eine Kulturwelt freilich, die nach ihrer ganzen Beschaffenheit in einem diametralen Gegensatz zu der unseren steht. Und da erhebt sich die Frage: was weiter? Nachdem es einmal teils auf dem friedlichen Wege der Handelsbeziehungen, teils durch Waffengewalt zu einem unmittelbaren Kontakt zwischen China und den Westmächten gekommen ist, gibt es kein Zurück mehr, denn der geschicht¬ lichen Notwendigkeit kann sich keine Macht der Erde entziehen. Ein feinsinniger Beurteiler der Chinesen hat sie einmal mit Männern verglichen, die sich auf ihrem Standpunkt sicher wissen und nur verlangen, daß man sie in Ruhe lasse, und gemeint, es liege etwas Achtunggebietendes in dieser sicheren Haltung. Das klingt ja freilich sehr schön; aber erstens wird die Welt von dem naiven Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, vermutlich auch in Zukunft ebensowenig Notiz nehmen, als sie es bisher getan hat, und zweitens hat doch nur derjenige ein Recht auf Achtung, der sie sich zu erobern und nötigenfalls zu erzwingen vermag. Daß die Chinesen nicht länger in ihrer bisherigen Lethargie ver¬ harren dürfen, darüber hat sie nachgerade die Logik der Tatsachen zur Genüge belehrt, und die Anzeichen mehren sich, daß sie sich über diesen Punkt auch völlig im klaren sind. Es fragt sich eben nur, welche Wege sie einschlagen werden, um sich für den Kampf um ihre Existenz vorzubereiten. Daß sie, wie jetzt vielfach behauptet wird, dem Beispiel der Japaner folgen und sich Hals über Kopf der europäischen Zivilisation in die Arme werfen werden, wird wohl niemand, der seine Kenntnis des Chinesentums nicht ausschließlich aus Leitartikeln geschöpft hat, für wahrscheinlich halten. Zwei Völker, die ihrem ganzen Wesen nach so grundverschieden sind, wie die Chinesen und die Japaner, sollte man überhaupt nicht so ohne weiteres über einen Kamm scheren. Die Japaner sind von jeher Nachahmer gewesen, — geniale Nachahmer zwar, denn sie haben es wie vielleicht kein zweites Volk der Erde verstanden, fremdes Gut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/176>, abgerufen am 01.01.2025.