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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

konfuzianischen Schule wurde, schwindet von selbst, wenn man nur im Auge
behält, daß das tao als das schlechthin Absolute so ipso alle Gegensätze aus¬
schließt, weil es sie eben in sich aufhebt. Erst durch die Form des Seins
entstehen die Erscheinungswelt und mit ihr die Gegensätze, und erst aus dem
Gegensatz von Gut und Böse ergeben sich die sittlichen Begriffe von Tugend
und Laster. Ist aber das tap, wie es sich in der Erscheinungswelt und dem
durch sie bedingten sittlichen Leben manifestiert, nicht mehr das reine, absolute
tao, so ergibt sich daraus von selbst die Forderung der Rückkehr zu diesem,
als dem verlorenen Paradiese, das wiedergewonnen werden soll. Der Weg
aber, der dahin führt, ist einerseits die Erkenntnis, daß das ganze Dasein weiter
nichts ist als eine vorübergehende Illusion, und anderseits das Wu-wei, das
Nichttun, in welchem die Geringschätzung aller irdischen Güter, sowohl der
materiellen wie der sittlichen, ihren praktischen Ausdruck findet.

Das ist in wenigen Worten der wesentliche Inhalt von Lao-tszes Lehre.
Daß sie ihrer ganzen Beschaffenheit nach auf einen kleinen Kreis von Anhängern
beschränkt bleiben mußte und nie Gemeingut aller werden konnte, liegt auf der
Hand. Unchinesisch sowohl durch das Vorwalten metaphysischer Spekulation als
auch durch ihre weltfremde, zum Asketentum hinneigende und den: praktischen
Leben abgewandte Tendenz war sie der Konkurrenz mit dem Konfuzicmismus,
bei dem die sittlichen Bedürfnisse des Durchschnittsmenschen auf die bequemste
Weise ihre Rechnung fanden, nicht gewachsen. Ähnlich dem Buddhismus hat
denn auch der Taoismus einen Entwicklungsprozeß durchgemacht, der ihn nahezu
in sein eigenes Gegenteil umgewandelt hat.

Schon der mystische Charakter der Lehre des Lao-tsze und der geheimnisvoll
orakelhafte Ton vieler seiner Aussprüche mutzte eine mächtige Anregung auf
die Einbildungskraft ausüben, und in der Tat kann man denn auch bereits bei
seinen nächsten Nachfolgern im Gegensatz zu der verstandesmäßigen Nüchternheit
der konfuzianischen Schule ein entschiedenes Vorwalten des phantastischen Elements
wahrnehmen. Auf Schritt und Tritt begegnet man da Fabelwesen der ver¬
schiedensten Art, Menschen, die mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind,
wunderbaren Naturerscheinungen u. tgi. in. Und dieser Hang zum Phantastischen
und Wunderbaren hat zweifellos die ferneren Schicksale des Taoismus bestimmend
beeinflußt, indem er ihn zwei neue Richtungen einschlagen ließ, die ihn beide
gleich weit von der ursprünglichen Lehre des Lao-tszL entfernten: die eine Richtung
führte zu eiuer alchemistischen Geheimlehre, die andere zum religiösen oder
Vulgärtaoismus.

Schon in der frühesten Periode des Taoismus scheint das Anachoretentum
eine gewisse Rolle gespielt zu haben: eine in China völlig neue, bis dahin
unbekannte Erscheinung, die nicht verfehlen konnte, die Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken. Bald schrieb man denn auch jenen Einsiedlern allerhand übernatürliche
Kräfte zu, wie z. B. die Fähigkeit, ihre Lebensdauer zu verlängern, Unsterblichkeit
zu erlangen, durch die Luft zu fliegen, die Seele beliebig vom Körper zu trennen


Bausteine der chinesischen Kultur

konfuzianischen Schule wurde, schwindet von selbst, wenn man nur im Auge
behält, daß das tao als das schlechthin Absolute so ipso alle Gegensätze aus¬
schließt, weil es sie eben in sich aufhebt. Erst durch die Form des Seins
entstehen die Erscheinungswelt und mit ihr die Gegensätze, und erst aus dem
Gegensatz von Gut und Böse ergeben sich die sittlichen Begriffe von Tugend
und Laster. Ist aber das tap, wie es sich in der Erscheinungswelt und dem
durch sie bedingten sittlichen Leben manifestiert, nicht mehr das reine, absolute
tao, so ergibt sich daraus von selbst die Forderung der Rückkehr zu diesem,
als dem verlorenen Paradiese, das wiedergewonnen werden soll. Der Weg
aber, der dahin führt, ist einerseits die Erkenntnis, daß das ganze Dasein weiter
nichts ist als eine vorübergehende Illusion, und anderseits das Wu-wei, das
Nichttun, in welchem die Geringschätzung aller irdischen Güter, sowohl der
materiellen wie der sittlichen, ihren praktischen Ausdruck findet.

Das ist in wenigen Worten der wesentliche Inhalt von Lao-tszes Lehre.
Daß sie ihrer ganzen Beschaffenheit nach auf einen kleinen Kreis von Anhängern
beschränkt bleiben mußte und nie Gemeingut aller werden konnte, liegt auf der
Hand. Unchinesisch sowohl durch das Vorwalten metaphysischer Spekulation als
auch durch ihre weltfremde, zum Asketentum hinneigende und den: praktischen
Leben abgewandte Tendenz war sie der Konkurrenz mit dem Konfuzicmismus,
bei dem die sittlichen Bedürfnisse des Durchschnittsmenschen auf die bequemste
Weise ihre Rechnung fanden, nicht gewachsen. Ähnlich dem Buddhismus hat
denn auch der Taoismus einen Entwicklungsprozeß durchgemacht, der ihn nahezu
in sein eigenes Gegenteil umgewandelt hat.

Schon der mystische Charakter der Lehre des Lao-tsze und der geheimnisvoll
orakelhafte Ton vieler seiner Aussprüche mutzte eine mächtige Anregung auf
die Einbildungskraft ausüben, und in der Tat kann man denn auch bereits bei
seinen nächsten Nachfolgern im Gegensatz zu der verstandesmäßigen Nüchternheit
der konfuzianischen Schule ein entschiedenes Vorwalten des phantastischen Elements
wahrnehmen. Auf Schritt und Tritt begegnet man da Fabelwesen der ver¬
schiedensten Art, Menschen, die mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind,
wunderbaren Naturerscheinungen u. tgi. in. Und dieser Hang zum Phantastischen
und Wunderbaren hat zweifellos die ferneren Schicksale des Taoismus bestimmend
beeinflußt, indem er ihn zwei neue Richtungen einschlagen ließ, die ihn beide
gleich weit von der ursprünglichen Lehre des Lao-tszL entfernten: die eine Richtung
führte zu eiuer alchemistischen Geheimlehre, die andere zum religiösen oder
Vulgärtaoismus.

Schon in der frühesten Periode des Taoismus scheint das Anachoretentum
eine gewisse Rolle gespielt zu haben: eine in China völlig neue, bis dahin
unbekannte Erscheinung, die nicht verfehlen konnte, die Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken. Bald schrieb man denn auch jenen Einsiedlern allerhand übernatürliche
Kräfte zu, wie z. B. die Fähigkeit, ihre Lebensdauer zu verlängern, Unsterblichkeit
zu erlangen, durch die Luft zu fliegen, die Seele beliebig vom Körper zu trennen


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[0171] Bausteine der chinesischen Kultur konfuzianischen Schule wurde, schwindet von selbst, wenn man nur im Auge behält, daß das tao als das schlechthin Absolute so ipso alle Gegensätze aus¬ schließt, weil es sie eben in sich aufhebt. Erst durch die Form des Seins entstehen die Erscheinungswelt und mit ihr die Gegensätze, und erst aus dem Gegensatz von Gut und Böse ergeben sich die sittlichen Begriffe von Tugend und Laster. Ist aber das tap, wie es sich in der Erscheinungswelt und dem durch sie bedingten sittlichen Leben manifestiert, nicht mehr das reine, absolute tao, so ergibt sich daraus von selbst die Forderung der Rückkehr zu diesem, als dem verlorenen Paradiese, das wiedergewonnen werden soll. Der Weg aber, der dahin führt, ist einerseits die Erkenntnis, daß das ganze Dasein weiter nichts ist als eine vorübergehende Illusion, und anderseits das Wu-wei, das Nichttun, in welchem die Geringschätzung aller irdischen Güter, sowohl der materiellen wie der sittlichen, ihren praktischen Ausdruck findet. Das ist in wenigen Worten der wesentliche Inhalt von Lao-tszes Lehre. Daß sie ihrer ganzen Beschaffenheit nach auf einen kleinen Kreis von Anhängern beschränkt bleiben mußte und nie Gemeingut aller werden konnte, liegt auf der Hand. Unchinesisch sowohl durch das Vorwalten metaphysischer Spekulation als auch durch ihre weltfremde, zum Asketentum hinneigende und den: praktischen Leben abgewandte Tendenz war sie der Konkurrenz mit dem Konfuzicmismus, bei dem die sittlichen Bedürfnisse des Durchschnittsmenschen auf die bequemste Weise ihre Rechnung fanden, nicht gewachsen. Ähnlich dem Buddhismus hat denn auch der Taoismus einen Entwicklungsprozeß durchgemacht, der ihn nahezu in sein eigenes Gegenteil umgewandelt hat. Schon der mystische Charakter der Lehre des Lao-tsze und der geheimnisvoll orakelhafte Ton vieler seiner Aussprüche mutzte eine mächtige Anregung auf die Einbildungskraft ausüben, und in der Tat kann man denn auch bereits bei seinen nächsten Nachfolgern im Gegensatz zu der verstandesmäßigen Nüchternheit der konfuzianischen Schule ein entschiedenes Vorwalten des phantastischen Elements wahrnehmen. Auf Schritt und Tritt begegnet man da Fabelwesen der ver¬ schiedensten Art, Menschen, die mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind, wunderbaren Naturerscheinungen u. tgi. in. Und dieser Hang zum Phantastischen und Wunderbaren hat zweifellos die ferneren Schicksale des Taoismus bestimmend beeinflußt, indem er ihn zwei neue Richtungen einschlagen ließ, die ihn beide gleich weit von der ursprünglichen Lehre des Lao-tszL entfernten: die eine Richtung führte zu eiuer alchemistischen Geheimlehre, die andere zum religiösen oder Vulgärtaoismus. Schon in der frühesten Periode des Taoismus scheint das Anachoretentum eine gewisse Rolle gespielt zu haben: eine in China völlig neue, bis dahin unbekannte Erscheinung, die nicht verfehlen konnte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bald schrieb man denn auch jenen Einsiedlern allerhand übernatürliche Kräfte zu, wie z. B. die Fähigkeit, ihre Lebensdauer zu verlängern, Unsterblichkeit zu erlangen, durch die Luft zu fliegen, die Seele beliebig vom Körper zu trennen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/171>, abgerufen am 01.01.2025.