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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

in einem kurzen Traktat niedergelegt, der den Titel "Tao-des-king", d. h. "Das
kanonische Buch vom Tao und der Tugend", trägt und wohl als das tief¬
sinnigste Erzeugnis der gesamten philosophischen Literatur Chinas bezeichnet zu
werden verdient.

Im Mittelpunkte der ganzen Lehre steht, wie schon aus der daraus ab¬
geleiteten Bezeichnung "Taoismus" ersichtlich ist, der Begriff des tao, der sich,
ähnlich dem bereits erwähnten II, leichter definieren als durch ein entsprechendes
Äquivalent übersetzen läßt. Ursprünglich bedeutet tao "Weg" oder "Pfad",
dann aber im übertragenen Sinne soviel wie "Methode", "Norm", "Vernunft-
prinzip"; und schließlich kommt es in verbaler Anwendung noch in der Bedeutung
"sagen", "reden" vor. Sowohl nach seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen
als auch nach seinem Sprachgebrauch dürfte es allenfalls dem Logosbegriff am
nächsten kommen und demnach der Terminus "Taoismus" vielleicht am besten
durch Panlogismus wiederzugeben sein.

Ewig, unmateriell und allgegenwärtig, ist das tao das schaffende, erhaltende
und ordnende Prinzip alles Seienden. Alles, was ist, ist aus dem tao hervor¬
gegangen, um nach vollendetem Kreislauf der Entwicklung wieder ins tao
zurückzukehren. Somit ist es nicht nur die erste Ursache, sondern auch das letzte
Ziel und Ende alles Seins. Wer das geheimnisvolle Wirken des tao erkennt,
hat die höchste Erkenntnis erlangt, und wer sich in seinem Verhalten nach dem
tao richtet, besitzt die höchste Tugend. Somit erscheint das tao nicht nur als
metaphysisches, sondern zugleich auch als ethisches Prinzip, so daß es, mit Kant
zu reden, gewissermaßen die reine und die praktische Vernunft in sich vereinigt.

Das tao ist ferner, wie sich das "Tao-des-king" ausdrückt, "ewig ohne
Tun und doch ohne Nichttun", d. h. etwas verständlicher formuliert, es wirkt ohne
zu handeln. Dementsprechend heißt es vom heiligen Menschen, d. h. von dem,
der sich das tao zum Vorbilde nimmt und es in sich zu verkörpern trachtet:
"Er verweilt in der Tätigkeit des Nichttuns und übt Belehrung aus ohne
Worte", oder wie wir uns ausdrücken würden: er wirkt durch seine vorbildliche
Persönlichkeit. Das ist die sog. Wu-wei-Theorie, d. h. die Lehre vom Nichttun,
auf der sich die ganze taoistische Ethik aufbaut.

Alle Erkenntnis beruht nach Lao-tszö auf dem Satze des Widerspruchs,
und auch die sittlichen Werte machen hiervon keine Ausnahme. Gut und böse
bedingen sich gegenseitig: das eine ist nur aus dem anderen erkennbar, folglich
hat jedes nur relative Geltung. Damit fällt natürlich auch der Wert der tugend¬
haften Handlung als solcher. Das und nichts anderes hat Lao-tsze im Sinne,
wenn er sagt: "Wenn das tao in Verfall gerät, dann gibt es Menschlichkeit
und Gerechtigkeit; kommt Klugheit und Scharfsinn auf, dann gibt es Heuchelei;
sind die sechs Arten von Blutsverwandten uneinig, dann gibt es Kindesliebe
und Elternliebe; wenn die Landesherrschaft in Verfall und Zerrüttung gerät,
dann gibt es treue Untertanen." Das scheinbar Paradoxe dieses Ausspruchs,
der in der Folge der Zielpunkt für die leidenschaftlichen Angriffe von feiten der


Bausteine der chinesischen Kultur

in einem kurzen Traktat niedergelegt, der den Titel „Tao-des-king", d. h. „Das
kanonische Buch vom Tao und der Tugend", trägt und wohl als das tief¬
sinnigste Erzeugnis der gesamten philosophischen Literatur Chinas bezeichnet zu
werden verdient.

Im Mittelpunkte der ganzen Lehre steht, wie schon aus der daraus ab¬
geleiteten Bezeichnung „Taoismus" ersichtlich ist, der Begriff des tao, der sich,
ähnlich dem bereits erwähnten II, leichter definieren als durch ein entsprechendes
Äquivalent übersetzen läßt. Ursprünglich bedeutet tao „Weg" oder „Pfad",
dann aber im übertragenen Sinne soviel wie „Methode", „Norm", „Vernunft-
prinzip"; und schließlich kommt es in verbaler Anwendung noch in der Bedeutung
„sagen", „reden" vor. Sowohl nach seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen
als auch nach seinem Sprachgebrauch dürfte es allenfalls dem Logosbegriff am
nächsten kommen und demnach der Terminus „Taoismus" vielleicht am besten
durch Panlogismus wiederzugeben sein.

Ewig, unmateriell und allgegenwärtig, ist das tao das schaffende, erhaltende
und ordnende Prinzip alles Seienden. Alles, was ist, ist aus dem tao hervor¬
gegangen, um nach vollendetem Kreislauf der Entwicklung wieder ins tao
zurückzukehren. Somit ist es nicht nur die erste Ursache, sondern auch das letzte
Ziel und Ende alles Seins. Wer das geheimnisvolle Wirken des tao erkennt,
hat die höchste Erkenntnis erlangt, und wer sich in seinem Verhalten nach dem
tao richtet, besitzt die höchste Tugend. Somit erscheint das tao nicht nur als
metaphysisches, sondern zugleich auch als ethisches Prinzip, so daß es, mit Kant
zu reden, gewissermaßen die reine und die praktische Vernunft in sich vereinigt.

Das tao ist ferner, wie sich das „Tao-des-king" ausdrückt, „ewig ohne
Tun und doch ohne Nichttun", d. h. etwas verständlicher formuliert, es wirkt ohne
zu handeln. Dementsprechend heißt es vom heiligen Menschen, d. h. von dem,
der sich das tao zum Vorbilde nimmt und es in sich zu verkörpern trachtet:
„Er verweilt in der Tätigkeit des Nichttuns und übt Belehrung aus ohne
Worte", oder wie wir uns ausdrücken würden: er wirkt durch seine vorbildliche
Persönlichkeit. Das ist die sog. Wu-wei-Theorie, d. h. die Lehre vom Nichttun,
auf der sich die ganze taoistische Ethik aufbaut.

Alle Erkenntnis beruht nach Lao-tszö auf dem Satze des Widerspruchs,
und auch die sittlichen Werte machen hiervon keine Ausnahme. Gut und böse
bedingen sich gegenseitig: das eine ist nur aus dem anderen erkennbar, folglich
hat jedes nur relative Geltung. Damit fällt natürlich auch der Wert der tugend¬
haften Handlung als solcher. Das und nichts anderes hat Lao-tsze im Sinne,
wenn er sagt: „Wenn das tao in Verfall gerät, dann gibt es Menschlichkeit
und Gerechtigkeit; kommt Klugheit und Scharfsinn auf, dann gibt es Heuchelei;
sind die sechs Arten von Blutsverwandten uneinig, dann gibt es Kindesliebe
und Elternliebe; wenn die Landesherrschaft in Verfall und Zerrüttung gerät,
dann gibt es treue Untertanen." Das scheinbar Paradoxe dieses Ausspruchs,
der in der Folge der Zielpunkt für die leidenschaftlichen Angriffe von feiten der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/170>, abgerufen am 01.01.2025.