Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Bausteine der chinesischen Kultur So bietet die altchinesische Naturreligion das getreue Spiegelbild der Bis auf die Gegenwart ist der offizielle religiöse Kultus, an dessen Spitze Der Taoismus, um zunächst auf diesen einzugehen, ist in seiner ursprüng¬ Bausteine der chinesischen Kultur So bietet die altchinesische Naturreligion das getreue Spiegelbild der Bis auf die Gegenwart ist der offizielle religiöse Kultus, an dessen Spitze Der Taoismus, um zunächst auf diesen einzugehen, ist in seiner ursprüng¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319118"/> <fw type="header" place="top"> Bausteine der chinesischen Kultur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1188"> So bietet die altchinesische Naturreligion das getreue Spiegelbild der<lb/> gewohnten diesseitigen Umgebung, gleichsam die transzendentale Projektion des<lb/> irdischen Staatswesens. Eine Religion von solcher Beschaffenheit setzt offenbar<lb/> die Existenz eines fertig organisierten staatlichen Gebildes mit einer monarchischen<lb/> Spitze und einer wohlgegliederten Beamtenhierarchie voraus. Anders der Ahnen¬<lb/> kult, der ja seinem Wesen nach auf die Träger eines gleichen Geschlechtsnamens<lb/> beschränkt ist, mithin noch keine Staatsgemeinschaft, sondern nur Geschlechts¬<lb/> oder Stammesgemeinschaft zur Voraussetzung hat. Spricht schon dieser Umstand<lb/> für ein mutmaßlich höheres Alter der Ahnenverehrung, so ist sie außerdem in<lb/> doppelter Hinsicht von religionsgeschichtlicher Bedeutung. Einmal dadurch, daß<lb/> sie den Glauben an ein individuelles Fortleben nach dem Tode beweist, obschon<lb/> auch in diesem Punkt dieselbe Unbestimmtheit, derselbe Mangel an Anschaulichkeit<lb/> herrscht, wie auch sonst im religiösen Glauben der alten Chinesen. Zweitens<lb/> aber: war einmal der Glaube an ein Fortleben der Verstorbenen und an ihr<lb/> Einwirken auf die Geschicke der Lebenden gegeben, so lag es nahe,<lb/> solchen Persönlichkeiten, die sich bei ihren Lebzeiten, sei es als Staatsmänner,<lb/> sei es als Feldherren oder als Philosophen und Weise, nicht nur um ihr eigenes<lb/> Haus, sondern auch um weitere Kreise, um bestimmte Berufsklassen, vielleicht<lb/> gar um das Wohl des ganzen Reiches verdient gemacht hatten, auch nach ihrem<lb/> Tode einen weiter reichenden Einfluß zuzuschreiben als den Manen gewöhnlicher<lb/> Sterblichen und ihnen daher auch außerhalb des engen Kreises der Stammes¬<lb/> genossen posthume Ehren zu erweisen. So enthält der häusliche Ahnenkult den<lb/> Keim, aus dem in der Folge der öffentliche Heroenkult herausgewachsen ist.<lb/> Vereinzelte Beispiele des Heroenkultes lassen sich schon im frühen Altertum nach¬<lb/> weisen, aber den mächtigsten Impuls erhielt er doch erst durch die Aufnahme<lb/> des Konfuzius in den öffentlichen Kultus. Die Kanonisierung des Konfuzius ist<lb/> insofern eine bedeutsame Etappe in der Religionsgeschichte Chinas, als sie als<lb/> Präzedenzfall behandelt wurde, dem späterhin zahlreiche ähnliche Fälle folgten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1189"> Bis auf die Gegenwart ist der offizielle religiöse Kultus, an dessen Spitze<lb/> der Kaiser als pontikex maximu8 steht, im Grunde unverändert geblieben.<lb/> Wohl aber hat sich im Laufe zweier Jahrtausende daneben unter dem Einflüsse<lb/> des Taoismus einerseits und des Buddhismus anderseits ein chaotischer religiöser<lb/> Synkretismus ausgebildet, der das Wesen der modernen chinesischen Volksreligion<lb/> ausmacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1190" next="#ID_1191"> Der Taoismus, um zunächst auf diesen einzugehen, ist in seiner ursprüng¬<lb/> lichen Gestalt keine religiöse, sondern eine mystisch-philosophische Lehre, die sich<lb/> auf den Philosophen Lao-tsze' zurückleitet. Leider find die historischen Angaben<lb/> über die Person des Lao-tsze außerordentlich dürftig und zum Teil auch wenig<lb/> zuverlässig. Wir wissen nur, daß er vermutlich um das Jahr 604 v. Chr. geboren,<lb/> mithin um dreiundfünfzig Jahre älter war als Konfuzius, daß er längere Zeit<lb/> hindurch ein Amt am kaiserlichen Archiv in der damaligen Reichshauptstadt<lb/> einnahm und schließlich als Einsiedler spurlos verschollen ist. Seine Lehre ist</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0169]
Bausteine der chinesischen Kultur
So bietet die altchinesische Naturreligion das getreue Spiegelbild der
gewohnten diesseitigen Umgebung, gleichsam die transzendentale Projektion des
irdischen Staatswesens. Eine Religion von solcher Beschaffenheit setzt offenbar
die Existenz eines fertig organisierten staatlichen Gebildes mit einer monarchischen
Spitze und einer wohlgegliederten Beamtenhierarchie voraus. Anders der Ahnen¬
kult, der ja seinem Wesen nach auf die Träger eines gleichen Geschlechtsnamens
beschränkt ist, mithin noch keine Staatsgemeinschaft, sondern nur Geschlechts¬
oder Stammesgemeinschaft zur Voraussetzung hat. Spricht schon dieser Umstand
für ein mutmaßlich höheres Alter der Ahnenverehrung, so ist sie außerdem in
doppelter Hinsicht von religionsgeschichtlicher Bedeutung. Einmal dadurch, daß
sie den Glauben an ein individuelles Fortleben nach dem Tode beweist, obschon
auch in diesem Punkt dieselbe Unbestimmtheit, derselbe Mangel an Anschaulichkeit
herrscht, wie auch sonst im religiösen Glauben der alten Chinesen. Zweitens
aber: war einmal der Glaube an ein Fortleben der Verstorbenen und an ihr
Einwirken auf die Geschicke der Lebenden gegeben, so lag es nahe,
solchen Persönlichkeiten, die sich bei ihren Lebzeiten, sei es als Staatsmänner,
sei es als Feldherren oder als Philosophen und Weise, nicht nur um ihr eigenes
Haus, sondern auch um weitere Kreise, um bestimmte Berufsklassen, vielleicht
gar um das Wohl des ganzen Reiches verdient gemacht hatten, auch nach ihrem
Tode einen weiter reichenden Einfluß zuzuschreiben als den Manen gewöhnlicher
Sterblichen und ihnen daher auch außerhalb des engen Kreises der Stammes¬
genossen posthume Ehren zu erweisen. So enthält der häusliche Ahnenkult den
Keim, aus dem in der Folge der öffentliche Heroenkult herausgewachsen ist.
Vereinzelte Beispiele des Heroenkultes lassen sich schon im frühen Altertum nach¬
weisen, aber den mächtigsten Impuls erhielt er doch erst durch die Aufnahme
des Konfuzius in den öffentlichen Kultus. Die Kanonisierung des Konfuzius ist
insofern eine bedeutsame Etappe in der Religionsgeschichte Chinas, als sie als
Präzedenzfall behandelt wurde, dem späterhin zahlreiche ähnliche Fälle folgten.
Bis auf die Gegenwart ist der offizielle religiöse Kultus, an dessen Spitze
der Kaiser als pontikex maximu8 steht, im Grunde unverändert geblieben.
Wohl aber hat sich im Laufe zweier Jahrtausende daneben unter dem Einflüsse
des Taoismus einerseits und des Buddhismus anderseits ein chaotischer religiöser
Synkretismus ausgebildet, der das Wesen der modernen chinesischen Volksreligion
ausmacht.
Der Taoismus, um zunächst auf diesen einzugehen, ist in seiner ursprüng¬
lichen Gestalt keine religiöse, sondern eine mystisch-philosophische Lehre, die sich
auf den Philosophen Lao-tsze' zurückleitet. Leider find die historischen Angaben
über die Person des Lao-tsze außerordentlich dürftig und zum Teil auch wenig
zuverlässig. Wir wissen nur, daß er vermutlich um das Jahr 604 v. Chr. geboren,
mithin um dreiundfünfzig Jahre älter war als Konfuzius, daß er längere Zeit
hindurch ein Amt am kaiserlichen Archiv in der damaligen Reichshauptstadt
einnahm und schließlich als Einsiedler spurlos verschollen ist. Seine Lehre ist
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