Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel revolutionär gebrandmarkt werden, zeigt, in welchem Maße die Wählerschaft Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob das in England herrschende Es ist erstaunlich, daß von kompetenter Seite, wo man gewiß längst die Reichsspiegel revolutionär gebrandmarkt werden, zeigt, in welchem Maße die Wählerschaft Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob das in England herrschende Es ist erstaunlich, daß von kompetenter Seite, wo man gewiß längst die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319102"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1133" prev="#ID_1132"> revolutionär gebrandmarkt werden, zeigt, in welchem Maße die Wählerschaft<lb/> von ihren Führern beeinflußt ist, die keine Mittel scheuen, um in Amt und<lb/> Würde zu gelangen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1134"> Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob das in England herrschende<lb/> Regierungssystem, welches man gewohnt ist in aller Herren Länder als<lb/> mustergültig gepriesen zu finden, wirklich so nachahmenswert erscheint. Nehmen<lb/> wir beispielsweise die Frage: Freihandel gegen Schutzzollpolitik. Seit fast<lb/> einem Dezennium streiten sich die klügsten Köpfe darüber, welche von beiden<lb/> für die Prosperität des Landes die empfehlenswertere sei. Derartig komplizierte<lb/> Fragen, zu denen ohne Zweifel auch die des Vetorechtes gehört, werden nun<lb/> zu Wahlzeiten dem Volke selbst zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Denn<lb/> die Stellungnahme zu ihnen ist es, durch welche sich im Grunde die Parteien<lb/> kennzeichnen und unterscheiden. Ein Regierungssystem setzt, um in dieser<lb/> Form berechtigt zu sein, ein Volk voraus, bei welchen: die Geistesbildung<lb/> auf einer ungleich höheren Stufe steht, als es zurzeit der Fall sein kann. Man<lb/> mag in dieser Beziehung über die Engländer denken, wie man null, aber daß<lb/> sie dem Ideal noch in recht respektvoller Entfernung geblieben sind, wird<lb/> jeder zugeben, der Gelegenheit gehabt hat, die Urteilsfähigkeit des englischen<lb/> Volkes in Kontroversen dieser Art näher kennen zu lernen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1135"> Es ist erstaunlich, daß von kompetenter Seite, wo man gewiß längst die<lb/> Wahrheit dieser Anschauung erkannt hat, noch kein erfolgreicher Vorschlag gemacht<lb/> werden Konnte, derartige einschneidende Fragen einer Versammlung unparteiischer<lb/> urteilsfähiger Männer vorzulegen, ohne das Regierungssvstem oder die Wahlfreiheit<lb/> in den Augen des Volkes zu präjudizieren. Gewiß würde ein derartiges Komitee<lb/> frei von „Parteien Haß und Gunst" über das Resultat seiner Forschungen in so<lb/> sachlicher und erschöpfender Weise Bericht erstatten können, daß es auf Grund<lb/> desselben möglich sein sollte, im Parlament selbst zu dem für die Prosperität<lb/> des Landes nutzbringendsten Resultat zu kommen. Wie den: auch sei, auf diese<lb/> oder jene Art wird über kurz oder lang ein Mittel gefunden werden müssen,<lb/> um die im Gefolge der radikalen Neuerungen sich mit der Zeit mehr und mehr<lb/> geltend machende sozialistische Tendenz in gegebenen Grenzen zu halten. So<lb/> stehen wir ohne Zweifel vor einem neuen geschichtlichen Abschnitt, welcher Eng¬<lb/> land in seinem Freiheitsgedanken einen großen Schritt weiterbringen dürfte.<lb/> Nach welcher Richtung hin dieser idealistische Erfolg von dem Volke ausgearbeitet<lb/> wird, muß die Zukunft lehren. Wir Deutschen, die wir zwar auf allen Gebieten<lb/> seine Wettbewerber, so doch aufs engste mit seinen Interessen verknüpft sind<lb/> und unsere Wohlfahrt nicht in der Schädigung eines befreundeten Nachbar¬<lb/> staates erblicken, können nur wünschen, daß dieser Erfolg sich für das englische<lb/> Volk und damit für die ganze Welt zu einen: praktischen und in weiterem<lb/><note type="byline"> s. Simmonds</note> Sinne anregenden ergänzen möge. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0153]
Reichsspiegel
revolutionär gebrandmarkt werden, zeigt, in welchem Maße die Wählerschaft
von ihren Führern beeinflußt ist, die keine Mittel scheuen, um in Amt und
Würde zu gelangen.
Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob das in England herrschende
Regierungssystem, welches man gewohnt ist in aller Herren Länder als
mustergültig gepriesen zu finden, wirklich so nachahmenswert erscheint. Nehmen
wir beispielsweise die Frage: Freihandel gegen Schutzzollpolitik. Seit fast
einem Dezennium streiten sich die klügsten Köpfe darüber, welche von beiden
für die Prosperität des Landes die empfehlenswertere sei. Derartig komplizierte
Fragen, zu denen ohne Zweifel auch die des Vetorechtes gehört, werden nun
zu Wahlzeiten dem Volke selbst zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Denn
die Stellungnahme zu ihnen ist es, durch welche sich im Grunde die Parteien
kennzeichnen und unterscheiden. Ein Regierungssystem setzt, um in dieser
Form berechtigt zu sein, ein Volk voraus, bei welchen: die Geistesbildung
auf einer ungleich höheren Stufe steht, als es zurzeit der Fall sein kann. Man
mag in dieser Beziehung über die Engländer denken, wie man null, aber daß
sie dem Ideal noch in recht respektvoller Entfernung geblieben sind, wird
jeder zugeben, der Gelegenheit gehabt hat, die Urteilsfähigkeit des englischen
Volkes in Kontroversen dieser Art näher kennen zu lernen.
Es ist erstaunlich, daß von kompetenter Seite, wo man gewiß längst die
Wahrheit dieser Anschauung erkannt hat, noch kein erfolgreicher Vorschlag gemacht
werden Konnte, derartige einschneidende Fragen einer Versammlung unparteiischer
urteilsfähiger Männer vorzulegen, ohne das Regierungssvstem oder die Wahlfreiheit
in den Augen des Volkes zu präjudizieren. Gewiß würde ein derartiges Komitee
frei von „Parteien Haß und Gunst" über das Resultat seiner Forschungen in so
sachlicher und erschöpfender Weise Bericht erstatten können, daß es auf Grund
desselben möglich sein sollte, im Parlament selbst zu dem für die Prosperität
des Landes nutzbringendsten Resultat zu kommen. Wie den: auch sei, auf diese
oder jene Art wird über kurz oder lang ein Mittel gefunden werden müssen,
um die im Gefolge der radikalen Neuerungen sich mit der Zeit mehr und mehr
geltend machende sozialistische Tendenz in gegebenen Grenzen zu halten. So
stehen wir ohne Zweifel vor einem neuen geschichtlichen Abschnitt, welcher Eng¬
land in seinem Freiheitsgedanken einen großen Schritt weiterbringen dürfte.
Nach welcher Richtung hin dieser idealistische Erfolg von dem Volke ausgearbeitet
wird, muß die Zukunft lehren. Wir Deutschen, die wir zwar auf allen Gebieten
seine Wettbewerber, so doch aufs engste mit seinen Interessen verknüpft sind
und unsere Wohlfahrt nicht in der Schädigung eines befreundeten Nachbar¬
staates erblicken, können nur wünschen, daß dieser Erfolg sich für das englische
Volk und damit für die ganze Welt zu einen: praktischen und in weiterem
s. Simmonds Sinne anregenden ergänzen möge.
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