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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

Chuang-tsze", einer der geistvollsten Denker und phantasiereichsten Schriftsteller
Chinas, den Konfuzius als pedantischen Kleinigkeitskrämer mit der Lauge
schonungsloser Spottes überschüttete, und selbst noch im ersten Jahrhundert
unserer Zeitrechnung durfte Wang Ch'ung die Lehrmeinungen des Konfuzius
einer recht scharfen Kritik unterziehen. Dann aber verstummen die gegnerischen
Stimmen allmählich, und langsam, aber unaufhaltsam vollzieht sich unter dem
Einfluß des geschichtlichen Entwicklungsganges jene verhängnisvolle Wandlung,
durch welche der Konfuzianismus zu einer die Gemüter beherrschenden Macht
erstarkt, die keinen Angriff mehr zu fürchten braucht.

So kam es, daß der Konfuzianismus zu guter Letzt zu einer dogmatischen
Orthodoxie verknöcherte, die es an Unduldsamkeit und Verfolgungssucht getrost
mit jeder kirchlichen Orthodoxie aufnehmen kann. Diesen Abschluß seiner Ent¬
wicklung erreichte er im zwölften Jahrhundert durch den großen Polyhistor Chu Hi,
der die klassischen Texte durch seine Revision und Exegese von den in ihnen
enthaltenen Widersprüchen reinigte und so dem Konfuzianismus das feste Gefüge
eines dogmatischen Lehrsystems von unfehlbarer Autorität verlieh. Durch ihn
ist der Konfuzianismus als Träger des konservativen Prinzips zur Staatsräson
erhoben worden, und diese Machtstellung hat er unvermindert und unverändert
bis auf die Gegenwart bewahrt.

Die Bevorzugung des zünftigen Gelehrtentums hatte aber ihrerseits eine
Überschätzung des toten Wissens zur Folge, die dem intellektuellen Fortschritt
hemmend im Wege stand. Auch hier war die Entwicklung der Dinge geschichtlich
bedingt. Das Zeitalter der Han bezeichnet die Epoche der Wiedergeburt des
klassischen Altertums und damit zugleich den Beginn der neuen Zeit. Auf die
Wiederauffindung, Herstellung und Auslegung der klassischen Texte richtete sich
damals fast ausschließlich das Interesse der Gelehrten, und auch seither ist die
kompilatorisch-kritische Tätigkeit ihr eigentliches Arbeitsfeld geblieben. Daß die
Chinesen auf diesem Gebiete Großes und Bewundernswertes geschaffen haben,
läßt sich nicht leugnen; man braucht nur an die bändereichen Geschtchts-
kompilationen und Enzyklopädien zu denken, gigantische Denkmale eines wahrhaft
staunenswerten Fleißes, überall jedoch im Grunde nicht viel anderes als tote
Büchergelehrsamkeit, die sich damit begnügt, Stoff zusammenzutragen und im
besten Falle kritisch zu verarbeiten; fast nirgends ein Versuch, die in der Natur
waltenden Kräfte durch Beobachtung und Experiment wissenschaftlich zu deuten,
geschweige denn technisch zu verwerten.

Dieses zähe Festhalten am Alten und Überlieferten, einer der hervorragendsten
Charakterzüge des Chinesentums, tritt aber vielleicht nirgends mit solcher Schärfe
hervor, wie in der Tatsache, daß die lebendige Umgangssprache als schriftliches
Ausdrucksmittel schlechterdings verpönt ist. Die Sprache, die auch jetzt noch
in der Literatur, mit einziger Ausnahme der niedrigsten dramatischen und
erzählenden Literatur, die herrschende geblieben ist, ist eine tote Sprache, die
der Sprache der konfuzianischen Zeit ungleich näher steht als der modernen


Bausteine der chinesischen Kultur

Chuang-tsze", einer der geistvollsten Denker und phantasiereichsten Schriftsteller
Chinas, den Konfuzius als pedantischen Kleinigkeitskrämer mit der Lauge
schonungsloser Spottes überschüttete, und selbst noch im ersten Jahrhundert
unserer Zeitrechnung durfte Wang Ch'ung die Lehrmeinungen des Konfuzius
einer recht scharfen Kritik unterziehen. Dann aber verstummen die gegnerischen
Stimmen allmählich, und langsam, aber unaufhaltsam vollzieht sich unter dem
Einfluß des geschichtlichen Entwicklungsganges jene verhängnisvolle Wandlung,
durch welche der Konfuzianismus zu einer die Gemüter beherrschenden Macht
erstarkt, die keinen Angriff mehr zu fürchten braucht.

So kam es, daß der Konfuzianismus zu guter Letzt zu einer dogmatischen
Orthodoxie verknöcherte, die es an Unduldsamkeit und Verfolgungssucht getrost
mit jeder kirchlichen Orthodoxie aufnehmen kann. Diesen Abschluß seiner Ent¬
wicklung erreichte er im zwölften Jahrhundert durch den großen Polyhistor Chu Hi,
der die klassischen Texte durch seine Revision und Exegese von den in ihnen
enthaltenen Widersprüchen reinigte und so dem Konfuzianismus das feste Gefüge
eines dogmatischen Lehrsystems von unfehlbarer Autorität verlieh. Durch ihn
ist der Konfuzianismus als Träger des konservativen Prinzips zur Staatsräson
erhoben worden, und diese Machtstellung hat er unvermindert und unverändert
bis auf die Gegenwart bewahrt.

Die Bevorzugung des zünftigen Gelehrtentums hatte aber ihrerseits eine
Überschätzung des toten Wissens zur Folge, die dem intellektuellen Fortschritt
hemmend im Wege stand. Auch hier war die Entwicklung der Dinge geschichtlich
bedingt. Das Zeitalter der Han bezeichnet die Epoche der Wiedergeburt des
klassischen Altertums und damit zugleich den Beginn der neuen Zeit. Auf die
Wiederauffindung, Herstellung und Auslegung der klassischen Texte richtete sich
damals fast ausschließlich das Interesse der Gelehrten, und auch seither ist die
kompilatorisch-kritische Tätigkeit ihr eigentliches Arbeitsfeld geblieben. Daß die
Chinesen auf diesem Gebiete Großes und Bewundernswertes geschaffen haben,
läßt sich nicht leugnen; man braucht nur an die bändereichen Geschtchts-
kompilationen und Enzyklopädien zu denken, gigantische Denkmale eines wahrhaft
staunenswerten Fleißes, überall jedoch im Grunde nicht viel anderes als tote
Büchergelehrsamkeit, die sich damit begnügt, Stoff zusammenzutragen und im
besten Falle kritisch zu verarbeiten; fast nirgends ein Versuch, die in der Natur
waltenden Kräfte durch Beobachtung und Experiment wissenschaftlich zu deuten,
geschweige denn technisch zu verwerten.

Dieses zähe Festhalten am Alten und Überlieferten, einer der hervorragendsten
Charakterzüge des Chinesentums, tritt aber vielleicht nirgends mit solcher Schärfe
hervor, wie in der Tatsache, daß die lebendige Umgangssprache als schriftliches
Ausdrucksmittel schlechterdings verpönt ist. Die Sprache, die auch jetzt noch
in der Literatur, mit einziger Ausnahme der niedrigsten dramatischen und
erzählenden Literatur, die herrschende geblieben ist, ist eine tote Sprache, die
der Sprache der konfuzianischen Zeit ungleich näher steht als der modernen


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[0131] Bausteine der chinesischen Kultur Chuang-tsze", einer der geistvollsten Denker und phantasiereichsten Schriftsteller Chinas, den Konfuzius als pedantischen Kleinigkeitskrämer mit der Lauge schonungsloser Spottes überschüttete, und selbst noch im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung durfte Wang Ch'ung die Lehrmeinungen des Konfuzius einer recht scharfen Kritik unterziehen. Dann aber verstummen die gegnerischen Stimmen allmählich, und langsam, aber unaufhaltsam vollzieht sich unter dem Einfluß des geschichtlichen Entwicklungsganges jene verhängnisvolle Wandlung, durch welche der Konfuzianismus zu einer die Gemüter beherrschenden Macht erstarkt, die keinen Angriff mehr zu fürchten braucht. So kam es, daß der Konfuzianismus zu guter Letzt zu einer dogmatischen Orthodoxie verknöcherte, die es an Unduldsamkeit und Verfolgungssucht getrost mit jeder kirchlichen Orthodoxie aufnehmen kann. Diesen Abschluß seiner Ent¬ wicklung erreichte er im zwölften Jahrhundert durch den großen Polyhistor Chu Hi, der die klassischen Texte durch seine Revision und Exegese von den in ihnen enthaltenen Widersprüchen reinigte und so dem Konfuzianismus das feste Gefüge eines dogmatischen Lehrsystems von unfehlbarer Autorität verlieh. Durch ihn ist der Konfuzianismus als Träger des konservativen Prinzips zur Staatsräson erhoben worden, und diese Machtstellung hat er unvermindert und unverändert bis auf die Gegenwart bewahrt. Die Bevorzugung des zünftigen Gelehrtentums hatte aber ihrerseits eine Überschätzung des toten Wissens zur Folge, die dem intellektuellen Fortschritt hemmend im Wege stand. Auch hier war die Entwicklung der Dinge geschichtlich bedingt. Das Zeitalter der Han bezeichnet die Epoche der Wiedergeburt des klassischen Altertums und damit zugleich den Beginn der neuen Zeit. Auf die Wiederauffindung, Herstellung und Auslegung der klassischen Texte richtete sich damals fast ausschließlich das Interesse der Gelehrten, und auch seither ist die kompilatorisch-kritische Tätigkeit ihr eigentliches Arbeitsfeld geblieben. Daß die Chinesen auf diesem Gebiete Großes und Bewundernswertes geschaffen haben, läßt sich nicht leugnen; man braucht nur an die bändereichen Geschtchts- kompilationen und Enzyklopädien zu denken, gigantische Denkmale eines wahrhaft staunenswerten Fleißes, überall jedoch im Grunde nicht viel anderes als tote Büchergelehrsamkeit, die sich damit begnügt, Stoff zusammenzutragen und im besten Falle kritisch zu verarbeiten; fast nirgends ein Versuch, die in der Natur waltenden Kräfte durch Beobachtung und Experiment wissenschaftlich zu deuten, geschweige denn technisch zu verwerten. Dieses zähe Festhalten am Alten und Überlieferten, einer der hervorragendsten Charakterzüge des Chinesentums, tritt aber vielleicht nirgends mit solcher Schärfe hervor, wie in der Tatsache, daß die lebendige Umgangssprache als schriftliches Ausdrucksmittel schlechterdings verpönt ist. Die Sprache, die auch jetzt noch in der Literatur, mit einziger Ausnahme der niedrigsten dramatischen und erzählenden Literatur, die herrschende geblieben ist, ist eine tote Sprache, die der Sprache der konfuzianischen Zeit ungleich näher steht als der modernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/131>, abgerufen am 01.01.2025.