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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

der Form nach beibehielten, indem sie Angehörige ihres Hauses zu Lehensfürsten
einsetzten, zugleich aber auch durch Teilung des Grundbesitzes, welche den bis
dahin von der Erbfolge ausgeschlossenen jüngeren Söhnen zugute kam, dafür
Sorge trugen, daß das Lehenswesen mit der Zeit von selbst zerfiel. Hand in
Hand mit der Schwächung des Lehenswesens geht die Demokratisierung der
Staatsverwaltung. Von nun an entscheidet nicht mehr das Privilegium der
Geburt, sondern die persönliche Tüchtigkeit, eine Tendenz, die in der Folge zur
Verdrängung der Geburtsaristokratie durch den Gelehrtenadel, des aristokratischen
Regiments durch das büreaukratische führte.

Was die Kaiser der Han-Dynastie dabei im Auge hatten, war offenbar
nichts Geringeres als eine Auslese der Tüchtigsten für den Dienst des Staates.
Aber die sichtliche Bevorzugung des Gelehrtentums führte allmählich zu einem
für die politische und kulturelle Wohlfahrt des Reiches verderblichen Schema¬
tismus. Was die Kaiser der Han-Dynastie begonnen hatten, wurde durch die
um das Jahr 600 eingeführte Institution eines organischen gelehrten Wett¬
bewerbes zum Abschluß gebracht. Seitdem bilden die öffentlichen Staatsprüfungen,
bei denen ein einseitig literarisches Wissen den Ausschlag gibt, die unerläßliche
und einzige Vorbedingung der staatlichen Laufbahn, und das zünftige Gelehrten-
tum ist zur herrschenden Kaste erhoben*).

In diesem folgenschweren Ergebnis tritt der unheilvolle Einfluß zutage,
den zwar nicht Konfuzius, wohl aber der Konfuzianismus auf das politische
Leben Chinas ausgeübt hat. Aber auch auf andere Gebiete des geistigen Lebens
hat er im ganzen mehr hemmend als fördernd eingewirkt.

In der ersten Zeit seines Bestehens tritt der Konfuzianismus als eine
geistige Strömung auf, die zwar die große Mehrheit der Nation mit sich fortriß,
weil sie ihren ethischen und intellektuellen Bedürfnissen entsprach, die aber dennoch
mit abweichenden Meinungen, die sich ihr gegenüber geltend zu machen suchten,
um ihre Existenz kämpfen mußte. Solange das der Fall war, konnte er als
kulturfördernder Faktor wirken und hat es auch getan. Man kann sagen, daß
die letzten fünf Jahrhunderte, die dem Beginn unserer Zeitrechnung vorher¬
gingen, eine fruchtbare Periode geistiger Kämpfe bilden, wie China seitdem
nichts ähnliches wieder erlebt hat. Lehrmeinungen entgegengesetzter Art befehdeten
einander, vom mystischen Pantheismus des Lao-tszL und seiner Schule bis zum
materialistischen Skeptizismus eines Wang Ch'ung, von Meng-tszLs Lehre von
der angeborenen Güte der menschlichen Natur und Mos Tihs Gebot der all¬
gemeinen Menschenliebe bis zu Dang Chu, der, von einem theoretischen Pessi¬
mismus 'ausgehend, schließlich zu einem praktischen Eudämonismus auf egoistischer
Grundlage gelangt und den Zweck des Daseins einzig in der Befriedigung der
Sinne erblickt. Im vierten Jahrhundert v. Chr. war es noch möglich, daß



*) Bor einigen Jahren sind die Staatsprüfungen, wie uns ein hoher chinesischer
Beamter mitteilt, gänzlich umgestaltet worden; sie erstrecken sich jetzt auch auf europäische
Die Schriftltg. Sprachen und Wissenschaften.
Bausteine der chinesischen Kultur

der Form nach beibehielten, indem sie Angehörige ihres Hauses zu Lehensfürsten
einsetzten, zugleich aber auch durch Teilung des Grundbesitzes, welche den bis
dahin von der Erbfolge ausgeschlossenen jüngeren Söhnen zugute kam, dafür
Sorge trugen, daß das Lehenswesen mit der Zeit von selbst zerfiel. Hand in
Hand mit der Schwächung des Lehenswesens geht die Demokratisierung der
Staatsverwaltung. Von nun an entscheidet nicht mehr das Privilegium der
Geburt, sondern die persönliche Tüchtigkeit, eine Tendenz, die in der Folge zur
Verdrängung der Geburtsaristokratie durch den Gelehrtenadel, des aristokratischen
Regiments durch das büreaukratische führte.

Was die Kaiser der Han-Dynastie dabei im Auge hatten, war offenbar
nichts Geringeres als eine Auslese der Tüchtigsten für den Dienst des Staates.
Aber die sichtliche Bevorzugung des Gelehrtentums führte allmählich zu einem
für die politische und kulturelle Wohlfahrt des Reiches verderblichen Schema¬
tismus. Was die Kaiser der Han-Dynastie begonnen hatten, wurde durch die
um das Jahr 600 eingeführte Institution eines organischen gelehrten Wett¬
bewerbes zum Abschluß gebracht. Seitdem bilden die öffentlichen Staatsprüfungen,
bei denen ein einseitig literarisches Wissen den Ausschlag gibt, die unerläßliche
und einzige Vorbedingung der staatlichen Laufbahn, und das zünftige Gelehrten-
tum ist zur herrschenden Kaste erhoben*).

In diesem folgenschweren Ergebnis tritt der unheilvolle Einfluß zutage,
den zwar nicht Konfuzius, wohl aber der Konfuzianismus auf das politische
Leben Chinas ausgeübt hat. Aber auch auf andere Gebiete des geistigen Lebens
hat er im ganzen mehr hemmend als fördernd eingewirkt.

In der ersten Zeit seines Bestehens tritt der Konfuzianismus als eine
geistige Strömung auf, die zwar die große Mehrheit der Nation mit sich fortriß,
weil sie ihren ethischen und intellektuellen Bedürfnissen entsprach, die aber dennoch
mit abweichenden Meinungen, die sich ihr gegenüber geltend zu machen suchten,
um ihre Existenz kämpfen mußte. Solange das der Fall war, konnte er als
kulturfördernder Faktor wirken und hat es auch getan. Man kann sagen, daß
die letzten fünf Jahrhunderte, die dem Beginn unserer Zeitrechnung vorher¬
gingen, eine fruchtbare Periode geistiger Kämpfe bilden, wie China seitdem
nichts ähnliches wieder erlebt hat. Lehrmeinungen entgegengesetzter Art befehdeten
einander, vom mystischen Pantheismus des Lao-tszL und seiner Schule bis zum
materialistischen Skeptizismus eines Wang Ch'ung, von Meng-tszLs Lehre von
der angeborenen Güte der menschlichen Natur und Mos Tihs Gebot der all¬
gemeinen Menschenliebe bis zu Dang Chu, der, von einem theoretischen Pessi¬
mismus 'ausgehend, schließlich zu einem praktischen Eudämonismus auf egoistischer
Grundlage gelangt und den Zweck des Daseins einzig in der Befriedigung der
Sinne erblickt. Im vierten Jahrhundert v. Chr. war es noch möglich, daß



*) Bor einigen Jahren sind die Staatsprüfungen, wie uns ein hoher chinesischer
Beamter mitteilt, gänzlich umgestaltet worden; sie erstrecken sich jetzt auch auf europäische
Die Schriftltg. Sprachen und Wissenschaften.
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[0130] Bausteine der chinesischen Kultur der Form nach beibehielten, indem sie Angehörige ihres Hauses zu Lehensfürsten einsetzten, zugleich aber auch durch Teilung des Grundbesitzes, welche den bis dahin von der Erbfolge ausgeschlossenen jüngeren Söhnen zugute kam, dafür Sorge trugen, daß das Lehenswesen mit der Zeit von selbst zerfiel. Hand in Hand mit der Schwächung des Lehenswesens geht die Demokratisierung der Staatsverwaltung. Von nun an entscheidet nicht mehr das Privilegium der Geburt, sondern die persönliche Tüchtigkeit, eine Tendenz, die in der Folge zur Verdrängung der Geburtsaristokratie durch den Gelehrtenadel, des aristokratischen Regiments durch das büreaukratische führte. Was die Kaiser der Han-Dynastie dabei im Auge hatten, war offenbar nichts Geringeres als eine Auslese der Tüchtigsten für den Dienst des Staates. Aber die sichtliche Bevorzugung des Gelehrtentums führte allmählich zu einem für die politische und kulturelle Wohlfahrt des Reiches verderblichen Schema¬ tismus. Was die Kaiser der Han-Dynastie begonnen hatten, wurde durch die um das Jahr 600 eingeführte Institution eines organischen gelehrten Wett¬ bewerbes zum Abschluß gebracht. Seitdem bilden die öffentlichen Staatsprüfungen, bei denen ein einseitig literarisches Wissen den Ausschlag gibt, die unerläßliche und einzige Vorbedingung der staatlichen Laufbahn, und das zünftige Gelehrten- tum ist zur herrschenden Kaste erhoben*). In diesem folgenschweren Ergebnis tritt der unheilvolle Einfluß zutage, den zwar nicht Konfuzius, wohl aber der Konfuzianismus auf das politische Leben Chinas ausgeübt hat. Aber auch auf andere Gebiete des geistigen Lebens hat er im ganzen mehr hemmend als fördernd eingewirkt. In der ersten Zeit seines Bestehens tritt der Konfuzianismus als eine geistige Strömung auf, die zwar die große Mehrheit der Nation mit sich fortriß, weil sie ihren ethischen und intellektuellen Bedürfnissen entsprach, die aber dennoch mit abweichenden Meinungen, die sich ihr gegenüber geltend zu machen suchten, um ihre Existenz kämpfen mußte. Solange das der Fall war, konnte er als kulturfördernder Faktor wirken und hat es auch getan. Man kann sagen, daß die letzten fünf Jahrhunderte, die dem Beginn unserer Zeitrechnung vorher¬ gingen, eine fruchtbare Periode geistiger Kämpfe bilden, wie China seitdem nichts ähnliches wieder erlebt hat. Lehrmeinungen entgegengesetzter Art befehdeten einander, vom mystischen Pantheismus des Lao-tszL und seiner Schule bis zum materialistischen Skeptizismus eines Wang Ch'ung, von Meng-tszLs Lehre von der angeborenen Güte der menschlichen Natur und Mos Tihs Gebot der all¬ gemeinen Menschenliebe bis zu Dang Chu, der, von einem theoretischen Pessi¬ mismus 'ausgehend, schließlich zu einem praktischen Eudämonismus auf egoistischer Grundlage gelangt und den Zweck des Daseins einzig in der Befriedigung der Sinne erblickt. Im vierten Jahrhundert v. Chr. war es noch möglich, daß *) Bor einigen Jahren sind die Staatsprüfungen, wie uns ein hoher chinesischer Beamter mitteilt, gänzlich umgestaltet worden; sie erstrecken sich jetzt auch auf europäische Die Schriftltg. Sprachen und Wissenschaften.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/130>, abgerufen am 04.01.2025.