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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

chinesischen Denken wie auch der nationalen Literatur den Stempel seines Geistes
aufgedrückt hat; auch sein Charakter zeichnet sich mehr durch Lauterkeit und
sittlichen Ernst als durch Größe aus; wohl aber war er groß als der Erzieher
seines Volkes, und dies ist das punctum saliens, das für die Würdigung
seiner Bedeutung für das chinesische Geistesleben ausschlaggebend ist. Triebfeder
und Ziel seines ganzen Wirkens war einzig und allein die sittliche und politische
Hebung seines Volkes; den Weg aber, der zu diesem Ziele führte, erblickte
Konfuzius in der Umkehr zu den monarchisch-patriarchalischen Lebensformen des
Altertums. Man könnte ihn daher wohl mit einigem Recht als Romantiker
bezeichnen und etwa mit I. I. Rousseau vergleichen, -- nur freilich mit dem
wesentlichen Unterschiede, daß ihm nicht wie jenem ein auf bloßen Voraussetzungen
beruhender fiktiver Naturzustand vorschwebte, sondern eine durch die Überlieferung
bezeugte, also geschichtlich gegebene Kulturepoche.

Indem er die alten Überlieferungen, prosaische sowohl wie poetische,
sammelte, sichtete und zu einen: Ganzen vereinigte, schuf er seinen: Volke eine
nationale Literatur, und die kanonischen Bücher, wie er sie redigiert hat, bilden
heute noch das geistige Gemeingut der Nation. Daß Konfuzius jedoch bei der
Sammlung jener altehrwürdigen Texte nicht etwa literarische oder antiquarische,
sondern lediglich erzieherische Gesichtspunkte im Auge hatte, geht aus der Tat¬
sache hervor, daß er nur solche Texte aufnahm, die ihm für seine Zwecke
geeignet erschienen.

Ein eigenes Lehrsystem hat Konfuzius nicht hinterlassen. Eine Sammlung
kurzer, meist aphoristischer Aussprüche, die von seinen Schülern veranstaltet wurde,
bildet die einzige authentische Quelle für die Kenntnis seiner Lehren, die fast
nie über das Gebiet ethischer und politischer Fragen hinausgehen und auch
ihrerseits in: wesentlichen in den Überlieferungen des Altertums wurzeln.

Die Grundlage des ganzen sittlichen Lebens ist nach Konfuzius das Kiao,
ein Terminus, der das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern, speziell
gegenüber dem Vater ausdrückt und den Begriff der kindlichen Liebe mit den:
des Gehorsams in sich vereinigt. Die kindliche Pietät, die ihrerseits den von
alters her in China geltenden Grundsatz von der unumschränkten väterlichen
Gewalt zur Voraussetzung hat, ist die ethische Grundlage der Familie sowohl
wie des Staates und zugleich die Wurzel der beiden konfuzianischen Kardinal¬
tugenden: Menschlichkeit und Gerechtigkeit.

Der Begriff der Menschlichkeit spielt in der konfuzianischen Ethik eine so
hervorragende Rolle, daß es wichtig ist zu wissen, in welchem Sinne er auf¬
zufassen sei.

Konfuzius ist ein viel zu nüchterner Kenner der menschlichen Natur, um
in seinen sittlichen Forderungen Unerreichbares von ihr zu verlangen. Sein
Gebot der Menschlichkeit deckt sich daher auch nicht etwa mit dem christlichen der
Nächstenliebe: vielmehr bleibt der Begriff des Nächsten streng auf den engen
Kreis der Blutsverwandten beschränkt. Im Verhalten zu den Mitmenschen aber


Grenzboten III 1911 Is
Bausteine der chinesischen Kultur

chinesischen Denken wie auch der nationalen Literatur den Stempel seines Geistes
aufgedrückt hat; auch sein Charakter zeichnet sich mehr durch Lauterkeit und
sittlichen Ernst als durch Größe aus; wohl aber war er groß als der Erzieher
seines Volkes, und dies ist das punctum saliens, das für die Würdigung
seiner Bedeutung für das chinesische Geistesleben ausschlaggebend ist. Triebfeder
und Ziel seines ganzen Wirkens war einzig und allein die sittliche und politische
Hebung seines Volkes; den Weg aber, der zu diesem Ziele führte, erblickte
Konfuzius in der Umkehr zu den monarchisch-patriarchalischen Lebensformen des
Altertums. Man könnte ihn daher wohl mit einigem Recht als Romantiker
bezeichnen und etwa mit I. I. Rousseau vergleichen, — nur freilich mit dem
wesentlichen Unterschiede, daß ihm nicht wie jenem ein auf bloßen Voraussetzungen
beruhender fiktiver Naturzustand vorschwebte, sondern eine durch die Überlieferung
bezeugte, also geschichtlich gegebene Kulturepoche.

Indem er die alten Überlieferungen, prosaische sowohl wie poetische,
sammelte, sichtete und zu einen: Ganzen vereinigte, schuf er seinen: Volke eine
nationale Literatur, und die kanonischen Bücher, wie er sie redigiert hat, bilden
heute noch das geistige Gemeingut der Nation. Daß Konfuzius jedoch bei der
Sammlung jener altehrwürdigen Texte nicht etwa literarische oder antiquarische,
sondern lediglich erzieherische Gesichtspunkte im Auge hatte, geht aus der Tat¬
sache hervor, daß er nur solche Texte aufnahm, die ihm für seine Zwecke
geeignet erschienen.

Ein eigenes Lehrsystem hat Konfuzius nicht hinterlassen. Eine Sammlung
kurzer, meist aphoristischer Aussprüche, die von seinen Schülern veranstaltet wurde,
bildet die einzige authentische Quelle für die Kenntnis seiner Lehren, die fast
nie über das Gebiet ethischer und politischer Fragen hinausgehen und auch
ihrerseits in: wesentlichen in den Überlieferungen des Altertums wurzeln.

Die Grundlage des ganzen sittlichen Lebens ist nach Konfuzius das Kiao,
ein Terminus, der das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern, speziell
gegenüber dem Vater ausdrückt und den Begriff der kindlichen Liebe mit den:
des Gehorsams in sich vereinigt. Die kindliche Pietät, die ihrerseits den von
alters her in China geltenden Grundsatz von der unumschränkten väterlichen
Gewalt zur Voraussetzung hat, ist die ethische Grundlage der Familie sowohl
wie des Staates und zugleich die Wurzel der beiden konfuzianischen Kardinal¬
tugenden: Menschlichkeit und Gerechtigkeit.

Der Begriff der Menschlichkeit spielt in der konfuzianischen Ethik eine so
hervorragende Rolle, daß es wichtig ist zu wissen, in welchem Sinne er auf¬
zufassen sei.

Konfuzius ist ein viel zu nüchterner Kenner der menschlichen Natur, um
in seinen sittlichen Forderungen Unerreichbares von ihr zu verlangen. Sein
Gebot der Menschlichkeit deckt sich daher auch nicht etwa mit dem christlichen der
Nächstenliebe: vielmehr bleibt der Begriff des Nächsten streng auf den engen
Kreis der Blutsverwandten beschränkt. Im Verhalten zu den Mitmenschen aber


Grenzboten III 1911 Is
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[0125] Bausteine der chinesischen Kultur chinesischen Denken wie auch der nationalen Literatur den Stempel seines Geistes aufgedrückt hat; auch sein Charakter zeichnet sich mehr durch Lauterkeit und sittlichen Ernst als durch Größe aus; wohl aber war er groß als der Erzieher seines Volkes, und dies ist das punctum saliens, das für die Würdigung seiner Bedeutung für das chinesische Geistesleben ausschlaggebend ist. Triebfeder und Ziel seines ganzen Wirkens war einzig und allein die sittliche und politische Hebung seines Volkes; den Weg aber, der zu diesem Ziele führte, erblickte Konfuzius in der Umkehr zu den monarchisch-patriarchalischen Lebensformen des Altertums. Man könnte ihn daher wohl mit einigem Recht als Romantiker bezeichnen und etwa mit I. I. Rousseau vergleichen, — nur freilich mit dem wesentlichen Unterschiede, daß ihm nicht wie jenem ein auf bloßen Voraussetzungen beruhender fiktiver Naturzustand vorschwebte, sondern eine durch die Überlieferung bezeugte, also geschichtlich gegebene Kulturepoche. Indem er die alten Überlieferungen, prosaische sowohl wie poetische, sammelte, sichtete und zu einen: Ganzen vereinigte, schuf er seinen: Volke eine nationale Literatur, und die kanonischen Bücher, wie er sie redigiert hat, bilden heute noch das geistige Gemeingut der Nation. Daß Konfuzius jedoch bei der Sammlung jener altehrwürdigen Texte nicht etwa literarische oder antiquarische, sondern lediglich erzieherische Gesichtspunkte im Auge hatte, geht aus der Tat¬ sache hervor, daß er nur solche Texte aufnahm, die ihm für seine Zwecke geeignet erschienen. Ein eigenes Lehrsystem hat Konfuzius nicht hinterlassen. Eine Sammlung kurzer, meist aphoristischer Aussprüche, die von seinen Schülern veranstaltet wurde, bildet die einzige authentische Quelle für die Kenntnis seiner Lehren, die fast nie über das Gebiet ethischer und politischer Fragen hinausgehen und auch ihrerseits in: wesentlichen in den Überlieferungen des Altertums wurzeln. Die Grundlage des ganzen sittlichen Lebens ist nach Konfuzius das Kiao, ein Terminus, der das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern, speziell gegenüber dem Vater ausdrückt und den Begriff der kindlichen Liebe mit den: des Gehorsams in sich vereinigt. Die kindliche Pietät, die ihrerseits den von alters her in China geltenden Grundsatz von der unumschränkten väterlichen Gewalt zur Voraussetzung hat, ist die ethische Grundlage der Familie sowohl wie des Staates und zugleich die Wurzel der beiden konfuzianischen Kardinal¬ tugenden: Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Der Begriff der Menschlichkeit spielt in der konfuzianischen Ethik eine so hervorragende Rolle, daß es wichtig ist zu wissen, in welchem Sinne er auf¬ zufassen sei. Konfuzius ist ein viel zu nüchterner Kenner der menschlichen Natur, um in seinen sittlichen Forderungen Unerreichbares von ihr zu verlangen. Sein Gebot der Menschlichkeit deckt sich daher auch nicht etwa mit dem christlichen der Nächstenliebe: vielmehr bleibt der Begriff des Nächsten streng auf den engen Kreis der Blutsverwandten beschränkt. Im Verhalten zu den Mitmenschen aber Grenzboten III 1911 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/125>, abgerufen am 09.01.2025.