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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

Worte das Banner des Sturms, so zündete das zweite wie ein elektrischer Funke,
der in eine Mine gefallen war.

"Auf nach Carcassone, Bettler des SüdensI" war der Schlachtruf, der eine
Million Menschen in dem Städtchen Rouquiös vereinigen sollte.

Keine Reden mehr, sondern Taten! Irgend etwas mußte geschehen. Eine
Torheit war besser als nichts.

Als man sich nach einerrettenden "Tat" umsah, hatte Richard einen glänzenden
Einfall, eine Erleuchtung. Natürlich, Richard, der Denker! Alles, was irgendwie
Sinn hatte, trug den geistigen Stempel Richards.

"Freunde, Bürger, Leidensgefährten! Die Bahnverwaltung muß uns
Bettlern des Südens ermäßigte Fahrt nach Carcassone gewähren!"

Wein hätte dieser Gedanke nicht sofort eingeleuchtet? O, man hatte hellen
Verstand in Perpignan! Natürlich, Kinder, das ist doch selbstverständlich! Das
hätte man eigentlich schon längst verlangen dürfen!

Die drohenden Haufen wälzten sich zum Bahngebüude, aber der Vorstand
schüttelte den Kopf und sagte: "Mit welchem Recht? Habt ihr eine Legitimation,
eine Anweisung auf ermäßigte Plätze? Wenn nicht, dann gilt der volle Preis,
wie ihn jeder bezahlen muß."

Die Menge begann zu toben und machte Anstalten, den Bahnhof zu zerstören.
Das Volk will Taten sehen!

Vater Marcellin war im rechten Augenblick zur Stelle, wehrte ab, ermahnte,
beschwor, gebot Aufrechterhalten der Ordnung.

"Du hast die Tat gepredigt, Marcellin!" hielten ihm einige vorwurfsvoll
entgegen. "Was störst du uns nun?"

Es gelang schließlich Marcellin, des Sturmes Herr zu werden. Wird es dir
immer gelingen, Apostel Marcellin? Der Gedanke stieg in seiner Seele auf wie
eine dunkle Wolke.

Richard sah untätig zu . .. Aber sein Gesicht funkelte vor heimlicher
Genugtuung.

Man kam glücklich nach Carcassone. Von allen Seiten liefen menschen¬
bepackte Züge ein. Es war wie Josaphat, das Tal des Lebens, alle mußten dieses
Weges kommen. Man zählte hunderttausend, fünfmalhunderttausend, achtmal-
hunderttcmscnd, eine Million, über eine Million, nahe an zwei Millionen!

Ein Kreuzzug von nahezu zwei Millionen Menschen und Marcellin der
unumschränkte Gebieter dieser zwei Millionen! Aber in seiner Seele stand eine
dunkle Wolke!

Doch siehe! Die Weinlese stand vor der Tür, und dennoch schien der junge
Frühling wiedergekehrt. So weit man sah, Menschen über Menschen und alles
schneeweiß-rosenrot. Blüten über Blüten! Blühende Mandelbäume I Jeder trug
hoch einen künstlichen Strauß aus Mandelbaumblüten. Es war die Antwort auf
den Vorschlag des Präfekten in Perpignan. Eine unsägliche Heiterkeit ging über
das Menschenfett, endlos hinrollende Lachsalven und ironische Begrüßungsrufe
empfingen jeden neu ankommenden Zug, der Mandelbaumblüten einhertrug.

Wieder stand Marcellin auf dem Dach eines Hauses, neben ihm Rouquie
und Francillon, und die Menge lauschte den begeisternden Reden. Neuerlich ließ
Marcellin den Schwur tun, einig zu bleiben und nicht nachzulassen in der Ver-


Der rote Rausch

Worte das Banner des Sturms, so zündete das zweite wie ein elektrischer Funke,
der in eine Mine gefallen war.

„Auf nach Carcassone, Bettler des SüdensI" war der Schlachtruf, der eine
Million Menschen in dem Städtchen Rouquiös vereinigen sollte.

Keine Reden mehr, sondern Taten! Irgend etwas mußte geschehen. Eine
Torheit war besser als nichts.

Als man sich nach einerrettenden „Tat" umsah, hatte Richard einen glänzenden
Einfall, eine Erleuchtung. Natürlich, Richard, der Denker! Alles, was irgendwie
Sinn hatte, trug den geistigen Stempel Richards.

„Freunde, Bürger, Leidensgefährten! Die Bahnverwaltung muß uns
Bettlern des Südens ermäßigte Fahrt nach Carcassone gewähren!"

Wein hätte dieser Gedanke nicht sofort eingeleuchtet? O, man hatte hellen
Verstand in Perpignan! Natürlich, Kinder, das ist doch selbstverständlich! Das
hätte man eigentlich schon längst verlangen dürfen!

Die drohenden Haufen wälzten sich zum Bahngebüude, aber der Vorstand
schüttelte den Kopf und sagte: „Mit welchem Recht? Habt ihr eine Legitimation,
eine Anweisung auf ermäßigte Plätze? Wenn nicht, dann gilt der volle Preis,
wie ihn jeder bezahlen muß."

Die Menge begann zu toben und machte Anstalten, den Bahnhof zu zerstören.
Das Volk will Taten sehen!

Vater Marcellin war im rechten Augenblick zur Stelle, wehrte ab, ermahnte,
beschwor, gebot Aufrechterhalten der Ordnung.

„Du hast die Tat gepredigt, Marcellin!" hielten ihm einige vorwurfsvoll
entgegen. „Was störst du uns nun?"

Es gelang schließlich Marcellin, des Sturmes Herr zu werden. Wird es dir
immer gelingen, Apostel Marcellin? Der Gedanke stieg in seiner Seele auf wie
eine dunkle Wolke.

Richard sah untätig zu . .. Aber sein Gesicht funkelte vor heimlicher
Genugtuung.

Man kam glücklich nach Carcassone. Von allen Seiten liefen menschen¬
bepackte Züge ein. Es war wie Josaphat, das Tal des Lebens, alle mußten dieses
Weges kommen. Man zählte hunderttausend, fünfmalhunderttausend, achtmal-
hunderttcmscnd, eine Million, über eine Million, nahe an zwei Millionen!

Ein Kreuzzug von nahezu zwei Millionen Menschen und Marcellin der
unumschränkte Gebieter dieser zwei Millionen! Aber in seiner Seele stand eine
dunkle Wolke!

Doch siehe! Die Weinlese stand vor der Tür, und dennoch schien der junge
Frühling wiedergekehrt. So weit man sah, Menschen über Menschen und alles
schneeweiß-rosenrot. Blüten über Blüten! Blühende Mandelbäume I Jeder trug
hoch einen künstlichen Strauß aus Mandelbaumblüten. Es war die Antwort auf
den Vorschlag des Präfekten in Perpignan. Eine unsägliche Heiterkeit ging über
das Menschenfett, endlos hinrollende Lachsalven und ironische Begrüßungsrufe
empfingen jeden neu ankommenden Zug, der Mandelbaumblüten einhertrug.

Wieder stand Marcellin auf dem Dach eines Hauses, neben ihm Rouquie
und Francillon, und die Menge lauschte den begeisternden Reden. Neuerlich ließ
Marcellin den Schwur tun, einig zu bleiben und nicht nachzulassen in der Ver-


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[0084] Der rote Rausch Worte das Banner des Sturms, so zündete das zweite wie ein elektrischer Funke, der in eine Mine gefallen war. „Auf nach Carcassone, Bettler des SüdensI" war der Schlachtruf, der eine Million Menschen in dem Städtchen Rouquiös vereinigen sollte. Keine Reden mehr, sondern Taten! Irgend etwas mußte geschehen. Eine Torheit war besser als nichts. Als man sich nach einerrettenden „Tat" umsah, hatte Richard einen glänzenden Einfall, eine Erleuchtung. Natürlich, Richard, der Denker! Alles, was irgendwie Sinn hatte, trug den geistigen Stempel Richards. „Freunde, Bürger, Leidensgefährten! Die Bahnverwaltung muß uns Bettlern des Südens ermäßigte Fahrt nach Carcassone gewähren!" Wein hätte dieser Gedanke nicht sofort eingeleuchtet? O, man hatte hellen Verstand in Perpignan! Natürlich, Kinder, das ist doch selbstverständlich! Das hätte man eigentlich schon längst verlangen dürfen! Die drohenden Haufen wälzten sich zum Bahngebüude, aber der Vorstand schüttelte den Kopf und sagte: „Mit welchem Recht? Habt ihr eine Legitimation, eine Anweisung auf ermäßigte Plätze? Wenn nicht, dann gilt der volle Preis, wie ihn jeder bezahlen muß." Die Menge begann zu toben und machte Anstalten, den Bahnhof zu zerstören. Das Volk will Taten sehen! Vater Marcellin war im rechten Augenblick zur Stelle, wehrte ab, ermahnte, beschwor, gebot Aufrechterhalten der Ordnung. „Du hast die Tat gepredigt, Marcellin!" hielten ihm einige vorwurfsvoll entgegen. „Was störst du uns nun?" Es gelang schließlich Marcellin, des Sturmes Herr zu werden. Wird es dir immer gelingen, Apostel Marcellin? Der Gedanke stieg in seiner Seele auf wie eine dunkle Wolke. Richard sah untätig zu . .. Aber sein Gesicht funkelte vor heimlicher Genugtuung. Man kam glücklich nach Carcassone. Von allen Seiten liefen menschen¬ bepackte Züge ein. Es war wie Josaphat, das Tal des Lebens, alle mußten dieses Weges kommen. Man zählte hunderttausend, fünfmalhunderttausend, achtmal- hunderttcmscnd, eine Million, über eine Million, nahe an zwei Millionen! Ein Kreuzzug von nahezu zwei Millionen Menschen und Marcellin der unumschränkte Gebieter dieser zwei Millionen! Aber in seiner Seele stand eine dunkle Wolke! Doch siehe! Die Weinlese stand vor der Tür, und dennoch schien der junge Frühling wiedergekehrt. So weit man sah, Menschen über Menschen und alles schneeweiß-rosenrot. Blüten über Blüten! Blühende Mandelbäume I Jeder trug hoch einen künstlichen Strauß aus Mandelbaumblüten. Es war die Antwort auf den Vorschlag des Präfekten in Perpignan. Eine unsägliche Heiterkeit ging über das Menschenfett, endlos hinrollende Lachsalven und ironische Begrüßungsrufe empfingen jeden neu ankommenden Zug, der Mandelbaumblüten einhertrug. Wieder stand Marcellin auf dem Dach eines Hauses, neben ihm Rouquie und Francillon, und die Menge lauschte den begeisternden Reden. Neuerlich ließ Marcellin den Schwur tun, einig zu bleiben und nicht nachzulassen in der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/84>, abgerufen am 29.06.2024.