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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

folgung des vorgesteckten Ziels. Musik, Fahnenschwingen, weihevolle Ergriffenheit,
Massenschwur, ans Religiöse grenzender Fanatismus, Handlungen von sym¬
bolischer Kraft.

Rouquie erinnerte an das der Regierung gestellte Ultimatum, an die
allgemeine Steuerverweigerung und an den Massenstreik der Bürgermeister und
Gemeinderäte.

Da riß Francillon die blau-weiß-rote Schärpe, die er als Gemeindevorstands¬
mitglied trug, von der Brust herab, als Protest gegen die Untätigkeit der
Regierung, und schleuderte das Band in die Menge, die es unter tobenden
Beifallslärm in Fetzen zerriß.

Fast zu gleicher Zeit ließ Rouquie auf dem Rathaus die schwarze Fahne
bisher, und damit war die Zeremonie der Amtsniederlegung der Gemeinde-
vberhäupter in den Weindistrikten vollzogen.

Die Anarchie war über den Midi verhängt.

Jeden Augenblick war eine Gewalttat zu befürchten. Marcellin, wirst du die
Macht haben, die fessellosen Gemüter zu meistern?

"Revolution! Auf nach Paris! Nieder mit der Regierung!" schrie die Menge.
Marcellin setzte einen Waffenstillstand durch und erklärte nach einer kurzem fliegenden
Sitzung des Komitees, daß vorerst die Führer den Ministerpräsidenten persönlich
ernähren wollten, den Unwillen des Volkes nicht länger zu versuchen und beizeiten
mit den verlangten Garantien herauszurücken, ehe es zu spät sei! Der Vorschlag
fand nur geteilten Beifall.

Keine Reden mehr, Taten! Das Volk will Taten sehen! Immerhin waren
diesmal die besonnenen Elemente in der Übermacht, und der Tag verlief ohne
allzu gefährliche Ausschreitungen. Was aber stand in der nächsten Versammlung
bkvor? Nein, nein, etwas zugunsten der Sache muß geschehen. Die Regierung
kann angesichts der kritischen Lage nicht anders, sie wird, sie muß dem Druck
nachgeben. Aber in der Seele Marcellins stand eine dunkle Wolke.

Der Tag der Reise wurde festgesetzt. Sie konnte nicht sofort geschehen. Die
Weinlese stand ja unmittelbar bevor. Und der Wein lag noch unverkauft in den
Kellern. Keine Geblüte, keine Räume waren vorhanden, den neuen Segen zu
fassen. Wenn kein Wunder geschieht. ... Es ist fürchterlich! Die besonnenen
Männer, die Häupter der Bewegung mußten jetzt am Orte sein, gerade jetzt, wo
die schwerste Prüfung kam.

Überproduktion! Der alte Gott, der mit voller Hand den Segen über diese
Hügel ergoß, ward von den neuen Lebensmächten abgesetzt. Er konnte es nach
den Gesetzen der Volkswirtschaft dieser Menschheit nicht mehr recht machen. Er
beging einen schweren Rechenfehler: Überproduktion! Und der Segen verwandelte
sich in einen Fluch. Der süße Rausch schlief an den belaubten Hügeln, er begann,
sich die schwarzen Rabenaugen zu reiben, er wollte erwachen und mit all seiner
berückenden Kraft und seinem Glück ins Tal hinabsteigen, sich selbst den Menschen
zu bringen und die Freude zu entzünden.

WeinlesezeitI Wieder war der Herbst gekommen, eine mild lächelnde Frau,
in das makellose Blau des Himmels gehüllt wie in einen Muttergottesmantel,
wieder leuchtete das Sonnenglück von den Höhen herab, wieder wollte die Erde
das Kostbarste geben, das sie hervorzubringen vermochte. Dieses rote Blut der


Grenzboten II 1911 10
Der rote Rausch

folgung des vorgesteckten Ziels. Musik, Fahnenschwingen, weihevolle Ergriffenheit,
Massenschwur, ans Religiöse grenzender Fanatismus, Handlungen von sym¬
bolischer Kraft.

Rouquie erinnerte an das der Regierung gestellte Ultimatum, an die
allgemeine Steuerverweigerung und an den Massenstreik der Bürgermeister und
Gemeinderäte.

Da riß Francillon die blau-weiß-rote Schärpe, die er als Gemeindevorstands¬
mitglied trug, von der Brust herab, als Protest gegen die Untätigkeit der
Regierung, und schleuderte das Band in die Menge, die es unter tobenden
Beifallslärm in Fetzen zerriß.

Fast zu gleicher Zeit ließ Rouquie auf dem Rathaus die schwarze Fahne
bisher, und damit war die Zeremonie der Amtsniederlegung der Gemeinde-
vberhäupter in den Weindistrikten vollzogen.

Die Anarchie war über den Midi verhängt.

Jeden Augenblick war eine Gewalttat zu befürchten. Marcellin, wirst du die
Macht haben, die fessellosen Gemüter zu meistern?

„Revolution! Auf nach Paris! Nieder mit der Regierung!" schrie die Menge.
Marcellin setzte einen Waffenstillstand durch und erklärte nach einer kurzem fliegenden
Sitzung des Komitees, daß vorerst die Führer den Ministerpräsidenten persönlich
ernähren wollten, den Unwillen des Volkes nicht länger zu versuchen und beizeiten
mit den verlangten Garantien herauszurücken, ehe es zu spät sei! Der Vorschlag
fand nur geteilten Beifall.

Keine Reden mehr, Taten! Das Volk will Taten sehen! Immerhin waren
diesmal die besonnenen Elemente in der Übermacht, und der Tag verlief ohne
allzu gefährliche Ausschreitungen. Was aber stand in der nächsten Versammlung
bkvor? Nein, nein, etwas zugunsten der Sache muß geschehen. Die Regierung
kann angesichts der kritischen Lage nicht anders, sie wird, sie muß dem Druck
nachgeben. Aber in der Seele Marcellins stand eine dunkle Wolke.

Der Tag der Reise wurde festgesetzt. Sie konnte nicht sofort geschehen. Die
Weinlese stand ja unmittelbar bevor. Und der Wein lag noch unverkauft in den
Kellern. Keine Geblüte, keine Räume waren vorhanden, den neuen Segen zu
fassen. Wenn kein Wunder geschieht. ... Es ist fürchterlich! Die besonnenen
Männer, die Häupter der Bewegung mußten jetzt am Orte sein, gerade jetzt, wo
die schwerste Prüfung kam.

Überproduktion! Der alte Gott, der mit voller Hand den Segen über diese
Hügel ergoß, ward von den neuen Lebensmächten abgesetzt. Er konnte es nach
den Gesetzen der Volkswirtschaft dieser Menschheit nicht mehr recht machen. Er
beging einen schweren Rechenfehler: Überproduktion! Und der Segen verwandelte
sich in einen Fluch. Der süße Rausch schlief an den belaubten Hügeln, er begann,
sich die schwarzen Rabenaugen zu reiben, er wollte erwachen und mit all seiner
berückenden Kraft und seinem Glück ins Tal hinabsteigen, sich selbst den Menschen
zu bringen und die Freude zu entzünden.

WeinlesezeitI Wieder war der Herbst gekommen, eine mild lächelnde Frau,
in das makellose Blau des Himmels gehüllt wie in einen Muttergottesmantel,
wieder leuchtete das Sonnenglück von den Höhen herab, wieder wollte die Erde
das Kostbarste geben, das sie hervorzubringen vermochte. Dieses rote Blut der


Grenzboten II 1911 10
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[0085] Der rote Rausch folgung des vorgesteckten Ziels. Musik, Fahnenschwingen, weihevolle Ergriffenheit, Massenschwur, ans Religiöse grenzender Fanatismus, Handlungen von sym¬ bolischer Kraft. Rouquie erinnerte an das der Regierung gestellte Ultimatum, an die allgemeine Steuerverweigerung und an den Massenstreik der Bürgermeister und Gemeinderäte. Da riß Francillon die blau-weiß-rote Schärpe, die er als Gemeindevorstands¬ mitglied trug, von der Brust herab, als Protest gegen die Untätigkeit der Regierung, und schleuderte das Band in die Menge, die es unter tobenden Beifallslärm in Fetzen zerriß. Fast zu gleicher Zeit ließ Rouquie auf dem Rathaus die schwarze Fahne bisher, und damit war die Zeremonie der Amtsniederlegung der Gemeinde- vberhäupter in den Weindistrikten vollzogen. Die Anarchie war über den Midi verhängt. Jeden Augenblick war eine Gewalttat zu befürchten. Marcellin, wirst du die Macht haben, die fessellosen Gemüter zu meistern? „Revolution! Auf nach Paris! Nieder mit der Regierung!" schrie die Menge. Marcellin setzte einen Waffenstillstand durch und erklärte nach einer kurzem fliegenden Sitzung des Komitees, daß vorerst die Führer den Ministerpräsidenten persönlich ernähren wollten, den Unwillen des Volkes nicht länger zu versuchen und beizeiten mit den verlangten Garantien herauszurücken, ehe es zu spät sei! Der Vorschlag fand nur geteilten Beifall. Keine Reden mehr, Taten! Das Volk will Taten sehen! Immerhin waren diesmal die besonnenen Elemente in der Übermacht, und der Tag verlief ohne allzu gefährliche Ausschreitungen. Was aber stand in der nächsten Versammlung bkvor? Nein, nein, etwas zugunsten der Sache muß geschehen. Die Regierung kann angesichts der kritischen Lage nicht anders, sie wird, sie muß dem Druck nachgeben. Aber in der Seele Marcellins stand eine dunkle Wolke. Der Tag der Reise wurde festgesetzt. Sie konnte nicht sofort geschehen. Die Weinlese stand ja unmittelbar bevor. Und der Wein lag noch unverkauft in den Kellern. Keine Geblüte, keine Räume waren vorhanden, den neuen Segen zu fassen. Wenn kein Wunder geschieht. ... Es ist fürchterlich! Die besonnenen Männer, die Häupter der Bewegung mußten jetzt am Orte sein, gerade jetzt, wo die schwerste Prüfung kam. Überproduktion! Der alte Gott, der mit voller Hand den Segen über diese Hügel ergoß, ward von den neuen Lebensmächten abgesetzt. Er konnte es nach den Gesetzen der Volkswirtschaft dieser Menschheit nicht mehr recht machen. Er beging einen schweren Rechenfehler: Überproduktion! Und der Segen verwandelte sich in einen Fluch. Der süße Rausch schlief an den belaubten Hügeln, er begann, sich die schwarzen Rabenaugen zu reiben, er wollte erwachen und mit all seiner berückenden Kraft und seinem Glück ins Tal hinabsteigen, sich selbst den Menschen zu bringen und die Freude zu entzünden. WeinlesezeitI Wieder war der Herbst gekommen, eine mild lächelnde Frau, in das makellose Blau des Himmels gehüllt wie in einen Muttergottesmantel, wieder leuchtete das Sonnenglück von den Höhen herab, wieder wollte die Erde das Kostbarste geben, das sie hervorzubringen vermochte. Dieses rote Blut der Grenzboten II 1911 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/85>, abgerufen am 26.06.2024.