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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkenntnis und Weltanschauung

kann. Sehr viel dringlicher ist die Erledigung des anderen Endrätsels, wie der
Übergang vom Tier zum Menschen zu erklären sei. Denn offenbar fehlt den:
Gebäude der mechanischen Weltauffassung, die alle Dinge in eine kontinuierliche
Kette von Ursache und Wirkung einreihen will, der Schlußstein, solange der
menschliche Geist, die menschliche Seele sich nicht mit den Erscheinungen der
sinnlich wahrnehmbaren Welt in Verbindung bringen läßt.

Um die Frage zu vereinfachen, hat man zunächst einmal die geistigen
Unterschiede beiseite gelassen und sich bemüht, nachzuweisen, daß der Mensch
körperlich vom Tiere, speziell den ihm ähnlichsten Tieren, den Affen, abstamme.
Der ganze große Apparat entwicklungsgeschichtlicher und vergleichend morpho¬
logischer Forschungsresultate ist aufgeboten worden, um den Nachweis zu führen,
und wenn man einen Blick in Häckels Welträtsel tut, dann hat man den ganzen
Stammbaum des Menschen klar vor Augen. Namentlich gewann die Lehre von
der Affenabstammung an Sicherheit, als 1894 bei Trinit auf Java in anscheinend
tertiären Schichten Knochenreste gefunden wurden, aus denen sich der vorwelt¬
liche Affenmensch (pitKeKanttiropuZ ereetu8) rekonstruieren ließ. Er wurde als
das lange gesuchte Bindeglied zwischen Mensch und Affe freudig begrüßt und
figuriert auch jetzt noch in den Welträtseln als Hauptstützpunkt der ganzen
Affenlehre.

Die letzten sechzehn Jahre haben aber auch hier eine Ernüchterung gebracht.
Genauere Forschungen haben ergeben, daß der Pithekanthropus nicht vor dem
Menschen existiert hat, sondern zeitigstens mit ihm zugleich in jener Epoche,
die als Eiszeit bezeichnet wird. Ja, neuerdings ist sogar durch einen Knochen¬
fund bei Heidelberg nachgewiesen worden, daß der Mensch oder mindestens ein
gemeinsamer Vorfahre von Mensch und Affe schon viele tausend Jahre vor dem
Pithekanthropus im Tertiär gelebt hat, und endlich hat eine genauere Analyse
jener Knochenreste ergeben, daß der Affenmensch gar kein Mensch war, sondern
ein richtiger Affe vom Stamme der Gibbons. Auch noch auf anderem Wege
ist man dazu gelangt, die Abstammung des Menschen von: Affen zu verwerfen
und höchstens beide von gemeinsamen Vorfahren abzuleiten, von denen aller¬
dings der ebenerwähnte Heidelberger Unterkiefer ein Überrest zu sein scheint.

Wenn uns aber noch so überzeugend bewiesen werden sollte, daß zwischen
einem toten Gorilla und einem toten Menschen nur unwesentliche Unterschiede
bestehen, so ist das noch keine Lösung, sondern eher eine Erschwerung des
Rätsels, warum die lebenden Vertreter beider Gattungen so himmelweit von¬
einander verschieden sind.

Zwei Wege sind eingeschlagen worden, um die Kluft zu überbrücken. Auf
der einen Seite hat man die Selbständigkeit des Geistigen dadurch zu beseitigen
gesucht, daß man alle geistigen Vorgänge als lediglich mechanisch chemische Um-
lagerungen im Gehirn auffaßte und die hohe geistige Stellung des Menschen
als nur durch die höhere Entwicklung des Gehirns bedingt hinstellte. Es gibt sehr
viele Tatsachen, die sich gegen die Auffassung geltend machen lassen, ohne daß


Naturerkenntnis und Weltanschauung

kann. Sehr viel dringlicher ist die Erledigung des anderen Endrätsels, wie der
Übergang vom Tier zum Menschen zu erklären sei. Denn offenbar fehlt den:
Gebäude der mechanischen Weltauffassung, die alle Dinge in eine kontinuierliche
Kette von Ursache und Wirkung einreihen will, der Schlußstein, solange der
menschliche Geist, die menschliche Seele sich nicht mit den Erscheinungen der
sinnlich wahrnehmbaren Welt in Verbindung bringen läßt.

Um die Frage zu vereinfachen, hat man zunächst einmal die geistigen
Unterschiede beiseite gelassen und sich bemüht, nachzuweisen, daß der Mensch
körperlich vom Tiere, speziell den ihm ähnlichsten Tieren, den Affen, abstamme.
Der ganze große Apparat entwicklungsgeschichtlicher und vergleichend morpho¬
logischer Forschungsresultate ist aufgeboten worden, um den Nachweis zu führen,
und wenn man einen Blick in Häckels Welträtsel tut, dann hat man den ganzen
Stammbaum des Menschen klar vor Augen. Namentlich gewann die Lehre von
der Affenabstammung an Sicherheit, als 1894 bei Trinit auf Java in anscheinend
tertiären Schichten Knochenreste gefunden wurden, aus denen sich der vorwelt¬
liche Affenmensch (pitKeKanttiropuZ ereetu8) rekonstruieren ließ. Er wurde als
das lange gesuchte Bindeglied zwischen Mensch und Affe freudig begrüßt und
figuriert auch jetzt noch in den Welträtseln als Hauptstützpunkt der ganzen
Affenlehre.

Die letzten sechzehn Jahre haben aber auch hier eine Ernüchterung gebracht.
Genauere Forschungen haben ergeben, daß der Pithekanthropus nicht vor dem
Menschen existiert hat, sondern zeitigstens mit ihm zugleich in jener Epoche,
die als Eiszeit bezeichnet wird. Ja, neuerdings ist sogar durch einen Knochen¬
fund bei Heidelberg nachgewiesen worden, daß der Mensch oder mindestens ein
gemeinsamer Vorfahre von Mensch und Affe schon viele tausend Jahre vor dem
Pithekanthropus im Tertiär gelebt hat, und endlich hat eine genauere Analyse
jener Knochenreste ergeben, daß der Affenmensch gar kein Mensch war, sondern
ein richtiger Affe vom Stamme der Gibbons. Auch noch auf anderem Wege
ist man dazu gelangt, die Abstammung des Menschen von: Affen zu verwerfen
und höchstens beide von gemeinsamen Vorfahren abzuleiten, von denen aller¬
dings der ebenerwähnte Heidelberger Unterkiefer ein Überrest zu sein scheint.

Wenn uns aber noch so überzeugend bewiesen werden sollte, daß zwischen
einem toten Gorilla und einem toten Menschen nur unwesentliche Unterschiede
bestehen, so ist das noch keine Lösung, sondern eher eine Erschwerung des
Rätsels, warum die lebenden Vertreter beider Gattungen so himmelweit von¬
einander verschieden sind.

Zwei Wege sind eingeschlagen worden, um die Kluft zu überbrücken. Auf
der einen Seite hat man die Selbständigkeit des Geistigen dadurch zu beseitigen
gesucht, daß man alle geistigen Vorgänge als lediglich mechanisch chemische Um-
lagerungen im Gehirn auffaßte und die hohe geistige Stellung des Menschen
als nur durch die höhere Entwicklung des Gehirns bedingt hinstellte. Es gibt sehr
viele Tatsachen, die sich gegen die Auffassung geltend machen lassen, ohne daß


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[0078] Naturerkenntnis und Weltanschauung kann. Sehr viel dringlicher ist die Erledigung des anderen Endrätsels, wie der Übergang vom Tier zum Menschen zu erklären sei. Denn offenbar fehlt den: Gebäude der mechanischen Weltauffassung, die alle Dinge in eine kontinuierliche Kette von Ursache und Wirkung einreihen will, der Schlußstein, solange der menschliche Geist, die menschliche Seele sich nicht mit den Erscheinungen der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Verbindung bringen läßt. Um die Frage zu vereinfachen, hat man zunächst einmal die geistigen Unterschiede beiseite gelassen und sich bemüht, nachzuweisen, daß der Mensch körperlich vom Tiere, speziell den ihm ähnlichsten Tieren, den Affen, abstamme. Der ganze große Apparat entwicklungsgeschichtlicher und vergleichend morpho¬ logischer Forschungsresultate ist aufgeboten worden, um den Nachweis zu führen, und wenn man einen Blick in Häckels Welträtsel tut, dann hat man den ganzen Stammbaum des Menschen klar vor Augen. Namentlich gewann die Lehre von der Affenabstammung an Sicherheit, als 1894 bei Trinit auf Java in anscheinend tertiären Schichten Knochenreste gefunden wurden, aus denen sich der vorwelt¬ liche Affenmensch (pitKeKanttiropuZ ereetu8) rekonstruieren ließ. Er wurde als das lange gesuchte Bindeglied zwischen Mensch und Affe freudig begrüßt und figuriert auch jetzt noch in den Welträtseln als Hauptstützpunkt der ganzen Affenlehre. Die letzten sechzehn Jahre haben aber auch hier eine Ernüchterung gebracht. Genauere Forschungen haben ergeben, daß der Pithekanthropus nicht vor dem Menschen existiert hat, sondern zeitigstens mit ihm zugleich in jener Epoche, die als Eiszeit bezeichnet wird. Ja, neuerdings ist sogar durch einen Knochen¬ fund bei Heidelberg nachgewiesen worden, daß der Mensch oder mindestens ein gemeinsamer Vorfahre von Mensch und Affe schon viele tausend Jahre vor dem Pithekanthropus im Tertiär gelebt hat, und endlich hat eine genauere Analyse jener Knochenreste ergeben, daß der Affenmensch gar kein Mensch war, sondern ein richtiger Affe vom Stamme der Gibbons. Auch noch auf anderem Wege ist man dazu gelangt, die Abstammung des Menschen von: Affen zu verwerfen und höchstens beide von gemeinsamen Vorfahren abzuleiten, von denen aller¬ dings der ebenerwähnte Heidelberger Unterkiefer ein Überrest zu sein scheint. Wenn uns aber noch so überzeugend bewiesen werden sollte, daß zwischen einem toten Gorilla und einem toten Menschen nur unwesentliche Unterschiede bestehen, so ist das noch keine Lösung, sondern eher eine Erschwerung des Rätsels, warum die lebenden Vertreter beider Gattungen so himmelweit von¬ einander verschieden sind. Zwei Wege sind eingeschlagen worden, um die Kluft zu überbrücken. Auf der einen Seite hat man die Selbständigkeit des Geistigen dadurch zu beseitigen gesucht, daß man alle geistigen Vorgänge als lediglich mechanisch chemische Um- lagerungen im Gehirn auffaßte und die hohe geistige Stellung des Menschen als nur durch die höhere Entwicklung des Gehirns bedingt hinstellte. Es gibt sehr viele Tatsachen, die sich gegen die Auffassung geltend machen lassen, ohne daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/78>, abgerufen am 03.07.2024.