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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkenntnis und Weltanschauung

gewissen Grade stattgehabte Umwandlung der Arten ins Feld geführt werden
können. Bekannt sind ja die allmählichen Übergänge vom dreizehigen zum ein-
zehigen Pferdehuf, die Verwandlungsreihen der Schnecke Planorbis und der
Ammoniten.

Ohne noch auf die großen theoretischen Schwierigkeiten eingehen zu können,
die die beiden Hauptgrundlagen des Darwinismus einer rein mechanischen Er¬
klärung darbieten, nämlich die Vererbung erworbener Eigenschaften und die
Auslese durch den Kampf ums Dasein, begnügen wir uns mit der Feststellung
der in Laienkreisen viel zu wenig bekannten Tatsache, daß es heutzutage kaum
noch einen Forscher gibt, der die Darwinsche Selektionshypothese als hinreichende
Erklärung für die Entwicklung der organischen Welt ansieht.

Erweist sich so die rein mechanisch kausale Welterklärung nicht einmal als
hinreichend, um die aufsteigende Entwicklung der Organismen vom Niederen
zum Höheren zu erklären, so steht es noch viel schlimmer mit den beiden End¬
punkten der Reihe, der Entstehung des Lebens überhaupt und dem Übergang
vom Tier zum Menschen.

Es gab eine schöne Zeit, als vor ungefähr vierzig Jahren Huxley den
sogenannten Bathvbius in den Tiefen des Ozeans aufgefunden hatte, eine
schleimige, träge kriechende Masse ohne jede Organisation. In ihm schien man
den Urtypus des Lebendigen gefaßt zu haben, jenen Punkt, wo nur noch ein
.kleiner Sprung die belebte Materie von der unbelebten trennt. -- Es schien
so. -- Leider aber erwies sich Bathnbius glorreichen Angedenkens als schon auf
der anderen Seite des Sprunges liegend, indem er sich als ein anorganischer
Niederschlag von schwefelsaurem Kalk entpuppte.

Seither ist keine Nachricht von sogenannter Urzeugung, d. h. der spontanen
Umwandlung von unbelebter Materie in belebte, aufgetaucht, die auch nur kurze
Zeit der Kritik standgehalten hätte, und je mehr man in die Feinheiten der
Organisation auch niederster Lebewesen eindringt, in um so nebelhaftere Fernen
rückt die Urzeugung.

Es gibt jetzt schon eine ganze Reihe bedeutender Forscher, die soweit von
der Unmöglichkeit der Urzeugung durchdrungen sind, daß sie auf die Erklärung
der Entstehung des Lebens auf der Erde ganz verzichten und dasselbe von
anderen Weltkörpern durch Vermittelung kleinster belebter Stäubchen auf die Erde
verschleppt sein lassen. So fein ausgearbeitet aber auch z. B. die Theorie des
Schweden Arrhenius ist, der dazu den Strahlungsdruck des Lichtes in geist¬
reicher Weise heranzieht, so ist doch nicht zu verkennen, daß dadurch nur der
Schauplatz des Problems verlegt, zu feiner Lösung aber nicht das mindeste bei¬
getragen wird.

Das Resultat der auf die Entstehung des Lebens gerichteten Studien heißt
eben nach wie vor trotz Häckel: lKnc"ÄMU8, wir Wissens nicht.

Nun ist ja die ganze Urzeugungsfrage mehr ein Problem für den Fach¬
gelehrten, dessen Lösung man daher getrost der einsichtigeren Zukunft überlassen


Grenzboton II 1911 S
Naturerkenntnis und Weltanschauung

gewissen Grade stattgehabte Umwandlung der Arten ins Feld geführt werden
können. Bekannt sind ja die allmählichen Übergänge vom dreizehigen zum ein-
zehigen Pferdehuf, die Verwandlungsreihen der Schnecke Planorbis und der
Ammoniten.

Ohne noch auf die großen theoretischen Schwierigkeiten eingehen zu können,
die die beiden Hauptgrundlagen des Darwinismus einer rein mechanischen Er¬
klärung darbieten, nämlich die Vererbung erworbener Eigenschaften und die
Auslese durch den Kampf ums Dasein, begnügen wir uns mit der Feststellung
der in Laienkreisen viel zu wenig bekannten Tatsache, daß es heutzutage kaum
noch einen Forscher gibt, der die Darwinsche Selektionshypothese als hinreichende
Erklärung für die Entwicklung der organischen Welt ansieht.

Erweist sich so die rein mechanisch kausale Welterklärung nicht einmal als
hinreichend, um die aufsteigende Entwicklung der Organismen vom Niederen
zum Höheren zu erklären, so steht es noch viel schlimmer mit den beiden End¬
punkten der Reihe, der Entstehung des Lebens überhaupt und dem Übergang
vom Tier zum Menschen.

Es gab eine schöne Zeit, als vor ungefähr vierzig Jahren Huxley den
sogenannten Bathvbius in den Tiefen des Ozeans aufgefunden hatte, eine
schleimige, träge kriechende Masse ohne jede Organisation. In ihm schien man
den Urtypus des Lebendigen gefaßt zu haben, jenen Punkt, wo nur noch ein
.kleiner Sprung die belebte Materie von der unbelebten trennt. — Es schien
so. — Leider aber erwies sich Bathnbius glorreichen Angedenkens als schon auf
der anderen Seite des Sprunges liegend, indem er sich als ein anorganischer
Niederschlag von schwefelsaurem Kalk entpuppte.

Seither ist keine Nachricht von sogenannter Urzeugung, d. h. der spontanen
Umwandlung von unbelebter Materie in belebte, aufgetaucht, die auch nur kurze
Zeit der Kritik standgehalten hätte, und je mehr man in die Feinheiten der
Organisation auch niederster Lebewesen eindringt, in um so nebelhaftere Fernen
rückt die Urzeugung.

Es gibt jetzt schon eine ganze Reihe bedeutender Forscher, die soweit von
der Unmöglichkeit der Urzeugung durchdrungen sind, daß sie auf die Erklärung
der Entstehung des Lebens auf der Erde ganz verzichten und dasselbe von
anderen Weltkörpern durch Vermittelung kleinster belebter Stäubchen auf die Erde
verschleppt sein lassen. So fein ausgearbeitet aber auch z. B. die Theorie des
Schweden Arrhenius ist, der dazu den Strahlungsdruck des Lichtes in geist¬
reicher Weise heranzieht, so ist doch nicht zu verkennen, daß dadurch nur der
Schauplatz des Problems verlegt, zu feiner Lösung aber nicht das mindeste bei¬
getragen wird.

Das Resultat der auf die Entstehung des Lebens gerichteten Studien heißt
eben nach wie vor trotz Häckel: lKnc»ÄMU8, wir Wissens nicht.

Nun ist ja die ganze Urzeugungsfrage mehr ein Problem für den Fach¬
gelehrten, dessen Lösung man daher getrost der einsichtigeren Zukunft überlassen


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[0077] Naturerkenntnis und Weltanschauung gewissen Grade stattgehabte Umwandlung der Arten ins Feld geführt werden können. Bekannt sind ja die allmählichen Übergänge vom dreizehigen zum ein- zehigen Pferdehuf, die Verwandlungsreihen der Schnecke Planorbis und der Ammoniten. Ohne noch auf die großen theoretischen Schwierigkeiten eingehen zu können, die die beiden Hauptgrundlagen des Darwinismus einer rein mechanischen Er¬ klärung darbieten, nämlich die Vererbung erworbener Eigenschaften und die Auslese durch den Kampf ums Dasein, begnügen wir uns mit der Feststellung der in Laienkreisen viel zu wenig bekannten Tatsache, daß es heutzutage kaum noch einen Forscher gibt, der die Darwinsche Selektionshypothese als hinreichende Erklärung für die Entwicklung der organischen Welt ansieht. Erweist sich so die rein mechanisch kausale Welterklärung nicht einmal als hinreichend, um die aufsteigende Entwicklung der Organismen vom Niederen zum Höheren zu erklären, so steht es noch viel schlimmer mit den beiden End¬ punkten der Reihe, der Entstehung des Lebens überhaupt und dem Übergang vom Tier zum Menschen. Es gab eine schöne Zeit, als vor ungefähr vierzig Jahren Huxley den sogenannten Bathvbius in den Tiefen des Ozeans aufgefunden hatte, eine schleimige, träge kriechende Masse ohne jede Organisation. In ihm schien man den Urtypus des Lebendigen gefaßt zu haben, jenen Punkt, wo nur noch ein .kleiner Sprung die belebte Materie von der unbelebten trennt. — Es schien so. — Leider aber erwies sich Bathnbius glorreichen Angedenkens als schon auf der anderen Seite des Sprunges liegend, indem er sich als ein anorganischer Niederschlag von schwefelsaurem Kalk entpuppte. Seither ist keine Nachricht von sogenannter Urzeugung, d. h. der spontanen Umwandlung von unbelebter Materie in belebte, aufgetaucht, die auch nur kurze Zeit der Kritik standgehalten hätte, und je mehr man in die Feinheiten der Organisation auch niederster Lebewesen eindringt, in um so nebelhaftere Fernen rückt die Urzeugung. Es gibt jetzt schon eine ganze Reihe bedeutender Forscher, die soweit von der Unmöglichkeit der Urzeugung durchdrungen sind, daß sie auf die Erklärung der Entstehung des Lebens auf der Erde ganz verzichten und dasselbe von anderen Weltkörpern durch Vermittelung kleinster belebter Stäubchen auf die Erde verschleppt sein lassen. So fein ausgearbeitet aber auch z. B. die Theorie des Schweden Arrhenius ist, der dazu den Strahlungsdruck des Lichtes in geist¬ reicher Weise heranzieht, so ist doch nicht zu verkennen, daß dadurch nur der Schauplatz des Problems verlegt, zu feiner Lösung aber nicht das mindeste bei¬ getragen wird. Das Resultat der auf die Entstehung des Lebens gerichteten Studien heißt eben nach wie vor trotz Häckel: lKnc»ÄMU8, wir Wissens nicht. Nun ist ja die ganze Urzeugungsfrage mehr ein Problem für den Fach¬ gelehrten, dessen Lösung man daher getrost der einsichtigeren Zukunft überlassen Grenzboton II 1911 S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/77>, abgerufen am 03.07.2024.