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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkcnntnis und !vcltanschauung

genetisch entstanden ansprechen kann. In neuererZeit sind bedeutende Embryologen,
an ihrer Spitze Oskar Hertwig, sogar dazu gelangt, die Richtigkeit der Theorie
völlig zu leugnen und alle Übereinstimmungen und Anklänge lediglich durch
den oben gekennzeichneten Umstand zu erklären, daß der gleiche Ausgangs- und
Endpunkt der Entwicklungsreihen in der Embryologie (Ontogmie) einerseits
und der vergleichenden Anatomie (Phylogenie) anderseits auch eine gewisse
Übereinstimmung der Zwischenstufen zeitigen müsse.

Wie dem auch sei, jedenfalls wird die Verwendbarkeit der Theorie durch
verschiedene Bedenken stark beeinträchtigt, und so spricht man auch heute fast
nur von einer biogenetischen Regel, während der Name biogenetisches Grund¬
gesetz als tendenziöse Entstellung von Tatsachen zu verwerfen ist.

Immerhin aber bleibt eine große Reihe von Erscheinungen bestehen, bei
denen man bis jetzt nur die Wahl hat, entweder auf eine Erklärung zu ver¬
zichten oder aber die Deszendenzlehre dafür herbeizuziehen. Tatsächlich gibt es
nur verschwindend wenige Forscher, die von Deszendenz, d. h. von der Um¬
wandlung einer Art in die andere, überhaupt nichts wissen wollen. Und für
eine Weltanschauung ist das im ganzen auch ziemlich gleichgültig, wie die Lebe¬
wesen entstanden sind, ob im Augenblick aus dem Anorganischen oder in lang¬
samer Entwicklung aus dem Niederen ins Höhere. Der Kampf tobt vielmehr
um die treibende Kraft, die das Werden hervorgerufen hat. Nach Darwin
ist das, wie schon gesagt, der Zufall, der in kleinen Schritten durch Variation
Zweckmäßiges und Unzweckmäßiges schafft-, letzteres merzt der Kampf ums
Dasein aus, ersteres wird durch Vererbung erhalten und weiter entwickelt.

Was diesen orthodoxen Darwinismus anlangt, so behauptet Dennert kaum
zu viel, wenn er sagt, er sei zu Grabe getragen worden. Was ihn widerlegt
hat, sind in erster Linie die Tatsachen der Paläontologie, die zu Darwins Zeiten
noch lange nicht in dem Umfange wie heute bekannt waren. Auch wenn man
sich zu der Annahme verstehen kann, die überall zutage tretende Zweckmäßigkeit
der organischen Welt sei in letzter Linie nur auf zufällige Variation zurück¬
zuführen, so müßten doch auf eine zweckmäßige Abänderung nach den Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung unzählige unzweckmäßige kommen, und von diesen
mißglückter Versuchen müßte uns die in den Versteinerungen deponierte Natur¬
urkunde doch irgend etwas aufbewahrt haben. Nichts davon ist zu finden.
Anderseits könnte man zum wenigsten erwarten, daß in geologisch und palä¬
ontologisch wohldurchforschteu Schichten vielfache Andeutungen und allmähliche
Anfänge von solchen Tierklassen aufgefunden würden, die im darauffolgenden
Zeitalter in großem Artenreichtum vorhanden sind; anch davon nichts! Wie zu
aller Anfang im Kambrium die hochorganisierten krebsartigen Trilobiten und
die Rankenfüßer vorläüferlos auftraten, so im Silnr die Haarsterne, im Devon
die Fische u. s. f.

Nicht eine einzige Tatsache spricht für Selektion in Darwins und Häckels
Sinne, so viele auch für Deszendenz, d. h. für eine wenigstens bis zu einem


Naturerkcnntnis und !vcltanschauung

genetisch entstanden ansprechen kann. In neuererZeit sind bedeutende Embryologen,
an ihrer Spitze Oskar Hertwig, sogar dazu gelangt, die Richtigkeit der Theorie
völlig zu leugnen und alle Übereinstimmungen und Anklänge lediglich durch
den oben gekennzeichneten Umstand zu erklären, daß der gleiche Ausgangs- und
Endpunkt der Entwicklungsreihen in der Embryologie (Ontogmie) einerseits
und der vergleichenden Anatomie (Phylogenie) anderseits auch eine gewisse
Übereinstimmung der Zwischenstufen zeitigen müsse.

Wie dem auch sei, jedenfalls wird die Verwendbarkeit der Theorie durch
verschiedene Bedenken stark beeinträchtigt, und so spricht man auch heute fast
nur von einer biogenetischen Regel, während der Name biogenetisches Grund¬
gesetz als tendenziöse Entstellung von Tatsachen zu verwerfen ist.

Immerhin aber bleibt eine große Reihe von Erscheinungen bestehen, bei
denen man bis jetzt nur die Wahl hat, entweder auf eine Erklärung zu ver¬
zichten oder aber die Deszendenzlehre dafür herbeizuziehen. Tatsächlich gibt es
nur verschwindend wenige Forscher, die von Deszendenz, d. h. von der Um¬
wandlung einer Art in die andere, überhaupt nichts wissen wollen. Und für
eine Weltanschauung ist das im ganzen auch ziemlich gleichgültig, wie die Lebe¬
wesen entstanden sind, ob im Augenblick aus dem Anorganischen oder in lang¬
samer Entwicklung aus dem Niederen ins Höhere. Der Kampf tobt vielmehr
um die treibende Kraft, die das Werden hervorgerufen hat. Nach Darwin
ist das, wie schon gesagt, der Zufall, der in kleinen Schritten durch Variation
Zweckmäßiges und Unzweckmäßiges schafft-, letzteres merzt der Kampf ums
Dasein aus, ersteres wird durch Vererbung erhalten und weiter entwickelt.

Was diesen orthodoxen Darwinismus anlangt, so behauptet Dennert kaum
zu viel, wenn er sagt, er sei zu Grabe getragen worden. Was ihn widerlegt
hat, sind in erster Linie die Tatsachen der Paläontologie, die zu Darwins Zeiten
noch lange nicht in dem Umfange wie heute bekannt waren. Auch wenn man
sich zu der Annahme verstehen kann, die überall zutage tretende Zweckmäßigkeit
der organischen Welt sei in letzter Linie nur auf zufällige Variation zurück¬
zuführen, so müßten doch auf eine zweckmäßige Abänderung nach den Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung unzählige unzweckmäßige kommen, und von diesen
mißglückter Versuchen müßte uns die in den Versteinerungen deponierte Natur¬
urkunde doch irgend etwas aufbewahrt haben. Nichts davon ist zu finden.
Anderseits könnte man zum wenigsten erwarten, daß in geologisch und palä¬
ontologisch wohldurchforschteu Schichten vielfache Andeutungen und allmähliche
Anfänge von solchen Tierklassen aufgefunden würden, die im darauffolgenden
Zeitalter in großem Artenreichtum vorhanden sind; anch davon nichts! Wie zu
aller Anfang im Kambrium die hochorganisierten krebsartigen Trilobiten und
die Rankenfüßer vorläüferlos auftraten, so im Silnr die Haarsterne, im Devon
die Fische u. s. f.

Nicht eine einzige Tatsache spricht für Selektion in Darwins und Häckels
Sinne, so viele auch für Deszendenz, d. h. für eine wenigstens bis zu einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/76>, abgerufen am 03.07.2024.