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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rußlands Lage und Aufgaben im fernen kosten

den Grundsätzen europäischer Zivilisation und Finanzgebarung, in seiner Mehrzahl
sogar jeder kleinen Neuerung völlig abhold. Er steht sein eigenes Interesse
darin, die im Lauf der Jahrhunderte im Chinesen großgezogene Hinneigung
zum Alten und Überlieferten, zur blinden Verehrung einer überlebten Kultur
auszunutzen. Und diese Elemente stehen einer für den anderen ein. Noch ist
ihre Kraft nicht gebrochen, sie tönt laut und gewichtig vor den Stufen des
Thrones. Ferner auch fehlt die Einheit des politischen Sinnes, denn selbst das
eigentliche China ist nicht einheitlich bevölkert und teilt sich deutlich in einen
Norden und Süden, die beide nach dem Charakter ihrer Bevölkerung und nach
ihrer Aufnahmefähigkeit europäischer Zivilisation gegenüber gründlich verschieden
sind. Während der Süden fortschrittlichen Bewegungen zuneigt, ist der Norden
reformfeindlich. Hier gibt es nicht wenig gewichtige Persönlichkeiten, die zu einer
schonungsloser Ausrottung der roten Teufel, zur Vernichtung aller mit ihrer
Hilfe eingeführten Neuerungen mit Freuden bereit wären. Dieser Zwiespalt der
inneren Lage wird noch durch den Antagonismus der beiden feindlichen Haupt¬
elemente der Bevölkerung, der siegreichen Mandschus und der besiegten eigent¬
lichen Chinesen, verschärft. Bei solcher Lage der Dinge kann jederzeit eine Krisis
eintreten, ein innerer Krieg wie der Taiping-Aufstand oder die Bewegung der
großen Faust ausbrechen.

Aber auch die äußere Politik Chinas ist nicht erfolgreich. Wie sich die
Beziehungen mit Rußland gestaltet haben, ist schon angedeutet. Japan strebt
unzweifelhaft immer weiter vorwärts und geht darauf aus, indem es den Handel
zunächst an sich reißt, die südliche Mandschurei sich auch politisch anzugliedern.
Indem sie die Unverletzlichkeit des chinesischen Reiches laut anerkennen und den
Schein der Souveränität in der Mandschurei aufrecht erhalten, schalten und
walten die Japaner doch dort wie bei sich zu Hause. Unter solchen Umständen
hat der Abschluß des russisch-japanischen Vertrages auf China einen beklemmenden
Eindruck gemacht. Es sieht sich nach Verbündeten um und richtet seine Blicke
auf die durch Japan beleidigten Vereinigten Staaten und auf Deutschland.

Und so läßt sich aus den russisch-japanischen Beziehungen und der inneren
Lage Chinas der Schluß ziehen, daß China, wenn es Rußland nicht geradezu
feindlich gesinnt ist, doch ihm jedenfalls nichts Gutes wünscht. Diese Be¬
ziehungen besser zu gestalten, ist recht schwer. In Summa aber haben sich die
Verhältnisse im fernen Osten nach der Annäherung der ehemaligen politischen
Gegner Rußlands so gestaltet, daß diese Macht nicht mehr isoliert ist, sondern
ini Gegenteil seine Bedingungen stellen und die Erfüllung seiner Wünsche fordern
kann. Nußland hat wieder eine gewichtige Stimme im fernen Osten,
wie es einer Großmacht zukommt.

.Es fragt sich nun, ob die Lage, die der Friede von Portsmouth geschaffen
hat, als endgültig anzusehen ist. Bei ihrer Beantwortung darf nicht unberück¬
sichtigt bleiben, daß das Vorgehen in Ostasien aus mangelnder Sachkenntnis,
hier und da auch aus Parteileidenschaft, sich nicht gerade besonderer Sympathie


Rußlands Lage und Aufgaben im fernen kosten

den Grundsätzen europäischer Zivilisation und Finanzgebarung, in seiner Mehrzahl
sogar jeder kleinen Neuerung völlig abhold. Er steht sein eigenes Interesse
darin, die im Lauf der Jahrhunderte im Chinesen großgezogene Hinneigung
zum Alten und Überlieferten, zur blinden Verehrung einer überlebten Kultur
auszunutzen. Und diese Elemente stehen einer für den anderen ein. Noch ist
ihre Kraft nicht gebrochen, sie tönt laut und gewichtig vor den Stufen des
Thrones. Ferner auch fehlt die Einheit des politischen Sinnes, denn selbst das
eigentliche China ist nicht einheitlich bevölkert und teilt sich deutlich in einen
Norden und Süden, die beide nach dem Charakter ihrer Bevölkerung und nach
ihrer Aufnahmefähigkeit europäischer Zivilisation gegenüber gründlich verschieden
sind. Während der Süden fortschrittlichen Bewegungen zuneigt, ist der Norden
reformfeindlich. Hier gibt es nicht wenig gewichtige Persönlichkeiten, die zu einer
schonungsloser Ausrottung der roten Teufel, zur Vernichtung aller mit ihrer
Hilfe eingeführten Neuerungen mit Freuden bereit wären. Dieser Zwiespalt der
inneren Lage wird noch durch den Antagonismus der beiden feindlichen Haupt¬
elemente der Bevölkerung, der siegreichen Mandschus und der besiegten eigent¬
lichen Chinesen, verschärft. Bei solcher Lage der Dinge kann jederzeit eine Krisis
eintreten, ein innerer Krieg wie der Taiping-Aufstand oder die Bewegung der
großen Faust ausbrechen.

Aber auch die äußere Politik Chinas ist nicht erfolgreich. Wie sich die
Beziehungen mit Rußland gestaltet haben, ist schon angedeutet. Japan strebt
unzweifelhaft immer weiter vorwärts und geht darauf aus, indem es den Handel
zunächst an sich reißt, die südliche Mandschurei sich auch politisch anzugliedern.
Indem sie die Unverletzlichkeit des chinesischen Reiches laut anerkennen und den
Schein der Souveränität in der Mandschurei aufrecht erhalten, schalten und
walten die Japaner doch dort wie bei sich zu Hause. Unter solchen Umständen
hat der Abschluß des russisch-japanischen Vertrages auf China einen beklemmenden
Eindruck gemacht. Es sieht sich nach Verbündeten um und richtet seine Blicke
auf die durch Japan beleidigten Vereinigten Staaten und auf Deutschland.

Und so läßt sich aus den russisch-japanischen Beziehungen und der inneren
Lage Chinas der Schluß ziehen, daß China, wenn es Rußland nicht geradezu
feindlich gesinnt ist, doch ihm jedenfalls nichts Gutes wünscht. Diese Be¬
ziehungen besser zu gestalten, ist recht schwer. In Summa aber haben sich die
Verhältnisse im fernen Osten nach der Annäherung der ehemaligen politischen
Gegner Rußlands so gestaltet, daß diese Macht nicht mehr isoliert ist, sondern
ini Gegenteil seine Bedingungen stellen und die Erfüllung seiner Wünsche fordern
kann. Nußland hat wieder eine gewichtige Stimme im fernen Osten,
wie es einer Großmacht zukommt.

.Es fragt sich nun, ob die Lage, die der Friede von Portsmouth geschaffen
hat, als endgültig anzusehen ist. Bei ihrer Beantwortung darf nicht unberück¬
sichtigt bleiben, daß das Vorgehen in Ostasien aus mangelnder Sachkenntnis,
hier und da auch aus Parteileidenschaft, sich nicht gerade besonderer Sympathie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/68>, abgerufen am 03.07.2024.