Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rußlands Tage und Aufgaben im fernen Ästen

in der russischen Gesellschaft und selbst nicht in Negierungskreisen erfreut hat.
Pessimisten sagen sogar ohne Umschweife, wenn der russische ferne Osten keinen
Nutzen bringe und schwer zu verteidigen sei, so müsse er in Gottes Namen
seinem eigenen Schicksal überlassen werden.

So kann freilich der Staat nicht rechnen; er muß seine Besitzungen mit
allen Mitteln verteidigen, sonst hört er auf, eine Großmacht zu sein. Ein späteres
Geschlecht würde der heutigen Negierung solches mit Recht nicht verzeihen können,
der Regierung eines Landes mit einer Bevölkerung von 150 Millionen, das
eine Armee von über 1 Million Soldaten in Friedenszeiten unterhält und
ein jährliches Ausgabenbudget von 2^/2 Milliarden ausstellt.

Ständige Aufgaben der Politik Rußlands in Ostasien sind nun folgende:
1. Sicherung der Herrschaft in den Gebieten, die für die Verteidigung der
Reichsgrenze strategisch wichtig sind, 2. Erhaltung der Gebiete, die in Zukunft
für die Kolonisation verwertet werden können, 3. Sicherung des herrschenden
Einflusses in den Richtungen, in denen der Bau von Eisenbahnen zur Ver¬
bindung des russischen Netzes mit den: von Ostasien möglich ist, und 4. Siche¬
rung vorherrschenden Einflusses in den Gebieten, welche durch diese Bahnen
aufgeschlossen werden sollen. Diese Politik und die sie stützende militärische Lage
Rußlands im fernen Osten sind durch den Ausgang des Krieges und die letzten
Ereignisse wesentlich beeinflußt worden.

Die russische Grenze mit der Mandschurei hat ihre frühere, für Rußland
höchst ungünstige Gestaltung behalten. Indem die Mandschurei wie ein Keil
zwischen Amur und Ussuri vorspringt, schneidet sie das Gebiet Primorsk völlig
ab. Das rechte Amurufer ist auf fast 1800 Kilometer in anderen -- und jetzt
fast feindlichen -- Händen. Der kürzeste und bequemste Weg zwischen Trans-
baikalien und Primorsk verläuft auf fremdem Gebiete und ist in seiner Benutzung
und Verteidigung durch die Bestimmungen des Friedens von Portsmouth beschränkt.
Rußland ist aber seit der Schlacht von Tsuschima auf seine Macht zu Lande
beschränkt, während Japan auf dem Festlande in unmittelbare Nachbarschaft zu
Rußland getreten ist. China ist dabei, seine Armeereorganisationspläne zu ver¬
wirklichen. Rußland ist in seiner heutigen Finanzlage nicht imstande, an allen
seinen Grenzen die zu ihrer Verteidigung notwendige Truppenmacht zu unter¬
halten; daher wird es im Falle kriegerischer Verwickelung nötig, Streitkräfte aus
dem Zentrum des Reiches an die bedrohten Grenzen zu werfen, und das kann
nur geschehen mit ordentlich ausgebauten, ausgestatteten und verteidigten Verkehrs¬
wegen. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß die in? Laufe des
vorigen Jahres erfolgte Verlegung von Truppe" aus dem Westen nach Mittel¬
rußland mit dieser Erkenntnis in innigem Zusammenhange steht. Bei der Bei¬
legung des drohenden Konfliktes mit China in diesen Tagen hat diese Verlegung
zum erstenmal ihre Früchte getragen, denn es ist kein Zweifel, daß jetzt die
Ergänzung der an der chinesischen Grenze stehenden Truppenmassen durch die
Armeekorps an der Wolga viel leichter zu bemerken gewesen wäre als etwa


GrenzSoton II 1911 8
Rußlands Tage und Aufgaben im fernen Ästen

in der russischen Gesellschaft und selbst nicht in Negierungskreisen erfreut hat.
Pessimisten sagen sogar ohne Umschweife, wenn der russische ferne Osten keinen
Nutzen bringe und schwer zu verteidigen sei, so müsse er in Gottes Namen
seinem eigenen Schicksal überlassen werden.

So kann freilich der Staat nicht rechnen; er muß seine Besitzungen mit
allen Mitteln verteidigen, sonst hört er auf, eine Großmacht zu sein. Ein späteres
Geschlecht würde der heutigen Negierung solches mit Recht nicht verzeihen können,
der Regierung eines Landes mit einer Bevölkerung von 150 Millionen, das
eine Armee von über 1 Million Soldaten in Friedenszeiten unterhält und
ein jährliches Ausgabenbudget von 2^/2 Milliarden ausstellt.

Ständige Aufgaben der Politik Rußlands in Ostasien sind nun folgende:
1. Sicherung der Herrschaft in den Gebieten, die für die Verteidigung der
Reichsgrenze strategisch wichtig sind, 2. Erhaltung der Gebiete, die in Zukunft
für die Kolonisation verwertet werden können, 3. Sicherung des herrschenden
Einflusses in den Richtungen, in denen der Bau von Eisenbahnen zur Ver¬
bindung des russischen Netzes mit den: von Ostasien möglich ist, und 4. Siche¬
rung vorherrschenden Einflusses in den Gebieten, welche durch diese Bahnen
aufgeschlossen werden sollen. Diese Politik und die sie stützende militärische Lage
Rußlands im fernen Osten sind durch den Ausgang des Krieges und die letzten
Ereignisse wesentlich beeinflußt worden.

Die russische Grenze mit der Mandschurei hat ihre frühere, für Rußland
höchst ungünstige Gestaltung behalten. Indem die Mandschurei wie ein Keil
zwischen Amur und Ussuri vorspringt, schneidet sie das Gebiet Primorsk völlig
ab. Das rechte Amurufer ist auf fast 1800 Kilometer in anderen — und jetzt
fast feindlichen — Händen. Der kürzeste und bequemste Weg zwischen Trans-
baikalien und Primorsk verläuft auf fremdem Gebiete und ist in seiner Benutzung
und Verteidigung durch die Bestimmungen des Friedens von Portsmouth beschränkt.
Rußland ist aber seit der Schlacht von Tsuschima auf seine Macht zu Lande
beschränkt, während Japan auf dem Festlande in unmittelbare Nachbarschaft zu
Rußland getreten ist. China ist dabei, seine Armeereorganisationspläne zu ver¬
wirklichen. Rußland ist in seiner heutigen Finanzlage nicht imstande, an allen
seinen Grenzen die zu ihrer Verteidigung notwendige Truppenmacht zu unter¬
halten; daher wird es im Falle kriegerischer Verwickelung nötig, Streitkräfte aus
dem Zentrum des Reiches an die bedrohten Grenzen zu werfen, und das kann
nur geschehen mit ordentlich ausgebauten, ausgestatteten und verteidigten Verkehrs¬
wegen. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß die in? Laufe des
vorigen Jahres erfolgte Verlegung von Truppe» aus dem Westen nach Mittel¬
rußland mit dieser Erkenntnis in innigem Zusammenhange steht. Bei der Bei¬
legung des drohenden Konfliktes mit China in diesen Tagen hat diese Verlegung
zum erstenmal ihre Früchte getragen, denn es ist kein Zweifel, daß jetzt die
Ergänzung der an der chinesischen Grenze stehenden Truppenmassen durch die
Armeekorps an der Wolga viel leichter zu bemerken gewesen wäre als etwa


GrenzSoton II 1911 8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318352"/>
          <fw type="header" place="top"> Rußlands Tage und Aufgaben im fernen Ästen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_265" prev="#ID_264"> in der russischen Gesellschaft und selbst nicht in Negierungskreisen erfreut hat.<lb/>
Pessimisten sagen sogar ohne Umschweife, wenn der russische ferne Osten keinen<lb/>
Nutzen bringe und schwer zu verteidigen sei, so müsse er in Gottes Namen<lb/>
seinem eigenen Schicksal überlassen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_266"> So kann freilich der Staat nicht rechnen; er muß seine Besitzungen mit<lb/>
allen Mitteln verteidigen, sonst hört er auf, eine Großmacht zu sein. Ein späteres<lb/>
Geschlecht würde der heutigen Negierung solches mit Recht nicht verzeihen können,<lb/>
der Regierung eines Landes mit einer Bevölkerung von 150 Millionen, das<lb/>
eine Armee von über 1 Million Soldaten in Friedenszeiten unterhält und<lb/>
ein jährliches Ausgabenbudget von 2^/2 Milliarden ausstellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_267"> Ständige Aufgaben der Politik Rußlands in Ostasien sind nun folgende:<lb/>
1. Sicherung der Herrschaft in den Gebieten, die für die Verteidigung der<lb/>
Reichsgrenze strategisch wichtig sind, 2. Erhaltung der Gebiete, die in Zukunft<lb/>
für die Kolonisation verwertet werden können, 3. Sicherung des herrschenden<lb/>
Einflusses in den Richtungen, in denen der Bau von Eisenbahnen zur Ver¬<lb/>
bindung des russischen Netzes mit den: von Ostasien möglich ist, und 4. Siche¬<lb/>
rung vorherrschenden Einflusses in den Gebieten, welche durch diese Bahnen<lb/>
aufgeschlossen werden sollen. Diese Politik und die sie stützende militärische Lage<lb/>
Rußlands im fernen Osten sind durch den Ausgang des Krieges und die letzten<lb/>
Ereignisse wesentlich beeinflußt worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_268" next="#ID_269"> Die russische Grenze mit der Mandschurei hat ihre frühere, für Rußland<lb/>
höchst ungünstige Gestaltung behalten. Indem die Mandschurei wie ein Keil<lb/>
zwischen Amur und Ussuri vorspringt, schneidet sie das Gebiet Primorsk völlig<lb/>
ab. Das rechte Amurufer ist auf fast 1800 Kilometer in anderen &#x2014; und jetzt<lb/>
fast feindlichen &#x2014; Händen. Der kürzeste und bequemste Weg zwischen Trans-<lb/>
baikalien und Primorsk verläuft auf fremdem Gebiete und ist in seiner Benutzung<lb/>
und Verteidigung durch die Bestimmungen des Friedens von Portsmouth beschränkt.<lb/>
Rußland ist aber seit der Schlacht von Tsuschima auf seine Macht zu Lande<lb/>
beschränkt, während Japan auf dem Festlande in unmittelbare Nachbarschaft zu<lb/>
Rußland getreten ist. China ist dabei, seine Armeereorganisationspläne zu ver¬<lb/>
wirklichen. Rußland ist in seiner heutigen Finanzlage nicht imstande, an allen<lb/>
seinen Grenzen die zu ihrer Verteidigung notwendige Truppenmacht zu unter¬<lb/>
halten; daher wird es im Falle kriegerischer Verwickelung nötig, Streitkräfte aus<lb/>
dem Zentrum des Reiches an die bedrohten Grenzen zu werfen, und das kann<lb/>
nur geschehen mit ordentlich ausgebauten, ausgestatteten und verteidigten Verkehrs¬<lb/>
wegen. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß die in? Laufe des<lb/>
vorigen Jahres erfolgte Verlegung von Truppe» aus dem Westen nach Mittel¬<lb/>
rußland mit dieser Erkenntnis in innigem Zusammenhange steht. Bei der Bei¬<lb/>
legung des drohenden Konfliktes mit China in diesen Tagen hat diese Verlegung<lb/>
zum erstenmal ihre Früchte getragen, denn es ist kein Zweifel, daß jetzt die<lb/>
Ergänzung der an der chinesischen Grenze stehenden Truppenmassen durch die<lb/>
Armeekorps an der Wolga viel leichter zu bemerken gewesen wäre als etwa</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrenzSoton II 1911 8</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Rußlands Tage und Aufgaben im fernen Ästen in der russischen Gesellschaft und selbst nicht in Negierungskreisen erfreut hat. Pessimisten sagen sogar ohne Umschweife, wenn der russische ferne Osten keinen Nutzen bringe und schwer zu verteidigen sei, so müsse er in Gottes Namen seinem eigenen Schicksal überlassen werden. So kann freilich der Staat nicht rechnen; er muß seine Besitzungen mit allen Mitteln verteidigen, sonst hört er auf, eine Großmacht zu sein. Ein späteres Geschlecht würde der heutigen Negierung solches mit Recht nicht verzeihen können, der Regierung eines Landes mit einer Bevölkerung von 150 Millionen, das eine Armee von über 1 Million Soldaten in Friedenszeiten unterhält und ein jährliches Ausgabenbudget von 2^/2 Milliarden ausstellt. Ständige Aufgaben der Politik Rußlands in Ostasien sind nun folgende: 1. Sicherung der Herrschaft in den Gebieten, die für die Verteidigung der Reichsgrenze strategisch wichtig sind, 2. Erhaltung der Gebiete, die in Zukunft für die Kolonisation verwertet werden können, 3. Sicherung des herrschenden Einflusses in den Richtungen, in denen der Bau von Eisenbahnen zur Ver¬ bindung des russischen Netzes mit den: von Ostasien möglich ist, und 4. Siche¬ rung vorherrschenden Einflusses in den Gebieten, welche durch diese Bahnen aufgeschlossen werden sollen. Diese Politik und die sie stützende militärische Lage Rußlands im fernen Osten sind durch den Ausgang des Krieges und die letzten Ereignisse wesentlich beeinflußt worden. Die russische Grenze mit der Mandschurei hat ihre frühere, für Rußland höchst ungünstige Gestaltung behalten. Indem die Mandschurei wie ein Keil zwischen Amur und Ussuri vorspringt, schneidet sie das Gebiet Primorsk völlig ab. Das rechte Amurufer ist auf fast 1800 Kilometer in anderen — und jetzt fast feindlichen — Händen. Der kürzeste und bequemste Weg zwischen Trans- baikalien und Primorsk verläuft auf fremdem Gebiete und ist in seiner Benutzung und Verteidigung durch die Bestimmungen des Friedens von Portsmouth beschränkt. Rußland ist aber seit der Schlacht von Tsuschima auf seine Macht zu Lande beschränkt, während Japan auf dem Festlande in unmittelbare Nachbarschaft zu Rußland getreten ist. China ist dabei, seine Armeereorganisationspläne zu ver¬ wirklichen. Rußland ist in seiner heutigen Finanzlage nicht imstande, an allen seinen Grenzen die zu ihrer Verteidigung notwendige Truppenmacht zu unter¬ halten; daher wird es im Falle kriegerischer Verwickelung nötig, Streitkräfte aus dem Zentrum des Reiches an die bedrohten Grenzen zu werfen, und das kann nur geschehen mit ordentlich ausgebauten, ausgestatteten und verteidigten Verkehrs¬ wegen. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß die in? Laufe des vorigen Jahres erfolgte Verlegung von Truppe» aus dem Westen nach Mittel¬ rußland mit dieser Erkenntnis in innigem Zusammenhange steht. Bei der Bei¬ legung des drohenden Konfliktes mit China in diesen Tagen hat diese Verlegung zum erstenmal ihre Früchte getragen, denn es ist kein Zweifel, daß jetzt die Ergänzung der an der chinesischen Grenze stehenden Truppenmassen durch die Armeekorps an der Wolga viel leichter zu bemerken gewesen wäre als etwa GrenzSoton II 1911 8

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/69>, abgerufen am 03.07.2024.