Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rußlands Lage mit Aufgaben ini fernen Ästen

zu neutralisieren, beschleunigte den Gang der Ereignisse und begünstigte die
Annäherung der beiden nunmehr auf dem Festlande benachbarten Staaten
Rußland und Japan aneinander.

Die russisch-chinesischen Beziehungen werden gewöhnlich vom Gesichtspunkt
der zweihundertjährigen Freundschaft zwischen beiden Reichen betrachtet. Die
Annexion des Amurlandes geschah "mit gegenseitiger Übereinstimmung, um die
Freundschaft zu befestigen". Die Abtretung von Kuldsha im Jahre 1881 wurde
ebenfalls in die Form eines freiwilligen Verzichts zugunsten der befreundeten
Macht eingekleidet, aber sie war doch eine diplomatische Niederlage Rußlands.
Und wenn man die offizielle Sprache der Verhandlungen unberücksichtigt läßt
und die Tatsachen prüft, so bleibt von der zweihundertjährigen Freundschaft
nur der schöne Gedanke. War China schwach, so wurde es gekniffen, war Ru߬
land in schwieriger Lage, so ging China angriffsweise vor.

Vor dem russisch-japanischen Kriege war China ganz offensichtlich Rußland
feindlich gesinnt, fürchtete es aber; seit dem Kriege benutzt die chinesische Regierung
jede Gelegenheit, um den russischen Interessen zu schaden: nach dem Frieden zu
Portsmouth wurden nicht nur die bedeutenden Städte der Mandschurei, sondern
auch die an der russisch-chinesischen Grenze dem Außenhandel geöffnet; die Truppen
in der Mandschurei wurden aus Weisung aus Peking neu organisiert, und die
chinesische Kolonisation wurde absichtlich in die an russisches Gebiet stoßenden Grenz-
bezirke geleitet; unzweifelhafte Rechte der Chinesischen Ostbahn-Gesellschaft wurden
ignoriert und bestritten; russischen Handelsunternehmungen in der Mongolei
und Mandschurei wurden systematisch Schwierigkeiten bereitet; eine chinesische
Dampferflotte erschien auf dem Amur, ein Zollamt am Ssungari; der russischen
Grenzbevölkerung wurde die Nutzung ihrer Pachtungen am rechten Argun-- und
Amurufer erschwert; streitige Grenzstriche wurden ohne weiteres besetzt. Unnach¬
giebigst, Unfreundlichkeit, Überhebung und Dreistigkeit wurden auf chinesischer Seite
zur Gewohnheit, Nichtachtung derbestehendenVerträgewurde alltägliche Erscheinung.

Dabei gestaltete sich die Lage des chinesischen Reiches im Innern immer
schwieriger. Seit dem Tode der KaiserinTsust ist sie trostlos. Das Reich ist unter der
Regentschaft ein Spielball aller möglichen Intrigen im Palast, in den prinz-
lichen Familien, unter den höchsten Würdenträgern, Intrigen. die eines schönen
Tages zur völligen Umwälzung führen können. Anstatt in seiner Umgebung
Stützen zu haben, muß der Regent sie fürchten. Seine Macht zu behaupten,
ist seine Hauptsorge, die dem Lande drohenden Gefahren sind ihm ziemlich
gleichgültig. Die Reformen stehen größtenteils nur auf dem Papier, denn es
fehlt an Geld und Leuten, um sie durchzusetzen.

China ist ja noch weit von geordneten Geldverhältnissen entfernt. Da eine
Reorganisation der Finanzverwaltung die vollkommene Verurteilung des ganzen
bisherigen Systems bedeuten würde, ist sie nur mit größter Mühe durchzuführen.
Dazu ist der alte Stamm von Mandarinen, der sich die Befähigung zum Staats¬
diener durch Aneignung der klassisch-chinesischen Bildung hat erwerben müssen.


Rußlands Lage mit Aufgaben ini fernen Ästen

zu neutralisieren, beschleunigte den Gang der Ereignisse und begünstigte die
Annäherung der beiden nunmehr auf dem Festlande benachbarten Staaten
Rußland und Japan aneinander.

Die russisch-chinesischen Beziehungen werden gewöhnlich vom Gesichtspunkt
der zweihundertjährigen Freundschaft zwischen beiden Reichen betrachtet. Die
Annexion des Amurlandes geschah „mit gegenseitiger Übereinstimmung, um die
Freundschaft zu befestigen". Die Abtretung von Kuldsha im Jahre 1881 wurde
ebenfalls in die Form eines freiwilligen Verzichts zugunsten der befreundeten
Macht eingekleidet, aber sie war doch eine diplomatische Niederlage Rußlands.
Und wenn man die offizielle Sprache der Verhandlungen unberücksichtigt läßt
und die Tatsachen prüft, so bleibt von der zweihundertjährigen Freundschaft
nur der schöne Gedanke. War China schwach, so wurde es gekniffen, war Ru߬
land in schwieriger Lage, so ging China angriffsweise vor.

Vor dem russisch-japanischen Kriege war China ganz offensichtlich Rußland
feindlich gesinnt, fürchtete es aber; seit dem Kriege benutzt die chinesische Regierung
jede Gelegenheit, um den russischen Interessen zu schaden: nach dem Frieden zu
Portsmouth wurden nicht nur die bedeutenden Städte der Mandschurei, sondern
auch die an der russisch-chinesischen Grenze dem Außenhandel geöffnet; die Truppen
in der Mandschurei wurden aus Weisung aus Peking neu organisiert, und die
chinesische Kolonisation wurde absichtlich in die an russisches Gebiet stoßenden Grenz-
bezirke geleitet; unzweifelhafte Rechte der Chinesischen Ostbahn-Gesellschaft wurden
ignoriert und bestritten; russischen Handelsunternehmungen in der Mongolei
und Mandschurei wurden systematisch Schwierigkeiten bereitet; eine chinesische
Dampferflotte erschien auf dem Amur, ein Zollamt am Ssungari; der russischen
Grenzbevölkerung wurde die Nutzung ihrer Pachtungen am rechten Argun-- und
Amurufer erschwert; streitige Grenzstriche wurden ohne weiteres besetzt. Unnach¬
giebigst, Unfreundlichkeit, Überhebung und Dreistigkeit wurden auf chinesischer Seite
zur Gewohnheit, Nichtachtung derbestehendenVerträgewurde alltägliche Erscheinung.

Dabei gestaltete sich die Lage des chinesischen Reiches im Innern immer
schwieriger. Seit dem Tode der KaiserinTsust ist sie trostlos. Das Reich ist unter der
Regentschaft ein Spielball aller möglichen Intrigen im Palast, in den prinz-
lichen Familien, unter den höchsten Würdenträgern, Intrigen. die eines schönen
Tages zur völligen Umwälzung führen können. Anstatt in seiner Umgebung
Stützen zu haben, muß der Regent sie fürchten. Seine Macht zu behaupten,
ist seine Hauptsorge, die dem Lande drohenden Gefahren sind ihm ziemlich
gleichgültig. Die Reformen stehen größtenteils nur auf dem Papier, denn es
fehlt an Geld und Leuten, um sie durchzusetzen.

China ist ja noch weit von geordneten Geldverhältnissen entfernt. Da eine
Reorganisation der Finanzverwaltung die vollkommene Verurteilung des ganzen
bisherigen Systems bedeuten würde, ist sie nur mit größter Mühe durchzuführen.
Dazu ist der alte Stamm von Mandarinen, der sich die Befähigung zum Staats¬
diener durch Aneignung der klassisch-chinesischen Bildung hat erwerben müssen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318350"/>
          <fw type="header" place="top"> Rußlands Lage mit Aufgaben ini fernen Ästen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_256" prev="#ID_255"> zu neutralisieren, beschleunigte den Gang der Ereignisse und begünstigte die<lb/>
Annäherung der beiden nunmehr auf dem Festlande benachbarten Staaten<lb/>
Rußland und Japan aneinander.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_257"> Die russisch-chinesischen Beziehungen werden gewöhnlich vom Gesichtspunkt<lb/>
der zweihundertjährigen Freundschaft zwischen beiden Reichen betrachtet. Die<lb/>
Annexion des Amurlandes geschah &#x201E;mit gegenseitiger Übereinstimmung, um die<lb/>
Freundschaft zu befestigen". Die Abtretung von Kuldsha im Jahre 1881 wurde<lb/>
ebenfalls in die Form eines freiwilligen Verzichts zugunsten der befreundeten<lb/>
Macht eingekleidet, aber sie war doch eine diplomatische Niederlage Rußlands.<lb/>
Und wenn man die offizielle Sprache der Verhandlungen unberücksichtigt läßt<lb/>
und die Tatsachen prüft, so bleibt von der zweihundertjährigen Freundschaft<lb/>
nur der schöne Gedanke. War China schwach, so wurde es gekniffen, war Ru߬<lb/>
land in schwieriger Lage, so ging China angriffsweise vor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_258"> Vor dem russisch-japanischen Kriege war China ganz offensichtlich Rußland<lb/>
feindlich gesinnt, fürchtete es aber; seit dem Kriege benutzt die chinesische Regierung<lb/>
jede Gelegenheit, um den russischen Interessen zu schaden: nach dem Frieden zu<lb/>
Portsmouth wurden nicht nur die bedeutenden Städte der Mandschurei, sondern<lb/>
auch die an der russisch-chinesischen Grenze dem Außenhandel geöffnet; die Truppen<lb/>
in der Mandschurei wurden aus Weisung aus Peking neu organisiert, und die<lb/>
chinesische Kolonisation wurde absichtlich in die an russisches Gebiet stoßenden Grenz-<lb/>
bezirke geleitet; unzweifelhafte Rechte der Chinesischen Ostbahn-Gesellschaft wurden<lb/>
ignoriert und bestritten; russischen Handelsunternehmungen in der Mongolei<lb/>
und Mandschurei wurden systematisch Schwierigkeiten bereitet; eine chinesische<lb/>
Dampferflotte erschien auf dem Amur, ein Zollamt am Ssungari; der russischen<lb/>
Grenzbevölkerung wurde die Nutzung ihrer Pachtungen am rechten Argun-- und<lb/>
Amurufer erschwert; streitige Grenzstriche wurden ohne weiteres besetzt. Unnach¬<lb/>
giebigst, Unfreundlichkeit, Überhebung und Dreistigkeit wurden auf chinesischer Seite<lb/>
zur Gewohnheit, Nichtachtung derbestehendenVerträgewurde alltägliche Erscheinung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_259"> Dabei gestaltete sich die Lage des chinesischen Reiches im Innern immer<lb/>
schwieriger. Seit dem Tode der KaiserinTsust ist sie trostlos. Das Reich ist unter der<lb/>
Regentschaft ein Spielball aller möglichen Intrigen im Palast, in den prinz-<lb/>
lichen Familien, unter den höchsten Würdenträgern, Intrigen. die eines schönen<lb/>
Tages zur völligen Umwälzung führen können. Anstatt in seiner Umgebung<lb/>
Stützen zu haben, muß der Regent sie fürchten. Seine Macht zu behaupten,<lb/>
ist seine Hauptsorge, die dem Lande drohenden Gefahren sind ihm ziemlich<lb/>
gleichgültig. Die Reformen stehen größtenteils nur auf dem Papier, denn es<lb/>
fehlt an Geld und Leuten, um sie durchzusetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_260" next="#ID_261"> China ist ja noch weit von geordneten Geldverhältnissen entfernt. Da eine<lb/>
Reorganisation der Finanzverwaltung die vollkommene Verurteilung des ganzen<lb/>
bisherigen Systems bedeuten würde, ist sie nur mit größter Mühe durchzuführen.<lb/>
Dazu ist der alte Stamm von Mandarinen, der sich die Befähigung zum Staats¬<lb/>
diener durch Aneignung der klassisch-chinesischen Bildung hat erwerben müssen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0067] Rußlands Lage mit Aufgaben ini fernen Ästen zu neutralisieren, beschleunigte den Gang der Ereignisse und begünstigte die Annäherung der beiden nunmehr auf dem Festlande benachbarten Staaten Rußland und Japan aneinander. Die russisch-chinesischen Beziehungen werden gewöhnlich vom Gesichtspunkt der zweihundertjährigen Freundschaft zwischen beiden Reichen betrachtet. Die Annexion des Amurlandes geschah „mit gegenseitiger Übereinstimmung, um die Freundschaft zu befestigen". Die Abtretung von Kuldsha im Jahre 1881 wurde ebenfalls in die Form eines freiwilligen Verzichts zugunsten der befreundeten Macht eingekleidet, aber sie war doch eine diplomatische Niederlage Rußlands. Und wenn man die offizielle Sprache der Verhandlungen unberücksichtigt läßt und die Tatsachen prüft, so bleibt von der zweihundertjährigen Freundschaft nur der schöne Gedanke. War China schwach, so wurde es gekniffen, war Ru߬ land in schwieriger Lage, so ging China angriffsweise vor. Vor dem russisch-japanischen Kriege war China ganz offensichtlich Rußland feindlich gesinnt, fürchtete es aber; seit dem Kriege benutzt die chinesische Regierung jede Gelegenheit, um den russischen Interessen zu schaden: nach dem Frieden zu Portsmouth wurden nicht nur die bedeutenden Städte der Mandschurei, sondern auch die an der russisch-chinesischen Grenze dem Außenhandel geöffnet; die Truppen in der Mandschurei wurden aus Weisung aus Peking neu organisiert, und die chinesische Kolonisation wurde absichtlich in die an russisches Gebiet stoßenden Grenz- bezirke geleitet; unzweifelhafte Rechte der Chinesischen Ostbahn-Gesellschaft wurden ignoriert und bestritten; russischen Handelsunternehmungen in der Mongolei und Mandschurei wurden systematisch Schwierigkeiten bereitet; eine chinesische Dampferflotte erschien auf dem Amur, ein Zollamt am Ssungari; der russischen Grenzbevölkerung wurde die Nutzung ihrer Pachtungen am rechten Argun-- und Amurufer erschwert; streitige Grenzstriche wurden ohne weiteres besetzt. Unnach¬ giebigst, Unfreundlichkeit, Überhebung und Dreistigkeit wurden auf chinesischer Seite zur Gewohnheit, Nichtachtung derbestehendenVerträgewurde alltägliche Erscheinung. Dabei gestaltete sich die Lage des chinesischen Reiches im Innern immer schwieriger. Seit dem Tode der KaiserinTsust ist sie trostlos. Das Reich ist unter der Regentschaft ein Spielball aller möglichen Intrigen im Palast, in den prinz- lichen Familien, unter den höchsten Würdenträgern, Intrigen. die eines schönen Tages zur völligen Umwälzung führen können. Anstatt in seiner Umgebung Stützen zu haben, muß der Regent sie fürchten. Seine Macht zu behaupten, ist seine Hauptsorge, die dem Lande drohenden Gefahren sind ihm ziemlich gleichgültig. Die Reformen stehen größtenteils nur auf dem Papier, denn es fehlt an Geld und Leuten, um sie durchzusetzen. China ist ja noch weit von geordneten Geldverhältnissen entfernt. Da eine Reorganisation der Finanzverwaltung die vollkommene Verurteilung des ganzen bisherigen Systems bedeuten würde, ist sie nur mit größter Mühe durchzuführen. Dazu ist der alte Stamm von Mandarinen, der sich die Befähigung zum Staats¬ diener durch Aneignung der klassisch-chinesischen Bildung hat erwerben müssen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/67
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/67>, abgerufen am 01.10.2024.