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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Gsten

sie sich alles erlauben zu können glaubten, und unvorsichtig an diesen oder jenen
britischen Interessen rührten, um so mehr wurden in England Stimmen laut,
die diese Abberufung als schweren Fehler und geradezu als Überlassung der
Herrschaft über die Gewässer des Stillen Ozeans an Japan bezeichneten. Die
Kritik konnte geltend machen, daß dieser Schritt unzweifelhaft in scharfem Wider¬
spruch mit den Traditionen der britischen Flottenpolitik stand, die sich bislang
die Verteidigung ihrer wichtigen Interessen im Stillen Ozean als eigenes Ziel
gesteckt hatte. Und wirklich, wie sehr auch der erste englisch-japanische Vertrag
im Sinne gemeinsamen Vorgehens gegen den gemeinsamen Feind Rußland
beiden Teilen Vorteile gebracht hatte, so künstlich und unnatürlich erschien der
zweite, nachdem die im ersten Vertrage gestellte Aufgabe erreicht war. Weit¬
sichtige Politiker schließen daraus, daß der letzte Vertrag noch vor Ablauf von
fünf Jahren zu einem leeren Blatt Papier werden könnte.

Der erste englisch-japanische Vertrag, der den russisch-japanischen Krieg als
nächstes Ziel im Auge hatte, hat Rußland auf einige Zeit geschwächt, zugleich
aber Japan so gestärkt, daß es heutzutage für Großbritannien als ein wirklich
gefährlicher, seine Interessen bedrohender Feind erscheint. Zum Beweise genügt
die Angabe, daß der Wert der englischen Einfuhr in China 250 Millionen
Lar rund 750 Millionen Mark, das heißt mehr als die Hälfte der gesamten
fremden Einfuhr beträgt. Die gefährliche japanische Konkurrenz beschränkt sich
indessen nicht nur auf China, sie bedroht vielmehr die Stellung Großbritanniens
in Ländern, in denen diese Macht sich von keiner anderen Nation in ihrer
Überlegenheit bedroht wähnen konnte. Die Weltherrschaft der Engländer beruhte
auf der Größe ihrer Handelsflotte und der Übermacht ihrer Kriegsflotte. In
Ostasien und in: Stillen Ozean kämpft die Flagge des verbündeten Japan mit
ihnen um den Vorrang. Schon am 1. Januar 1908 zählte die japanische
Handelsflotte mehr als 7000 Dampf- und Segelschiffe mit einer Wasserverdrängung
von 1^/2 Millionen Tonnen.

Diese Handelsflotte und die in ihr vertretenen Interessen vermögen die
Japaner mit einer mächtigen Kriegsflotte zu schützen, deren planmäßige tatkräftige
Entwicklung geradezu wie eine Drohung gegen England aussieht. Hierin liegt
der innere Grund, aus dem heraus britische Politiker die englisch-japanische
Freundschaft für einen ebenso großen historischen Fehler der britischen Negierung
ansehen wie seine frühere traditionelle Feindschaft gegen jeden Schritt Rußlands
in Europa und Asien. Das sind auch die auf realem Boden beruhenden Er¬
wägungen, die Großbritannien veranlaßt haben, eine engere Annäherung an
Rußland in den Angelegenheiten des fernen Ostens herbeizuführen.

Die japanisch-amerikanischen Beziehungen, die während des Krieges freund¬
schaftlich, fast wie unter Verbündeten gewesen waren, sind heute fast feindlich
gespannt. Auch das ist für Nußland von größter Bedeutung. Mit der Ver¬
nichtung der spanischen Flotte in Manila war nach der Bemerkung des amerika¬
nischen Admirals Dewet auch die chinesische Mauer der amerikanischen Isolierung


Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Gsten

sie sich alles erlauben zu können glaubten, und unvorsichtig an diesen oder jenen
britischen Interessen rührten, um so mehr wurden in England Stimmen laut,
die diese Abberufung als schweren Fehler und geradezu als Überlassung der
Herrschaft über die Gewässer des Stillen Ozeans an Japan bezeichneten. Die
Kritik konnte geltend machen, daß dieser Schritt unzweifelhaft in scharfem Wider¬
spruch mit den Traditionen der britischen Flottenpolitik stand, die sich bislang
die Verteidigung ihrer wichtigen Interessen im Stillen Ozean als eigenes Ziel
gesteckt hatte. Und wirklich, wie sehr auch der erste englisch-japanische Vertrag
im Sinne gemeinsamen Vorgehens gegen den gemeinsamen Feind Rußland
beiden Teilen Vorteile gebracht hatte, so künstlich und unnatürlich erschien der
zweite, nachdem die im ersten Vertrage gestellte Aufgabe erreicht war. Weit¬
sichtige Politiker schließen daraus, daß der letzte Vertrag noch vor Ablauf von
fünf Jahren zu einem leeren Blatt Papier werden könnte.

Der erste englisch-japanische Vertrag, der den russisch-japanischen Krieg als
nächstes Ziel im Auge hatte, hat Rußland auf einige Zeit geschwächt, zugleich
aber Japan so gestärkt, daß es heutzutage für Großbritannien als ein wirklich
gefährlicher, seine Interessen bedrohender Feind erscheint. Zum Beweise genügt
die Angabe, daß der Wert der englischen Einfuhr in China 250 Millionen
Lar rund 750 Millionen Mark, das heißt mehr als die Hälfte der gesamten
fremden Einfuhr beträgt. Die gefährliche japanische Konkurrenz beschränkt sich
indessen nicht nur auf China, sie bedroht vielmehr die Stellung Großbritanniens
in Ländern, in denen diese Macht sich von keiner anderen Nation in ihrer
Überlegenheit bedroht wähnen konnte. Die Weltherrschaft der Engländer beruhte
auf der Größe ihrer Handelsflotte und der Übermacht ihrer Kriegsflotte. In
Ostasien und in: Stillen Ozean kämpft die Flagge des verbündeten Japan mit
ihnen um den Vorrang. Schon am 1. Januar 1908 zählte die japanische
Handelsflotte mehr als 7000 Dampf- und Segelschiffe mit einer Wasserverdrängung
von 1^/2 Millionen Tonnen.

Diese Handelsflotte und die in ihr vertretenen Interessen vermögen die
Japaner mit einer mächtigen Kriegsflotte zu schützen, deren planmäßige tatkräftige
Entwicklung geradezu wie eine Drohung gegen England aussieht. Hierin liegt
der innere Grund, aus dem heraus britische Politiker die englisch-japanische
Freundschaft für einen ebenso großen historischen Fehler der britischen Negierung
ansehen wie seine frühere traditionelle Feindschaft gegen jeden Schritt Rußlands
in Europa und Asien. Das sind auch die auf realem Boden beruhenden Er¬
wägungen, die Großbritannien veranlaßt haben, eine engere Annäherung an
Rußland in den Angelegenheiten des fernen Ostens herbeizuführen.

Die japanisch-amerikanischen Beziehungen, die während des Krieges freund¬
schaftlich, fast wie unter Verbündeten gewesen waren, sind heute fast feindlich
gespannt. Auch das ist für Nußland von größter Bedeutung. Mit der Ver¬
nichtung der spanischen Flotte in Manila war nach der Bemerkung des amerika¬
nischen Admirals Dewet auch die chinesische Mauer der amerikanischen Isolierung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/65>, abgerufen am 01.07.2024.