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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Vsten

Allerdings decken sich die Interessen Rußlands und Japans wegen der
geographischen Bedingungen nicht überall. Auch ist nicht zu verkennen, daß alle
nach dem Kriege zwischen beiden Staaten getroffenen Vereinbarungen auf russischer
Seite unter einem gewissen Zwange zustande gekommen sind und daß deshalb
die Japaner ihre Interessen im weitesten Umfange darin berücksichtigt sehen
können. Sodann haben die Niederlagen im Kriege dem russischen National¬
gefühl zu tiefe Wunden geschlagen, um sie so schnell vergessen zu können, und
schließlich ist die Kultur und Weltanschauung des Japaners dem Russen in
vieler Beziehung unverständlich.

Dies sind alles gewichtige Gründe, welche verhindern, daß das Überein¬
kommen sich zu einem förmlichen Bündnis ausgestalten könnte. Freundschaftliche
und überhaupt normale Beziehungen sind nur mit einem starken Rußland möglich.
Will Rußland aber den größtmöglichen Nutzen aus der englisch-russischen und
russisch-japanischen Verständigung ziehen, so muß es die lebhafteste Tätigkeit zur
Befestigung seines ins Wanken geratenen Ansehens entfalten -- ein schwacher
Verbündeter ist ein Spielzeug und Werkzeug in der Hand des stärkeren.

Außer den schon erwähnten gibt es noch andere tiefer liegende Gründe,
die Japan veranlassen müssen, vorsichtig zu sein und vorläufig seine Wünsche
zu zügeln. Die Lage der Japaner auf dem Kontinent fordert beträchtliche
Anstrengungen zu ihrer Befestigung. Um eine Bevölkerung von zwölf Millionen
überzuschlucken und zu verdauen, bedarf es weiter einer gewissen Zeit und
kräftiger Mittel. Die Hoffnungen auf den Segen aus Korea, Südsachalin und
der Südmandschurei sind ja freilich nicht unbegründet, aber werden sich doch
erst in der Zukunft rechtfertigen können. Vorläufig müssen für alle Unter¬
nehmungen auf dem Festlande Mittel aus der eigenen, ziemlich beschränkten
Tasche gezahlt werden. Zudem hat die randartige Ausbeutung der in die
japanische Einflußsphäre schlagenden Länder schon heute ungesunde Beziehungen
zwischen "Scherendem und Geschorenem" im Gefolge gehabt. Um aber wieder
Geld an sich zu ziehen, waren die Japaner auf den Gedanken gekommen, den
größten Teil des Handels im Stillen und Indischen Ozean in ihre Hand zu
nehmen. Hierzu gingen sie sofort nach dem Friedensschluß daran, ein Netz
von Kolonien in Korea, der Mandschurei, China, Jndochina, Siam, auf den
Sundainseln, in Indien, Südafrika, Chile, Peru, Mexiko, deu Vereinigten
Staaten und Britisch-Kolumbien zu gründen, in der Absicht, diese Kolonien
mit dem Mutterland durch Dampferlinien zu verbinden und auf diese Weise
den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Daraus sind jedoch ernstliche Mi߬
verständnisse entstanden, die die Verbündeten und Freunde der Japaner veranlaßt
haben, auf der Hut zu sein.

Bekanntlich hatte nach der Erneuerung des russisch-japanischen Bündnisses
im Jahre 1905 die englische Negierung unter dem ersten Eindruck des Vertrags¬
schlusses und der Ergebnisse des Krieges ihre Linienschiffflotte ans dem Stillen
Ozean abberufen. Aber je mehr die verbündeten Japaner merken ließen, daß


Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Vsten

Allerdings decken sich die Interessen Rußlands und Japans wegen der
geographischen Bedingungen nicht überall. Auch ist nicht zu verkennen, daß alle
nach dem Kriege zwischen beiden Staaten getroffenen Vereinbarungen auf russischer
Seite unter einem gewissen Zwange zustande gekommen sind und daß deshalb
die Japaner ihre Interessen im weitesten Umfange darin berücksichtigt sehen
können. Sodann haben die Niederlagen im Kriege dem russischen National¬
gefühl zu tiefe Wunden geschlagen, um sie so schnell vergessen zu können, und
schließlich ist die Kultur und Weltanschauung des Japaners dem Russen in
vieler Beziehung unverständlich.

Dies sind alles gewichtige Gründe, welche verhindern, daß das Überein¬
kommen sich zu einem förmlichen Bündnis ausgestalten könnte. Freundschaftliche
und überhaupt normale Beziehungen sind nur mit einem starken Rußland möglich.
Will Rußland aber den größtmöglichen Nutzen aus der englisch-russischen und
russisch-japanischen Verständigung ziehen, so muß es die lebhafteste Tätigkeit zur
Befestigung seines ins Wanken geratenen Ansehens entfalten — ein schwacher
Verbündeter ist ein Spielzeug und Werkzeug in der Hand des stärkeren.

Außer den schon erwähnten gibt es noch andere tiefer liegende Gründe,
die Japan veranlassen müssen, vorsichtig zu sein und vorläufig seine Wünsche
zu zügeln. Die Lage der Japaner auf dem Kontinent fordert beträchtliche
Anstrengungen zu ihrer Befestigung. Um eine Bevölkerung von zwölf Millionen
überzuschlucken und zu verdauen, bedarf es weiter einer gewissen Zeit und
kräftiger Mittel. Die Hoffnungen auf den Segen aus Korea, Südsachalin und
der Südmandschurei sind ja freilich nicht unbegründet, aber werden sich doch
erst in der Zukunft rechtfertigen können. Vorläufig müssen für alle Unter¬
nehmungen auf dem Festlande Mittel aus der eigenen, ziemlich beschränkten
Tasche gezahlt werden. Zudem hat die randartige Ausbeutung der in die
japanische Einflußsphäre schlagenden Länder schon heute ungesunde Beziehungen
zwischen „Scherendem und Geschorenem" im Gefolge gehabt. Um aber wieder
Geld an sich zu ziehen, waren die Japaner auf den Gedanken gekommen, den
größten Teil des Handels im Stillen und Indischen Ozean in ihre Hand zu
nehmen. Hierzu gingen sie sofort nach dem Friedensschluß daran, ein Netz
von Kolonien in Korea, der Mandschurei, China, Jndochina, Siam, auf den
Sundainseln, in Indien, Südafrika, Chile, Peru, Mexiko, deu Vereinigten
Staaten und Britisch-Kolumbien zu gründen, in der Absicht, diese Kolonien
mit dem Mutterland durch Dampferlinien zu verbinden und auf diese Weise
den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Daraus sind jedoch ernstliche Mi߬
verständnisse entstanden, die die Verbündeten und Freunde der Japaner veranlaßt
haben, auf der Hut zu sein.

Bekanntlich hatte nach der Erneuerung des russisch-japanischen Bündnisses
im Jahre 1905 die englische Negierung unter dem ersten Eindruck des Vertrags¬
schlusses und der Ergebnisse des Krieges ihre Linienschiffflotte ans dem Stillen
Ozean abberufen. Aber je mehr die verbündeten Japaner merken ließen, daß


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[0064] Rußlands Lage und Aufgaben im fernen Vsten Allerdings decken sich die Interessen Rußlands und Japans wegen der geographischen Bedingungen nicht überall. Auch ist nicht zu verkennen, daß alle nach dem Kriege zwischen beiden Staaten getroffenen Vereinbarungen auf russischer Seite unter einem gewissen Zwange zustande gekommen sind und daß deshalb die Japaner ihre Interessen im weitesten Umfange darin berücksichtigt sehen können. Sodann haben die Niederlagen im Kriege dem russischen National¬ gefühl zu tiefe Wunden geschlagen, um sie so schnell vergessen zu können, und schließlich ist die Kultur und Weltanschauung des Japaners dem Russen in vieler Beziehung unverständlich. Dies sind alles gewichtige Gründe, welche verhindern, daß das Überein¬ kommen sich zu einem förmlichen Bündnis ausgestalten könnte. Freundschaftliche und überhaupt normale Beziehungen sind nur mit einem starken Rußland möglich. Will Rußland aber den größtmöglichen Nutzen aus der englisch-russischen und russisch-japanischen Verständigung ziehen, so muß es die lebhafteste Tätigkeit zur Befestigung seines ins Wanken geratenen Ansehens entfalten — ein schwacher Verbündeter ist ein Spielzeug und Werkzeug in der Hand des stärkeren. Außer den schon erwähnten gibt es noch andere tiefer liegende Gründe, die Japan veranlassen müssen, vorsichtig zu sein und vorläufig seine Wünsche zu zügeln. Die Lage der Japaner auf dem Kontinent fordert beträchtliche Anstrengungen zu ihrer Befestigung. Um eine Bevölkerung von zwölf Millionen überzuschlucken und zu verdauen, bedarf es weiter einer gewissen Zeit und kräftiger Mittel. Die Hoffnungen auf den Segen aus Korea, Südsachalin und der Südmandschurei sind ja freilich nicht unbegründet, aber werden sich doch erst in der Zukunft rechtfertigen können. Vorläufig müssen für alle Unter¬ nehmungen auf dem Festlande Mittel aus der eigenen, ziemlich beschränkten Tasche gezahlt werden. Zudem hat die randartige Ausbeutung der in die japanische Einflußsphäre schlagenden Länder schon heute ungesunde Beziehungen zwischen „Scherendem und Geschorenem" im Gefolge gehabt. Um aber wieder Geld an sich zu ziehen, waren die Japaner auf den Gedanken gekommen, den größten Teil des Handels im Stillen und Indischen Ozean in ihre Hand zu nehmen. Hierzu gingen sie sofort nach dem Friedensschluß daran, ein Netz von Kolonien in Korea, der Mandschurei, China, Jndochina, Siam, auf den Sundainseln, in Indien, Südafrika, Chile, Peru, Mexiko, deu Vereinigten Staaten und Britisch-Kolumbien zu gründen, in der Absicht, diese Kolonien mit dem Mutterland durch Dampferlinien zu verbinden und auf diese Weise den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Daraus sind jedoch ernstliche Mi߬ verständnisse entstanden, die die Verbündeten und Freunde der Japaner veranlaßt haben, auf der Hut zu sein. Bekanntlich hatte nach der Erneuerung des russisch-japanischen Bündnisses im Jahre 1905 die englische Negierung unter dem ersten Eindruck des Vertrags¬ schlusses und der Ergebnisse des Krieges ihre Linienschiffflotte ans dem Stillen Ozean abberufen. Aber je mehr die verbündeten Japaner merken ließen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/64>, abgerufen am 29.06.2024.