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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Religion

Für die gleiche Sammlung war ein Distichon bestimmt, das Goethe selbst
nicht hatte drucken lassen und das erst aus seinen: Nachlaß veröffentlicht wurde.
Im Jahre 1790 hatte er die Osterwoche in Venedig zugebracht und dort der
Zeremonie beigewohnt, bei der die Geistlichen das Bild des Gekreuzigten aus
dem in der Kirche hergerichteten Grabe tragen. Darauf dichtete er die sarka¬
stischen Verse:


Offen steht das Grab. Welch herrlich Wunder! Der Herr ist
Auferstanden! Wer glaubt's? -- Schelmen, ihr trugt ihn ja weg.

Viel schärfer noch -- und es ist das Schärfste, was Goethe gegen das
Christentum gesagt hat -- spricht er sich in den folgenden Versen des Zyklus aus:


Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Dult' ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebot.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Christ.

Auch hier scheute der Dichter völlige Offenheit. In den Ausgaben steht
statt des letzten Wortes ein Kreuz. Aus einer erhalten gebliebenen Handschrift
wissen wir, daß es .Christ' lautete.

Jeder fühlt, daß diese Ausfälle der Ausfluß eines vorübergehenden Amantes
und Zornes sind. Sie bezeichnen auch nicht den endgültigen Standpunkt des
Dichters gegenüber dem Christentum und beziehen sich, wie ich schon bemerkt
habe, mehr auf die Formen als auf den Gehalt des Glaubens, mehr auf die
Konfession als auf die Religion. Ihre tiefere Begründung finden sie darin,
daß der Dichter immer mehr von der Liebe zur Antike erfüllt wurde und von
der Schönheit ihrer Kunst durchdrungen war. Damit ward ihn: zugleich die
heimische, die er als Jüngling einst so gepriesen hatte -- ich erinnere an seinen
Hymnus auf das Straßburger Münster --, entfremdet. Das Stoffgebiet der
deutschen Kunst galt ihn: für barbarisch. Wiederholt gebraucht er dieses Wort
für seinen "Faust", an dein er in der Mitte der neunziger Jahre die Arbeit
wieder aufnahm. Das Werk war ihm eine nordische oder barbarische Kom¬
position, von der aus er mit wehmütiger Sehnsucht auf die schöne homerische
Welt blickte. So wurde Goethe mehr und mehr im Sinne der bekannten
Antithese Heinrich Heines, wonach die Vertreter der Weltliteratur in Hellenen
und Nazarener zerfallen, Heitere. Nur in der Antike schien ihm das Ideal
seines Zeitalters: die höchste Ausbildung der Individualität, die Harmonie aller
dein Menschen verliehenen Kräfte erreicht worden zu sein. Die Neueren, war
seine Ansicht, konnten Außerordentliches höchstens durch Verbindung mehrerer
Fähigkeiten leisten. Diese Meinung entwickelte Goethe in wunderbaren Worten
in seiner im Jahre 1805 erschienenen Biographie Winckelmanns. Zwischen den
Zeilen aber stand, daß dieser Bruch in der Existenz der Menschen durch das
Christentum in die Welt gekommen sei. Winckelmann war sür ihn eine antike,
eine heidnische Gestalt.

Man nahm an, daß Goethe diese heidnische Gesinnung seines Helden
billigte und schrieb sie ihm selbst zu. Seitdem galt er in Deutschland für einen


Goethes Religion

Für die gleiche Sammlung war ein Distichon bestimmt, das Goethe selbst
nicht hatte drucken lassen und das erst aus seinen: Nachlaß veröffentlicht wurde.
Im Jahre 1790 hatte er die Osterwoche in Venedig zugebracht und dort der
Zeremonie beigewohnt, bei der die Geistlichen das Bild des Gekreuzigten aus
dem in der Kirche hergerichteten Grabe tragen. Darauf dichtete er die sarka¬
stischen Verse:


Offen steht das Grab. Welch herrlich Wunder! Der Herr ist
Auferstanden! Wer glaubt's? — Schelmen, ihr trugt ihn ja weg.

Viel schärfer noch — und es ist das Schärfste, was Goethe gegen das
Christentum gesagt hat — spricht er sich in den folgenden Versen des Zyklus aus:


Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Dult' ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebot.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Christ.

Auch hier scheute der Dichter völlige Offenheit. In den Ausgaben steht
statt des letzten Wortes ein Kreuz. Aus einer erhalten gebliebenen Handschrift
wissen wir, daß es .Christ' lautete.

Jeder fühlt, daß diese Ausfälle der Ausfluß eines vorübergehenden Amantes
und Zornes sind. Sie bezeichnen auch nicht den endgültigen Standpunkt des
Dichters gegenüber dem Christentum und beziehen sich, wie ich schon bemerkt
habe, mehr auf die Formen als auf den Gehalt des Glaubens, mehr auf die
Konfession als auf die Religion. Ihre tiefere Begründung finden sie darin,
daß der Dichter immer mehr von der Liebe zur Antike erfüllt wurde und von
der Schönheit ihrer Kunst durchdrungen war. Damit ward ihn: zugleich die
heimische, die er als Jüngling einst so gepriesen hatte — ich erinnere an seinen
Hymnus auf das Straßburger Münster —, entfremdet. Das Stoffgebiet der
deutschen Kunst galt ihn: für barbarisch. Wiederholt gebraucht er dieses Wort
für seinen „Faust", an dein er in der Mitte der neunziger Jahre die Arbeit
wieder aufnahm. Das Werk war ihm eine nordische oder barbarische Kom¬
position, von der aus er mit wehmütiger Sehnsucht auf die schöne homerische
Welt blickte. So wurde Goethe mehr und mehr im Sinne der bekannten
Antithese Heinrich Heines, wonach die Vertreter der Weltliteratur in Hellenen
und Nazarener zerfallen, Heitere. Nur in der Antike schien ihm das Ideal
seines Zeitalters: die höchste Ausbildung der Individualität, die Harmonie aller
dein Menschen verliehenen Kräfte erreicht worden zu sein. Die Neueren, war
seine Ansicht, konnten Außerordentliches höchstens durch Verbindung mehrerer
Fähigkeiten leisten. Diese Meinung entwickelte Goethe in wunderbaren Worten
in seiner im Jahre 1805 erschienenen Biographie Winckelmanns. Zwischen den
Zeilen aber stand, daß dieser Bruch in der Existenz der Menschen durch das
Christentum in die Welt gekommen sei. Winckelmann war sür ihn eine antike,
eine heidnische Gestalt.

Man nahm an, daß Goethe diese heidnische Gesinnung seines Helden
billigte und schrieb sie ihm selbst zu. Seitdem galt er in Deutschland für einen


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[0618] Goethes Religion Für die gleiche Sammlung war ein Distichon bestimmt, das Goethe selbst nicht hatte drucken lassen und das erst aus seinen: Nachlaß veröffentlicht wurde. Im Jahre 1790 hatte er die Osterwoche in Venedig zugebracht und dort der Zeremonie beigewohnt, bei der die Geistlichen das Bild des Gekreuzigten aus dem in der Kirche hergerichteten Grabe tragen. Darauf dichtete er die sarka¬ stischen Verse: Offen steht das Grab. Welch herrlich Wunder! Der Herr ist Auferstanden! Wer glaubt's? — Schelmen, ihr trugt ihn ja weg. Viel schärfer noch — und es ist das Schärfste, was Goethe gegen das Christentum gesagt hat — spricht er sich in den folgenden Versen des Zyklus aus: Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge Dult' ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebot. Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider; Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Christ. Auch hier scheute der Dichter völlige Offenheit. In den Ausgaben steht statt des letzten Wortes ein Kreuz. Aus einer erhalten gebliebenen Handschrift wissen wir, daß es .Christ' lautete. Jeder fühlt, daß diese Ausfälle der Ausfluß eines vorübergehenden Amantes und Zornes sind. Sie bezeichnen auch nicht den endgültigen Standpunkt des Dichters gegenüber dem Christentum und beziehen sich, wie ich schon bemerkt habe, mehr auf die Formen als auf den Gehalt des Glaubens, mehr auf die Konfession als auf die Religion. Ihre tiefere Begründung finden sie darin, daß der Dichter immer mehr von der Liebe zur Antike erfüllt wurde und von der Schönheit ihrer Kunst durchdrungen war. Damit ward ihn: zugleich die heimische, die er als Jüngling einst so gepriesen hatte — ich erinnere an seinen Hymnus auf das Straßburger Münster —, entfremdet. Das Stoffgebiet der deutschen Kunst galt ihn: für barbarisch. Wiederholt gebraucht er dieses Wort für seinen „Faust", an dein er in der Mitte der neunziger Jahre die Arbeit wieder aufnahm. Das Werk war ihm eine nordische oder barbarische Kom¬ position, von der aus er mit wehmütiger Sehnsucht auf die schöne homerische Welt blickte. So wurde Goethe mehr und mehr im Sinne der bekannten Antithese Heinrich Heines, wonach die Vertreter der Weltliteratur in Hellenen und Nazarener zerfallen, Heitere. Nur in der Antike schien ihm das Ideal seines Zeitalters: die höchste Ausbildung der Individualität, die Harmonie aller dein Menschen verliehenen Kräfte erreicht worden zu sein. Die Neueren, war seine Ansicht, konnten Außerordentliches höchstens durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten leisten. Diese Meinung entwickelte Goethe in wunderbaren Worten in seiner im Jahre 1805 erschienenen Biographie Winckelmanns. Zwischen den Zeilen aber stand, daß dieser Bruch in der Existenz der Menschen durch das Christentum in die Welt gekommen sei. Winckelmann war sür ihn eine antike, eine heidnische Gestalt. Man nahm an, daß Goethe diese heidnische Gesinnung seines Helden billigte und schrieb sie ihm selbst zu. Seitdem galt er in Deutschland für einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/618>, abgerufen am 22.07.2024.