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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Religion

bin, so haben mir dein Pilatus und so weiter widrige Eindrücke gemacht."
Und wenige Tage später: "Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die
göttlichste Wahrheit. Mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht
überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne
Mann gebiert und daß ein Toter aufersteht. Vielmehr halte ich dieses für
Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Du
findest nichts schöner als das Evangelium. Ich finde tausend geschriebene
Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen ebenso schön und der
Menschheit nützlich und unentbehrlich."

Als Goethe den vierten Band von Herders "Ideen" gelesen hatte, worin
unter anderm der Ursprung des Christentums und seine Entwicklung in Asien
und Europa dargestellt war, schrieb er dem Verfasser, der damals in Italien
war (den 4. September 1788): "Das Christentum hast Du nach Würden
behandelt. Ich danke Dir für mein Teil. Ich habe nun auch Gelegenheit,
von der Kunstseite es näher anzusehen und da wird's auch recht erbärmlich . . .
Es bleibt wahr: Das Märchen von Christus ist Ursache, daß die Welt noch
zehntausend Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es
ebenso viel Kraft des Wissens, des Verstandes, des Begriffs braucht, um es
zu verteidigen, als es zu bestreiten."

Zu derselben Zeit, da Goethe diese Worte schrieb, war er damit beschäftigt,
die im Anfang der siebziger Jahre begonnene Faustdichtung weiter zu führen
und zu vollenden. Es gelang ihm aber nicht, sie abzuschließen, und er ließ
1790 "Faust. Em Fragment" erscheinen. Zu den Szenen, die er damals
verfaßte, gehört die Hexenküche. Hier läßt er es an einer starken Satire gegen
das Trinitätsdogma nicht fehlen, wenn Mephisto sagt:


Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.

Daß damit nicht bloß des Teufels, sondern auch des Dichters eigene
Ansicht ausgesprochen ist, beweist eine Äußerung, die er ein Menschenalter später
zu Eckermann tat (am 4. Januar 1824): "Ich sollte auch glauben, daß Drei
Eins sei und Eins Drei. Das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner
Seele."

In dieser Epoche wandte sich Goethe überhaupt besonders heftig gegen die
kirchliche Lehre und ihren Kultus. Der Aufenthalt in Italien hatte ihm die
innere Unwahrheit der Zeremonien des bigotten Katholizismus vor Augen
geführt. In den Berichten der Italienischen Reise nennt er ihn ein barockes
Heidentum. In den "Venetianischen Epigrammen" lautet ein Distichon:


Seh ich den Pilgrim, so kann ich mich nie der Tränen enthalten.
O wie beseliget uns Menschen ein falscher Begriff!

Goethes Religion

bin, so haben mir dein Pilatus und so weiter widrige Eindrücke gemacht."
Und wenige Tage später: „Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die
göttlichste Wahrheit. Mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht
überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne
Mann gebiert und daß ein Toter aufersteht. Vielmehr halte ich dieses für
Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Du
findest nichts schöner als das Evangelium. Ich finde tausend geschriebene
Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen ebenso schön und der
Menschheit nützlich und unentbehrlich."

Als Goethe den vierten Band von Herders „Ideen" gelesen hatte, worin
unter anderm der Ursprung des Christentums und seine Entwicklung in Asien
und Europa dargestellt war, schrieb er dem Verfasser, der damals in Italien
war (den 4. September 1788): „Das Christentum hast Du nach Würden
behandelt. Ich danke Dir für mein Teil. Ich habe nun auch Gelegenheit,
von der Kunstseite es näher anzusehen und da wird's auch recht erbärmlich . . .
Es bleibt wahr: Das Märchen von Christus ist Ursache, daß die Welt noch
zehntausend Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es
ebenso viel Kraft des Wissens, des Verstandes, des Begriffs braucht, um es
zu verteidigen, als es zu bestreiten."

Zu derselben Zeit, da Goethe diese Worte schrieb, war er damit beschäftigt,
die im Anfang der siebziger Jahre begonnene Faustdichtung weiter zu führen
und zu vollenden. Es gelang ihm aber nicht, sie abzuschließen, und er ließ
1790 „Faust. Em Fragment" erscheinen. Zu den Szenen, die er damals
verfaßte, gehört die Hexenküche. Hier läßt er es an einer starken Satire gegen
das Trinitätsdogma nicht fehlen, wenn Mephisto sagt:


Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.

Daß damit nicht bloß des Teufels, sondern auch des Dichters eigene
Ansicht ausgesprochen ist, beweist eine Äußerung, die er ein Menschenalter später
zu Eckermann tat (am 4. Januar 1824): „Ich sollte auch glauben, daß Drei
Eins sei und Eins Drei. Das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner
Seele."

In dieser Epoche wandte sich Goethe überhaupt besonders heftig gegen die
kirchliche Lehre und ihren Kultus. Der Aufenthalt in Italien hatte ihm die
innere Unwahrheit der Zeremonien des bigotten Katholizismus vor Augen
geführt. In den Berichten der Italienischen Reise nennt er ihn ein barockes
Heidentum. In den „Venetianischen Epigrammen" lautet ein Distichon:


Seh ich den Pilgrim, so kann ich mich nie der Tränen enthalten.
O wie beseliget uns Menschen ein falscher Begriff!

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[0617] Goethes Religion bin, so haben mir dein Pilatus und so weiter widrige Eindrücke gemacht." Und wenige Tage später: „Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die göttlichste Wahrheit. Mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert und daß ein Toter aufersteht. Vielmehr halte ich dieses für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Du findest nichts schöner als das Evangelium. Ich finde tausend geschriebene Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen ebenso schön und der Menschheit nützlich und unentbehrlich." Als Goethe den vierten Band von Herders „Ideen" gelesen hatte, worin unter anderm der Ursprung des Christentums und seine Entwicklung in Asien und Europa dargestellt war, schrieb er dem Verfasser, der damals in Italien war (den 4. September 1788): „Das Christentum hast Du nach Würden behandelt. Ich danke Dir für mein Teil. Ich habe nun auch Gelegenheit, von der Kunstseite es näher anzusehen und da wird's auch recht erbärmlich . . . Es bleibt wahr: Das Märchen von Christus ist Ursache, daß die Welt noch zehntausend Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es ebenso viel Kraft des Wissens, des Verstandes, des Begriffs braucht, um es zu verteidigen, als es zu bestreiten." Zu derselben Zeit, da Goethe diese Worte schrieb, war er damit beschäftigt, die im Anfang der siebziger Jahre begonnene Faustdichtung weiter zu führen und zu vollenden. Es gelang ihm aber nicht, sie abzuschließen, und er ließ 1790 „Faust. Em Fragment" erscheinen. Zu den Szenen, die er damals verfaßte, gehört die Hexenküche. Hier läßt er es an einer starken Satire gegen das Trinitätsdogma nicht fehlen, wenn Mephisto sagt: Mein Freund, die Kunst ist alt und neu. Es war die Art zu allen Zeiten, Durch Drei und Eins und Eins und Drei Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten. Daß damit nicht bloß des Teufels, sondern auch des Dichters eigene Ansicht ausgesprochen ist, beweist eine Äußerung, die er ein Menschenalter später zu Eckermann tat (am 4. Januar 1824): „Ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei. Das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele." In dieser Epoche wandte sich Goethe überhaupt besonders heftig gegen die kirchliche Lehre und ihren Kultus. Der Aufenthalt in Italien hatte ihm die innere Unwahrheit der Zeremonien des bigotten Katholizismus vor Augen geführt. In den Berichten der Italienischen Reise nennt er ihn ein barockes Heidentum. In den „Venetianischen Epigrammen" lautet ein Distichon: Seh ich den Pilgrim, so kann ich mich nie der Tränen enthalten. O wie beseliget uns Menschen ein falscher Begriff!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/617>, abgerufen am 03.07.2024.