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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Religion

wissenschafteil so unendlich fruchtbaren, nicht genug zu bewundernden Zeitalters,
in dem Goethe zum Jüngling heranwuchs, ist daran beteiligt. Wir wissen jetzt, daß
die Katechisationsszene des "Faust" ihr Vorbild in der profe^Sion als le>i ein viLairs
8ave>^ara im vierten Buch von Rousseaus "Linne" hat. (Vgl. Walzel, "Das
Prometheussvmbol von Shaftesbury zu Goethe", Leipzig 1910.) Und die
innige Verschmelzung von Glauben und Empfindung floß aus der großen
Gefühls reaktion gegen Nationalismus und Dogmatismus, der unsere Poesie in
der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ihr Aufblühen und ihre Ver-
innerlichung verdankt. Ich brauche nur die Namen Klopstock, Hamann und
Herder zu nennen.

Für Goethe war also damals die Religion Sache des Gefühls. Sie war
ihm aber durchaus kein notwendiges Lebenselement. Er konnte sich ein würdiges
und edles Dasein vorstellen, das ihrer entrat. Das bezeugt eine Stelle aus
dem "Werther". Diese" Roman schrieb Goethe im Februar und März des
Jahres 1774 d. h. ungefähr in derselben Zeit, in der die zweite Gartenszene
im "Faust", die das Glaubensbekenntnis enthält, verfaßt ist. Hier nun läßt
er den Helden schreiben (Teil II, Brief vom 15. November): "Ich ehre die
Religion. Das weißt du. Ich fühle, daß sie manchem Ermatteten Stab,
manchem schmachtenden Erquickung ist. Nur -- kann sie denn, muß sie denn
das einem jeden sein? Wenn dn die große Welt ansiehst, so siehst du Tausende,
denen sie es nicht war; Tausende, denen sie es nicht sein wird, gepredigt und
ungepredigt; und muß sie mir es denn sein?"

Fausts Glaubensbekenntnis bildet den Kern der religiösen Anschauung Goethes.
Ihr blieb er sein weiteres Leben hindurch treu; nur daß er sie mit der Erweiterung
seiner naturwissenschaftlichen Interessen und Kenntnisse vertiefte und ihr auf
andere, sehr mannigfache Art Ausdruck gab. Das wird weiterhin deutlich werden.
Zunächst soll ini Anschluß an einige briefliche und dichterische Äußerungen des
Dichters sein Verhältnis zu der Religion, in der er aufgewachsen war, noch
Heller beleuchtet werden. Ich hebe dabei hervor, daß es sich in diesen Zeugnissen
lediglich um den positiven Glauben des Christentums handelt, nicht um seinen
geistigen und ethischen Gehalt oder den der heiligen Schriften, worauf es zunächst
gegründet ist. Sie schätzte Goethe bekanntlich zu allen Zeiten hoch, wie schon
der Einfluß beweist, den sie auf seine Poesie genommen haben. In "Dichtung
und Wahrheit" wie in den Noten und Abhandlungen zum "Divan" spricht er
es selbst aus, von welcher unendlichen Bedeutung die Bibel für seine Ent¬
wicklung gewesen ist.

Im Mai 1775 schrieb der Dichter an Herder in dem derben Tone des
Sturmes und Dranges: "Wenn nur die ganze Lehre von Christo nicht so ein
sah . . . ding wäre, das mich als Mensch, als eingeschränktes, bedürftiges Ding
rasend macht, so wär' mir auch das Objekt lieb." ("Der junge Goethe" 5, 30.)

Als 1782 Lavaters "Pontius Pilatus" erschienen war, schrieb ihm Goethe:
"Da ich zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein dezidierter Nichtchrist


Goethes Religion

wissenschafteil so unendlich fruchtbaren, nicht genug zu bewundernden Zeitalters,
in dem Goethe zum Jüngling heranwuchs, ist daran beteiligt. Wir wissen jetzt, daß
die Katechisationsszene des „Faust" ihr Vorbild in der profe^Sion als le>i ein viLairs
8ave>^ara im vierten Buch von Rousseaus „Linne" hat. (Vgl. Walzel, „Das
Prometheussvmbol von Shaftesbury zu Goethe", Leipzig 1910.) Und die
innige Verschmelzung von Glauben und Empfindung floß aus der großen
Gefühls reaktion gegen Nationalismus und Dogmatismus, der unsere Poesie in
der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ihr Aufblühen und ihre Ver-
innerlichung verdankt. Ich brauche nur die Namen Klopstock, Hamann und
Herder zu nennen.

Für Goethe war also damals die Religion Sache des Gefühls. Sie war
ihm aber durchaus kein notwendiges Lebenselement. Er konnte sich ein würdiges
und edles Dasein vorstellen, das ihrer entrat. Das bezeugt eine Stelle aus
dem „Werther". Diese» Roman schrieb Goethe im Februar und März des
Jahres 1774 d. h. ungefähr in derselben Zeit, in der die zweite Gartenszene
im „Faust", die das Glaubensbekenntnis enthält, verfaßt ist. Hier nun läßt
er den Helden schreiben (Teil II, Brief vom 15. November): „Ich ehre die
Religion. Das weißt du. Ich fühle, daß sie manchem Ermatteten Stab,
manchem schmachtenden Erquickung ist. Nur — kann sie denn, muß sie denn
das einem jeden sein? Wenn dn die große Welt ansiehst, so siehst du Tausende,
denen sie es nicht war; Tausende, denen sie es nicht sein wird, gepredigt und
ungepredigt; und muß sie mir es denn sein?"

Fausts Glaubensbekenntnis bildet den Kern der religiösen Anschauung Goethes.
Ihr blieb er sein weiteres Leben hindurch treu; nur daß er sie mit der Erweiterung
seiner naturwissenschaftlichen Interessen und Kenntnisse vertiefte und ihr auf
andere, sehr mannigfache Art Ausdruck gab. Das wird weiterhin deutlich werden.
Zunächst soll ini Anschluß an einige briefliche und dichterische Äußerungen des
Dichters sein Verhältnis zu der Religion, in der er aufgewachsen war, noch
Heller beleuchtet werden. Ich hebe dabei hervor, daß es sich in diesen Zeugnissen
lediglich um den positiven Glauben des Christentums handelt, nicht um seinen
geistigen und ethischen Gehalt oder den der heiligen Schriften, worauf es zunächst
gegründet ist. Sie schätzte Goethe bekanntlich zu allen Zeiten hoch, wie schon
der Einfluß beweist, den sie auf seine Poesie genommen haben. In „Dichtung
und Wahrheit" wie in den Noten und Abhandlungen zum „Divan" spricht er
es selbst aus, von welcher unendlichen Bedeutung die Bibel für seine Ent¬
wicklung gewesen ist.

Im Mai 1775 schrieb der Dichter an Herder in dem derben Tone des
Sturmes und Dranges: „Wenn nur die ganze Lehre von Christo nicht so ein
sah . . . ding wäre, das mich als Mensch, als eingeschränktes, bedürftiges Ding
rasend macht, so wär' mir auch das Objekt lieb." („Der junge Goethe" 5, 30.)

Als 1782 Lavaters „Pontius Pilatus" erschienen war, schrieb ihm Goethe:
„Da ich zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein dezidierter Nichtchrist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/616>, abgerufen am 03.07.2024.