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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Ständoglwdn'nig und Ständeverfassnng

und ihrem freien Wettbewerb beruhende Volkswirtschaft schließt jedoch die Reihe
der geschichtlichen Ständeentwicklung und Wirtschaftsformen keineswegs ab, sondern
zeigt uns vielfach bereits Ansätze und Tendenzen, welche wiederum gar manche
Analogien zu der vorausgegangenen, mittelalterlichen Stufe erkennen lassen und
die Aussicht auf einen allmählichen Übergang zu neuen, höheren Formen
ständischer Gebundenheit zu eröffnen scheinen.

Der freie Wettbewerb führt in seiner fortgesetzten Steigerung zu seiner
eigenen Einschränkung oder Aufhebung, indem er die Konkurrenten veranlaßt,
sich zur Förderung gemeinsamer, die Kräfte des einzelnen übersteigender Auf¬
gaben und zur Verbesserung der Lage ihres Geschäftszweiges zu Fachvcrcinen und
Jnteressentenverbänden zusanunenzuschließen und sich, wo die Voraussetzungen
dafür gegeben sind, auch untereinander über Verkaufsbedingungen und Preise,
Produktionsumfang und Absatzgebiet im Wege des Abschlusses von Verein¬
barungen, der Gründung von Kartellen und Syndikaten zu ewigen. Wie die
alten Zünfte dem Handwerker vorschrieben, was und wieviel, zu welchen Preisen
und für wen er produzieren dürfe, wie sie eine Rechtsprechung über ihn hatten,
ein Verhältnis zu deu Zunftgenossen und nach außen, zu den Abnehmern und
zu anderen Zünften bestimmten, seine sonstigen Interessen wahrnahmen und
seinem Handwerk Einfluß zu verschaffen strebten, so stellen sich die gegenwärtig
in alleu Industriezweigen bestehenden Fachvereine und Verbände und die in
vielen von ihnen auftretenden Kartelle und Syndikate als ständische Gebilde
ähnlicher Art und Bestimmung in bezug auf die heutigen Verhältnisse dar,
und dasselbe gilt von den Interessengemeinschaften, Verbänden und Vereinen in
den einzelnen Zweigen des Groß- und Kleinhandels, der Bank-, Versicherungs¬
und Transportgewerbe, wie vor allem auch denjenigen der Landwirtschaft.
Überall zeigt sich als Folge des wirtschaftlichen Kampfes innerhalb der Erwerbszweige
oder der Erwerbszweige untereinander eine fortschreitende Ausbildung und Aus¬
breitung freier berufsständischer Vereinigungen der mannigfachsten Art und
Zweckbestimmung. Eine berufsstäudische Bindung des freien Wettbewerbs und
individuellen Handelns des einzelnen vollzieht sich aber nicht allein für die
selbständigen, sondern auch für die abhängigen Erwerbsstände, durch die großen
Verbände der Handlungsgehilfen und technischen und industriellen Angestellten
sowie die Gewerkschaften der Arbeiter, die die Lohn- und Arbeitsverhältnisse in
den einzelnen Erwerbszweigen, den Abschluß von Tarifverträgen und die gesamte
wirtschaftliche Organisation des Arbeiterstandes zum Gegenstand ihrer Bestrebungen
und Betätigung haben.

Tritt sonach der Grundsatz ständischen Zusanmienschlusses unter allmählicher
Einengung und Zurückdrängung des Individualismus in der heutigen Volks¬
wirtschaft mehr und mehr in Wirksamkeit, so begegnen wir auch bereits in
Staat und Politik Ansätzen und Anzeichen neuer ständischer Entwicklung, teils
erleichtert, teils gehemmt durch geschichtlich überkommene, erhalten gebliebene
Faktoren ständischer Natur.


Ständoglwdn'nig und Ständeverfassnng

und ihrem freien Wettbewerb beruhende Volkswirtschaft schließt jedoch die Reihe
der geschichtlichen Ständeentwicklung und Wirtschaftsformen keineswegs ab, sondern
zeigt uns vielfach bereits Ansätze und Tendenzen, welche wiederum gar manche
Analogien zu der vorausgegangenen, mittelalterlichen Stufe erkennen lassen und
die Aussicht auf einen allmählichen Übergang zu neuen, höheren Formen
ständischer Gebundenheit zu eröffnen scheinen.

Der freie Wettbewerb führt in seiner fortgesetzten Steigerung zu seiner
eigenen Einschränkung oder Aufhebung, indem er die Konkurrenten veranlaßt,
sich zur Förderung gemeinsamer, die Kräfte des einzelnen übersteigender Auf¬
gaben und zur Verbesserung der Lage ihres Geschäftszweiges zu Fachvcrcinen und
Jnteressentenverbänden zusanunenzuschließen und sich, wo die Voraussetzungen
dafür gegeben sind, auch untereinander über Verkaufsbedingungen und Preise,
Produktionsumfang und Absatzgebiet im Wege des Abschlusses von Verein¬
barungen, der Gründung von Kartellen und Syndikaten zu ewigen. Wie die
alten Zünfte dem Handwerker vorschrieben, was und wieviel, zu welchen Preisen
und für wen er produzieren dürfe, wie sie eine Rechtsprechung über ihn hatten,
ein Verhältnis zu deu Zunftgenossen und nach außen, zu den Abnehmern und
zu anderen Zünften bestimmten, seine sonstigen Interessen wahrnahmen und
seinem Handwerk Einfluß zu verschaffen strebten, so stellen sich die gegenwärtig
in alleu Industriezweigen bestehenden Fachvereine und Verbände und die in
vielen von ihnen auftretenden Kartelle und Syndikate als ständische Gebilde
ähnlicher Art und Bestimmung in bezug auf die heutigen Verhältnisse dar,
und dasselbe gilt von den Interessengemeinschaften, Verbänden und Vereinen in
den einzelnen Zweigen des Groß- und Kleinhandels, der Bank-, Versicherungs¬
und Transportgewerbe, wie vor allem auch denjenigen der Landwirtschaft.
Überall zeigt sich als Folge des wirtschaftlichen Kampfes innerhalb der Erwerbszweige
oder der Erwerbszweige untereinander eine fortschreitende Ausbildung und Aus¬
breitung freier berufsständischer Vereinigungen der mannigfachsten Art und
Zweckbestimmung. Eine berufsstäudische Bindung des freien Wettbewerbs und
individuellen Handelns des einzelnen vollzieht sich aber nicht allein für die
selbständigen, sondern auch für die abhängigen Erwerbsstände, durch die großen
Verbände der Handlungsgehilfen und technischen und industriellen Angestellten
sowie die Gewerkschaften der Arbeiter, die die Lohn- und Arbeitsverhältnisse in
den einzelnen Erwerbszweigen, den Abschluß von Tarifverträgen und die gesamte
wirtschaftliche Organisation des Arbeiterstandes zum Gegenstand ihrer Bestrebungen
und Betätigung haben.

Tritt sonach der Grundsatz ständischen Zusanmienschlusses unter allmählicher
Einengung und Zurückdrängung des Individualismus in der heutigen Volks¬
wirtschaft mehr und mehr in Wirksamkeit, so begegnen wir auch bereits in
Staat und Politik Ansätzen und Anzeichen neuer ständischer Entwicklung, teils
erleichtert, teils gehemmt durch geschichtlich überkommene, erhalten gebliebene
Faktoren ständischer Natur.


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[0608] Ständoglwdn'nig und Ständeverfassnng und ihrem freien Wettbewerb beruhende Volkswirtschaft schließt jedoch die Reihe der geschichtlichen Ständeentwicklung und Wirtschaftsformen keineswegs ab, sondern zeigt uns vielfach bereits Ansätze und Tendenzen, welche wiederum gar manche Analogien zu der vorausgegangenen, mittelalterlichen Stufe erkennen lassen und die Aussicht auf einen allmählichen Übergang zu neuen, höheren Formen ständischer Gebundenheit zu eröffnen scheinen. Der freie Wettbewerb führt in seiner fortgesetzten Steigerung zu seiner eigenen Einschränkung oder Aufhebung, indem er die Konkurrenten veranlaßt, sich zur Förderung gemeinsamer, die Kräfte des einzelnen übersteigender Auf¬ gaben und zur Verbesserung der Lage ihres Geschäftszweiges zu Fachvcrcinen und Jnteressentenverbänden zusanunenzuschließen und sich, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind, auch untereinander über Verkaufsbedingungen und Preise, Produktionsumfang und Absatzgebiet im Wege des Abschlusses von Verein¬ barungen, der Gründung von Kartellen und Syndikaten zu ewigen. Wie die alten Zünfte dem Handwerker vorschrieben, was und wieviel, zu welchen Preisen und für wen er produzieren dürfe, wie sie eine Rechtsprechung über ihn hatten, ein Verhältnis zu deu Zunftgenossen und nach außen, zu den Abnehmern und zu anderen Zünften bestimmten, seine sonstigen Interessen wahrnahmen und seinem Handwerk Einfluß zu verschaffen strebten, so stellen sich die gegenwärtig in alleu Industriezweigen bestehenden Fachvereine und Verbände und die in vielen von ihnen auftretenden Kartelle und Syndikate als ständische Gebilde ähnlicher Art und Bestimmung in bezug auf die heutigen Verhältnisse dar, und dasselbe gilt von den Interessengemeinschaften, Verbänden und Vereinen in den einzelnen Zweigen des Groß- und Kleinhandels, der Bank-, Versicherungs¬ und Transportgewerbe, wie vor allem auch denjenigen der Landwirtschaft. Überall zeigt sich als Folge des wirtschaftlichen Kampfes innerhalb der Erwerbszweige oder der Erwerbszweige untereinander eine fortschreitende Ausbildung und Aus¬ breitung freier berufsständischer Vereinigungen der mannigfachsten Art und Zweckbestimmung. Eine berufsstäudische Bindung des freien Wettbewerbs und individuellen Handelns des einzelnen vollzieht sich aber nicht allein für die selbständigen, sondern auch für die abhängigen Erwerbsstände, durch die großen Verbände der Handlungsgehilfen und technischen und industriellen Angestellten sowie die Gewerkschaften der Arbeiter, die die Lohn- und Arbeitsverhältnisse in den einzelnen Erwerbszweigen, den Abschluß von Tarifverträgen und die gesamte wirtschaftliche Organisation des Arbeiterstandes zum Gegenstand ihrer Bestrebungen und Betätigung haben. Tritt sonach der Grundsatz ständischen Zusanmienschlusses unter allmählicher Einengung und Zurückdrängung des Individualismus in der heutigen Volks¬ wirtschaft mehr und mehr in Wirksamkeit, so begegnen wir auch bereits in Staat und Politik Ansätzen und Anzeichen neuer ständischer Entwicklung, teils erleichtert, teils gehemmt durch geschichtlich überkommene, erhalten gebliebene Faktoren ständischer Natur.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/608>, abgerufen am 03.07.2024.