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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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und Herren ihre ständischen, wirtschaftlichen wie politischen Aufgaben dienenden
Körperschaften und Verbände, und seinen Ausdruck und seine Krönung findet
dieses allenthalben feudal und ständisch entwickelte System schließlich in der
staatsrechtlichen Verfassung der Reichs- und Landstände, den in der Regel ans
den drei Kurier der Prälaten, Ritter und Städte, zur Teil auch Vertretern der
Herren und Bauern bestehenden gemeinen Landschaften und dem in die drei Kurier
der Kurfürsten, der Grafen und Herren und der Reichsstädte gegliederten Reichstag.

Der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Volkswirtschaft
und fortschreitenden Ausbildung der Territorialgewalt und moderner Staatswesen
vermag die den Wirtschafts- und Staatsformen des Mittelalters entsprungene
Gliederung und Verfassung der Stände auf die Dauer nicht standzuhalten.
Die in den mittelalterlichen Verhältnissen begründet und nützlich gewesenen
zunftmäßigen und feudalen Einrichtungen, Vorrechte und Schranken versagen
gegenüber dem "eben das Handwerk und zum Teil an seine Stelle tretenden
Manufakturen- und Fabrikwcse", gegenüber der Ausbildung des neuzeitlichen
Handels und Verkehrs, gegenüber der Ausdehnung und dem Fortschritt der
Bevölkerung, ihres Knltnrstandes und staatsbürgerlichen Bewußtseins. Sie
werden, je mehr mau sie noch zu halten und auszunutzen trachtet, zu Aus¬
wüchsen und Härten und müssen schließlich der wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung weichen. An die Stelle der feudalen Grundherrschaft treten der
mit freien Arbeitern produzierende Großgrundbesitzer und der freie Bauer, an
die Stelle des überkommenen zunftmäßig geordneten Handwerks und Handels
eine Fülle neuer, im freien Wettbewerb um den lokalen und den Weltmarkt
ringender Gewerbe-, Handel- und Industriezweige mit den neuen großen Ständen
der Arbeiter und Privatangcstellten. An der Stelle der gewerblichen und politischen
Gebundenheit gewahren wir nach vielen Wandlungen und Kämpfen gewerbliche
und politische Freiheit, an Stelle der halb privatrechtlichen Staatsgebilde des
Mittelalters und der alten Reichs- und Landstünde den modernen Staats¬
gedanken, zunächst als aufgeklärten Absolutismus, bald aber den konstitutionellen
Staat mit freien, aus Wahlen aller Staatsbürger hervorgehenden Parlamenten
und Selbstverwaltungskörpern. Ausgenommen davon sind freilich die ersten, zum
Teil auch die zweiten Kannnern und die Provinzial- und Kreisvertretungen einzelner
Bundesstaaten, die noch stark mit ständischen Elementen und Vorrechten durchsetzt
sind und zum Teil nu die alten Landstände anknüpfen oder doch erinnern. Im
allgemeinen aber, wenigstens bei den zweiten Kammern und besonders beim
Reichstag des neuen Reiches entstehen an Stelle der alte", uuter dem Absolutismus
verdrängte" Landstände vom Volk gewählte Parlamente, deren Mitglieder und
Parteien nicht mehr als Delegierte von Ständen, sondern als Mandatare der
Gesamtheit erscheinen und der Wohlfahrt deS Volkes und Staates im ganzen
dienen sollen.

Auch die ans der Überwindung der mittelalterlichen Gebundenheit, Schranken
und Vorrechte hervorgegangene, ans der Gleichheit und Freiheit aller Stände


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und Herren ihre ständischen, wirtschaftlichen wie politischen Aufgaben dienenden
Körperschaften und Verbände, und seinen Ausdruck und seine Krönung findet
dieses allenthalben feudal und ständisch entwickelte System schließlich in der
staatsrechtlichen Verfassung der Reichs- und Landstände, den in der Regel ans
den drei Kurier der Prälaten, Ritter und Städte, zur Teil auch Vertretern der
Herren und Bauern bestehenden gemeinen Landschaften und dem in die drei Kurier
der Kurfürsten, der Grafen und Herren und der Reichsstädte gegliederten Reichstag.

Der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Volkswirtschaft
und fortschreitenden Ausbildung der Territorialgewalt und moderner Staatswesen
vermag die den Wirtschafts- und Staatsformen des Mittelalters entsprungene
Gliederung und Verfassung der Stände auf die Dauer nicht standzuhalten.
Die in den mittelalterlichen Verhältnissen begründet und nützlich gewesenen
zunftmäßigen und feudalen Einrichtungen, Vorrechte und Schranken versagen
gegenüber dem »eben das Handwerk und zum Teil an seine Stelle tretenden
Manufakturen- und Fabrikwcse», gegenüber der Ausbildung des neuzeitlichen
Handels und Verkehrs, gegenüber der Ausdehnung und dem Fortschritt der
Bevölkerung, ihres Knltnrstandes und staatsbürgerlichen Bewußtseins. Sie
werden, je mehr mau sie noch zu halten und auszunutzen trachtet, zu Aus¬
wüchsen und Härten und müssen schließlich der wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung weichen. An die Stelle der feudalen Grundherrschaft treten der
mit freien Arbeitern produzierende Großgrundbesitzer und der freie Bauer, an
die Stelle des überkommenen zunftmäßig geordneten Handwerks und Handels
eine Fülle neuer, im freien Wettbewerb um den lokalen und den Weltmarkt
ringender Gewerbe-, Handel- und Industriezweige mit den neuen großen Ständen
der Arbeiter und Privatangcstellten. An der Stelle der gewerblichen und politischen
Gebundenheit gewahren wir nach vielen Wandlungen und Kämpfen gewerbliche
und politische Freiheit, an Stelle der halb privatrechtlichen Staatsgebilde des
Mittelalters und der alten Reichs- und Landstünde den modernen Staats¬
gedanken, zunächst als aufgeklärten Absolutismus, bald aber den konstitutionellen
Staat mit freien, aus Wahlen aller Staatsbürger hervorgehenden Parlamenten
und Selbstverwaltungskörpern. Ausgenommen davon sind freilich die ersten, zum
Teil auch die zweiten Kannnern und die Provinzial- und Kreisvertretungen einzelner
Bundesstaaten, die noch stark mit ständischen Elementen und Vorrechten durchsetzt
sind und zum Teil nu die alten Landstände anknüpfen oder doch erinnern. Im
allgemeinen aber, wenigstens bei den zweiten Kammern und besonders beim
Reichstag des neuen Reiches entstehen an Stelle der alte», uuter dem Absolutismus
verdrängte» Landstände vom Volk gewählte Parlamente, deren Mitglieder und
Parteien nicht mehr als Delegierte von Ständen, sondern als Mandatare der
Gesamtheit erscheinen und der Wohlfahrt deS Volkes und Staates im ganzen
dienen sollen.

Auch die ans der Überwindung der mittelalterlichen Gebundenheit, Schranken
und Vorrechte hervorgegangene, ans der Gleichheit und Freiheit aller Stände


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[0607] Ständcglicdenlng und Ständcvcrfassun^ und Herren ihre ständischen, wirtschaftlichen wie politischen Aufgaben dienenden Körperschaften und Verbände, und seinen Ausdruck und seine Krönung findet dieses allenthalben feudal und ständisch entwickelte System schließlich in der staatsrechtlichen Verfassung der Reichs- und Landstände, den in der Regel ans den drei Kurier der Prälaten, Ritter und Städte, zur Teil auch Vertretern der Herren und Bauern bestehenden gemeinen Landschaften und dem in die drei Kurier der Kurfürsten, der Grafen und Herren und der Reichsstädte gegliederten Reichstag. Der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Volkswirtschaft und fortschreitenden Ausbildung der Territorialgewalt und moderner Staatswesen vermag die den Wirtschafts- und Staatsformen des Mittelalters entsprungene Gliederung und Verfassung der Stände auf die Dauer nicht standzuhalten. Die in den mittelalterlichen Verhältnissen begründet und nützlich gewesenen zunftmäßigen und feudalen Einrichtungen, Vorrechte und Schranken versagen gegenüber dem »eben das Handwerk und zum Teil an seine Stelle tretenden Manufakturen- und Fabrikwcse», gegenüber der Ausbildung des neuzeitlichen Handels und Verkehrs, gegenüber der Ausdehnung und dem Fortschritt der Bevölkerung, ihres Knltnrstandes und staatsbürgerlichen Bewußtseins. Sie werden, je mehr mau sie noch zu halten und auszunutzen trachtet, zu Aus¬ wüchsen und Härten und müssen schließlich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung weichen. An die Stelle der feudalen Grundherrschaft treten der mit freien Arbeitern produzierende Großgrundbesitzer und der freie Bauer, an die Stelle des überkommenen zunftmäßig geordneten Handwerks und Handels eine Fülle neuer, im freien Wettbewerb um den lokalen und den Weltmarkt ringender Gewerbe-, Handel- und Industriezweige mit den neuen großen Ständen der Arbeiter und Privatangcstellten. An der Stelle der gewerblichen und politischen Gebundenheit gewahren wir nach vielen Wandlungen und Kämpfen gewerbliche und politische Freiheit, an Stelle der halb privatrechtlichen Staatsgebilde des Mittelalters und der alten Reichs- und Landstünde den modernen Staats¬ gedanken, zunächst als aufgeklärten Absolutismus, bald aber den konstitutionellen Staat mit freien, aus Wahlen aller Staatsbürger hervorgehenden Parlamenten und Selbstverwaltungskörpern. Ausgenommen davon sind freilich die ersten, zum Teil auch die zweiten Kannnern und die Provinzial- und Kreisvertretungen einzelner Bundesstaaten, die noch stark mit ständischen Elementen und Vorrechten durchsetzt sind und zum Teil nu die alten Landstände anknüpfen oder doch erinnern. Im allgemeinen aber, wenigstens bei den zweiten Kammern und besonders beim Reichstag des neuen Reiches entstehen an Stelle der alte», uuter dem Absolutismus verdrängte» Landstände vom Volk gewählte Parlamente, deren Mitglieder und Parteien nicht mehr als Delegierte von Ständen, sondern als Mandatare der Gesamtheit erscheinen und der Wohlfahrt deS Volkes und Staates im ganzen dienen sollen. Auch die ans der Überwindung der mittelalterlichen Gebundenheit, Schranken und Vorrechte hervorgegangene, ans der Gleichheit und Freiheit aller Stände

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/607>, abgerufen am 22.07.2024.