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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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PscudokonscrvcNivismus in t>er Schule

Kritik des Gymnasiums beschränkte, ist darin begründet, daß ich eben nur diese
Schule aus meiner Schulzeit und aus meiner Lehrtätigkeit kenne. Ich nehme
nach den Lehrplänen an, daß die Überbürdung der Jugend an den Realschulen
noch größer ist als an den humanistischen. Ich nehme auch als wahrscheinlich
an, daß die aus der Überbürdung sich ergebenden sittlichen und gesundheitlichen
Schäden sich auch an den Schülern der Realschulen zeigen. Jedenfalls entsprang
die Benennung meiner Schrift nicht besonderer Abneigung gegen die Schulform,
an der ich selbst tütig bin, sondern der Sorge um die mir bekannte Jugend
und der auf meine Erfahrung gegründeten Befürchtung, das Gymnasium, das
trotz der beginnenden Abwanderung zu den Realanstalten den: Volke noch
jahrzehntelang den größten Teil seiner Führer liefern dürfte, werde schwache
Führer und starke Verführer liefern.

Im übrigen hat mich keiner meiner Kritiker widerlegt. Man hat es
natürlich gefunden, daß von Schülern, die neun Jahre unter staatlicher Kontrolle
stehen, über deren schönste Jugendjahre die Schule schrankenlos verfügt, am
Ende der Schulzeit nicht mehr als 62, 64, 66, 67 Prozent für den Heeresdienst
tauglich sind. Man hat selbstbewußt darauf hingewiesen, daß die Schüler
höherer Lehranstalten zum Waffendienst tauglicher waren als die übrigen Heeres¬
pflichtigen, 64,7 Prozent: 57,3 Prozent. Man hat das oft nicht erklärbare Licht,
das aus der Statistik auf die Mittelschulen fiel, addiere, um das Dunkel des
schweren, restlos erklärbaren Schattens, der die Schule trifft, zu erhellen. Das
heißt die Krankheit unterschätzen, weil noch ein Gesundheitsrest vorhanden ist.
Der Arzt richtet den Blick auf das Krankheitsbild, nicht auf die Gesundheits¬
reste. Aber auch dieser Gesundheitsrest muß jedem, der sein Volk liebt, zu
klein sein, er darf ihm nicht genügen. Die Zahl 57,3, die die Tauglichkeit
der nicht zum einjährig-freiwilligen Dienst berechtigten deutschen Wehrpflichtigen
bezeichnet, ist erschreckend niedrig. Sie ist der Rest der Volkskraft, den die
Vererbung von Krankheiten, die Not des Elternhauses, und daraus hervor¬
gehend die Mängel der Ernährung, Kleidung, Wohnung, die Vernachlässigung
von Krankheiten, die verkrüppelnde, zerrüttende Ausnützung der kindlichen Kraft
übrig lassen. Was besonders auf dem Lande an der Tauglichkeit nagt, schildert
Generalstabsarzt Dr. v. Vogt überzeugend: "Der Untauglichkeit am Lande
liegen... vor allem die Folgen schwerer Verletzungen im landwirtschaftlichen
Betrieb, und nur zu häufig auch in Naufexzessen als Schädelwunden, Stich¬
wunden in Brust und Unterleib, Sehnendurchschneidnng usf. zugrunde; die
Plattfußbildung und die Zahl der durch Pfuscherhände schlecht geheilten Bein¬
brüche und Verrenkungen ist unendlich; ebenso strichweise der Kropf. Alle diese
Zustände betreffen aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sonst ganz
gesunde und kräftige Wehrpflichtige, deren Untauglichkeit für die Wehrkraft
einen empfindlichen Verlust bedeutet. Noch ist eines Plus von Untauglichen
vom Land zu gedenken, das sind die Opfer der elterlichen Indolenz gegenüber
inneren Erkrankungen der Kinder, namentlich die Schwerhörigkeit nach erstandenen


PscudokonscrvcNivismus in t>er Schule

Kritik des Gymnasiums beschränkte, ist darin begründet, daß ich eben nur diese
Schule aus meiner Schulzeit und aus meiner Lehrtätigkeit kenne. Ich nehme
nach den Lehrplänen an, daß die Überbürdung der Jugend an den Realschulen
noch größer ist als an den humanistischen. Ich nehme auch als wahrscheinlich
an, daß die aus der Überbürdung sich ergebenden sittlichen und gesundheitlichen
Schäden sich auch an den Schülern der Realschulen zeigen. Jedenfalls entsprang
die Benennung meiner Schrift nicht besonderer Abneigung gegen die Schulform,
an der ich selbst tütig bin, sondern der Sorge um die mir bekannte Jugend
und der auf meine Erfahrung gegründeten Befürchtung, das Gymnasium, das
trotz der beginnenden Abwanderung zu den Realanstalten den: Volke noch
jahrzehntelang den größten Teil seiner Führer liefern dürfte, werde schwache
Führer und starke Verführer liefern.

Im übrigen hat mich keiner meiner Kritiker widerlegt. Man hat es
natürlich gefunden, daß von Schülern, die neun Jahre unter staatlicher Kontrolle
stehen, über deren schönste Jugendjahre die Schule schrankenlos verfügt, am
Ende der Schulzeit nicht mehr als 62, 64, 66, 67 Prozent für den Heeresdienst
tauglich sind. Man hat selbstbewußt darauf hingewiesen, daß die Schüler
höherer Lehranstalten zum Waffendienst tauglicher waren als die übrigen Heeres¬
pflichtigen, 64,7 Prozent: 57,3 Prozent. Man hat das oft nicht erklärbare Licht,
das aus der Statistik auf die Mittelschulen fiel, addiere, um das Dunkel des
schweren, restlos erklärbaren Schattens, der die Schule trifft, zu erhellen. Das
heißt die Krankheit unterschätzen, weil noch ein Gesundheitsrest vorhanden ist.
Der Arzt richtet den Blick auf das Krankheitsbild, nicht auf die Gesundheits¬
reste. Aber auch dieser Gesundheitsrest muß jedem, der sein Volk liebt, zu
klein sein, er darf ihm nicht genügen. Die Zahl 57,3, die die Tauglichkeit
der nicht zum einjährig-freiwilligen Dienst berechtigten deutschen Wehrpflichtigen
bezeichnet, ist erschreckend niedrig. Sie ist der Rest der Volkskraft, den die
Vererbung von Krankheiten, die Not des Elternhauses, und daraus hervor¬
gehend die Mängel der Ernährung, Kleidung, Wohnung, die Vernachlässigung
von Krankheiten, die verkrüppelnde, zerrüttende Ausnützung der kindlichen Kraft
übrig lassen. Was besonders auf dem Lande an der Tauglichkeit nagt, schildert
Generalstabsarzt Dr. v. Vogt überzeugend: „Der Untauglichkeit am Lande
liegen... vor allem die Folgen schwerer Verletzungen im landwirtschaftlichen
Betrieb, und nur zu häufig auch in Naufexzessen als Schädelwunden, Stich¬
wunden in Brust und Unterleib, Sehnendurchschneidnng usf. zugrunde; die
Plattfußbildung und die Zahl der durch Pfuscherhände schlecht geheilten Bein¬
brüche und Verrenkungen ist unendlich; ebenso strichweise der Kropf. Alle diese
Zustände betreffen aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sonst ganz
gesunde und kräftige Wehrpflichtige, deren Untauglichkeit für die Wehrkraft
einen empfindlichen Verlust bedeutet. Noch ist eines Plus von Untauglichen
vom Land zu gedenken, das sind die Opfer der elterlichen Indolenz gegenüber
inneren Erkrankungen der Kinder, namentlich die Schwerhörigkeit nach erstandenen


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[0563] PscudokonscrvcNivismus in t>er Schule Kritik des Gymnasiums beschränkte, ist darin begründet, daß ich eben nur diese Schule aus meiner Schulzeit und aus meiner Lehrtätigkeit kenne. Ich nehme nach den Lehrplänen an, daß die Überbürdung der Jugend an den Realschulen noch größer ist als an den humanistischen. Ich nehme auch als wahrscheinlich an, daß die aus der Überbürdung sich ergebenden sittlichen und gesundheitlichen Schäden sich auch an den Schülern der Realschulen zeigen. Jedenfalls entsprang die Benennung meiner Schrift nicht besonderer Abneigung gegen die Schulform, an der ich selbst tütig bin, sondern der Sorge um die mir bekannte Jugend und der auf meine Erfahrung gegründeten Befürchtung, das Gymnasium, das trotz der beginnenden Abwanderung zu den Realanstalten den: Volke noch jahrzehntelang den größten Teil seiner Führer liefern dürfte, werde schwache Führer und starke Verführer liefern. Im übrigen hat mich keiner meiner Kritiker widerlegt. Man hat es natürlich gefunden, daß von Schülern, die neun Jahre unter staatlicher Kontrolle stehen, über deren schönste Jugendjahre die Schule schrankenlos verfügt, am Ende der Schulzeit nicht mehr als 62, 64, 66, 67 Prozent für den Heeresdienst tauglich sind. Man hat selbstbewußt darauf hingewiesen, daß die Schüler höherer Lehranstalten zum Waffendienst tauglicher waren als die übrigen Heeres¬ pflichtigen, 64,7 Prozent: 57,3 Prozent. Man hat das oft nicht erklärbare Licht, das aus der Statistik auf die Mittelschulen fiel, addiere, um das Dunkel des schweren, restlos erklärbaren Schattens, der die Schule trifft, zu erhellen. Das heißt die Krankheit unterschätzen, weil noch ein Gesundheitsrest vorhanden ist. Der Arzt richtet den Blick auf das Krankheitsbild, nicht auf die Gesundheits¬ reste. Aber auch dieser Gesundheitsrest muß jedem, der sein Volk liebt, zu klein sein, er darf ihm nicht genügen. Die Zahl 57,3, die die Tauglichkeit der nicht zum einjährig-freiwilligen Dienst berechtigten deutschen Wehrpflichtigen bezeichnet, ist erschreckend niedrig. Sie ist der Rest der Volkskraft, den die Vererbung von Krankheiten, die Not des Elternhauses, und daraus hervor¬ gehend die Mängel der Ernährung, Kleidung, Wohnung, die Vernachlässigung von Krankheiten, die verkrüppelnde, zerrüttende Ausnützung der kindlichen Kraft übrig lassen. Was besonders auf dem Lande an der Tauglichkeit nagt, schildert Generalstabsarzt Dr. v. Vogt überzeugend: „Der Untauglichkeit am Lande liegen... vor allem die Folgen schwerer Verletzungen im landwirtschaftlichen Betrieb, und nur zu häufig auch in Naufexzessen als Schädelwunden, Stich¬ wunden in Brust und Unterleib, Sehnendurchschneidnng usf. zugrunde; die Plattfußbildung und die Zahl der durch Pfuscherhände schlecht geheilten Bein¬ brüche und Verrenkungen ist unendlich; ebenso strichweise der Kropf. Alle diese Zustände betreffen aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sonst ganz gesunde und kräftige Wehrpflichtige, deren Untauglichkeit für die Wehrkraft einen empfindlichen Verlust bedeutet. Noch ist eines Plus von Untauglichen vom Land zu gedenken, das sind die Opfer der elterlichen Indolenz gegenüber inneren Erkrankungen der Kinder, namentlich die Schwerhörigkeit nach erstandenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/563>, abgerufen am 03.07.2024.