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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Pseudokonservativismus in der Schule
Prozent
Prozent
in der Pfalz32,9
. 41,0in Schwaben .
. 41,3
" Niederbayern
" Pommern.34,1
, 41,8
" Oberbayern >
" Brandenburg34,5

Die Kraftverlustzahlen, denen sich die Schnlkonferenzen in Berlin 1890
und 1900 gegenüber sahen, erschütterten das durch volksanthropologische Vor¬
stellungen gestützte Selbstbewußtsein der Vertreter der alten Schule nicht.

Der Optimismus der um jeden Preis konservativen Schulpolitiker wird
auch vor den neuesten Zahlen nicht verstummen. Es gibt eben einen schranken¬
losen Optimismus, der Sturmwolken immer Lämmerwolken nennen und Fieber¬
röte für Gesundheitsröte halten wird, bis der Gegenstand seiner Sorglosigkeit
zusammenbricht.

Ich glaube, daß der Optimismus, womit Adolf Matthias auf die seit
der zweiten Berliner Konferenz verflossenen zehn Jahre zurückblickt"), berechtigt
ist. Der verehrte Mann hat selbst an den: Fortschritt des Mittclschulwesens
kräftig mitgewirkt, hat selbst auf den beiden Konferenzen die Sache der Jugend
geführt, er mag sich der Beseitigung der "normal- und Gamaschenlchrpläne",
des Gedeihens der Schüler-Wärter-, --Turm- und -Rudervcreine, der Tat¬
sache, daß im Jahre 1908 schon an die hundertundvierzig Nudervereine mit
nahezu dreitausend Ruderern an höheren Schulen bestanden, besonders der drei
Turnstunden und der halben Stunde für Frei- und Atemübungen freuen, womit
der preußische Unterrichtsminister die Jugend beschenkt hat. Aber die körper¬
liche Erziehung gewinnt nicht überall in Deutschland in diesem Schritt Boden.
In Bayern haben wir noch die zwei Turnstunden der sieben Monate nach der
ersten Berliner Konferenz eingeführten Schulordnung und das Flickwerk der
Spielstunde. Ich kam: Matthias nicht freien Herzens zustimmen, wenn er sagt:
"In unseren Schulen hat ja -- und das hat ihnen nicht zum Unsegen gereicht --
allezeit die Autorität des Lehrers gute Geltung gehabt, wie überhaupt in unserem
Staate und im Beamtentum die Autorität wie ein roeker as dron?ö dasteht."
Und wenn er sich freut, "daß die von den Schülern gewählten Vertrauens¬
männer dahin wirken, daß das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
freundlicher, offener und -- sagen wir rund heraus -- freundschaftlicher und
wahrer wird, und daß der Freude an der Schule Platz macht der dumpfe
und freudlose Zwang von ehedem", so liegt in dieser Freude über die sich
vollziehende Besserung das Zugeständnis, daß das Verhältnis zwischen Lehrern
und Schülern zum mindesten noch nicht freundschaftlich und wahr genug ist und
daß der dumpfe und freudlose Zwang voll ehedem auch noch im Heikle herrscht.

Ich habe in meiner Schrift "Grundschaden des Gymnasiums" nachgewiesen,
daß die jetzt geltenden Unterrichtsziele des Gymnasiums die körperliche und die
sittliche Kraft der Schüler schädigen. Daß ich mich in dieser Schrift auf die



") Berliner Tnqeblntt l'om 26 November 1910, Ur. 600.
Pseudokonservativismus in der Schule
Prozent
Prozent
in der Pfalz32,9
. 41,0in Schwaben .
. 41,3
„ Niederbayern
„ Pommern.34,1
, 41,8
„ Oberbayern >
„ Brandenburg34,5

Die Kraftverlustzahlen, denen sich die Schnlkonferenzen in Berlin 1890
und 1900 gegenüber sahen, erschütterten das durch volksanthropologische Vor¬
stellungen gestützte Selbstbewußtsein der Vertreter der alten Schule nicht.

Der Optimismus der um jeden Preis konservativen Schulpolitiker wird
auch vor den neuesten Zahlen nicht verstummen. Es gibt eben einen schranken¬
losen Optimismus, der Sturmwolken immer Lämmerwolken nennen und Fieber¬
röte für Gesundheitsröte halten wird, bis der Gegenstand seiner Sorglosigkeit
zusammenbricht.

Ich glaube, daß der Optimismus, womit Adolf Matthias auf die seit
der zweiten Berliner Konferenz verflossenen zehn Jahre zurückblickt"), berechtigt
ist. Der verehrte Mann hat selbst an den: Fortschritt des Mittclschulwesens
kräftig mitgewirkt, hat selbst auf den beiden Konferenzen die Sache der Jugend
geführt, er mag sich der Beseitigung der „normal- und Gamaschenlchrpläne",
des Gedeihens der Schüler-Wärter-, --Turm- und -Rudervcreine, der Tat¬
sache, daß im Jahre 1908 schon an die hundertundvierzig Nudervereine mit
nahezu dreitausend Ruderern an höheren Schulen bestanden, besonders der drei
Turnstunden und der halben Stunde für Frei- und Atemübungen freuen, womit
der preußische Unterrichtsminister die Jugend beschenkt hat. Aber die körper¬
liche Erziehung gewinnt nicht überall in Deutschland in diesem Schritt Boden.
In Bayern haben wir noch die zwei Turnstunden der sieben Monate nach der
ersten Berliner Konferenz eingeführten Schulordnung und das Flickwerk der
Spielstunde. Ich kam: Matthias nicht freien Herzens zustimmen, wenn er sagt:
„In unseren Schulen hat ja — und das hat ihnen nicht zum Unsegen gereicht —
allezeit die Autorität des Lehrers gute Geltung gehabt, wie überhaupt in unserem
Staate und im Beamtentum die Autorität wie ein roeker as dron?ö dasteht."
Und wenn er sich freut, „daß die von den Schülern gewählten Vertrauens¬
männer dahin wirken, daß das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
freundlicher, offener und — sagen wir rund heraus — freundschaftlicher und
wahrer wird, und daß der Freude an der Schule Platz macht der dumpfe
und freudlose Zwang von ehedem", so liegt in dieser Freude über die sich
vollziehende Besserung das Zugeständnis, daß das Verhältnis zwischen Lehrern
und Schülern zum mindesten noch nicht freundschaftlich und wahr genug ist und
daß der dumpfe und freudlose Zwang voll ehedem auch noch im Heikle herrscht.

Ich habe in meiner Schrift „Grundschaden des Gymnasiums" nachgewiesen,
daß die jetzt geltenden Unterrichtsziele des Gymnasiums die körperliche und die
sittliche Kraft der Schüler schädigen. Daß ich mich in dieser Schrift auf die



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[0562] Pseudokonservativismus in der Schule Prozent Prozent in der Pfalz32,9 . 41,0in Schwaben . . 41,3 „ Niederbayern „ Pommern.34,1 , 41,8 „ Oberbayern > „ Brandenburg34,5 Die Kraftverlustzahlen, denen sich die Schnlkonferenzen in Berlin 1890 und 1900 gegenüber sahen, erschütterten das durch volksanthropologische Vor¬ stellungen gestützte Selbstbewußtsein der Vertreter der alten Schule nicht. Der Optimismus der um jeden Preis konservativen Schulpolitiker wird auch vor den neuesten Zahlen nicht verstummen. Es gibt eben einen schranken¬ losen Optimismus, der Sturmwolken immer Lämmerwolken nennen und Fieber¬ röte für Gesundheitsröte halten wird, bis der Gegenstand seiner Sorglosigkeit zusammenbricht. Ich glaube, daß der Optimismus, womit Adolf Matthias auf die seit der zweiten Berliner Konferenz verflossenen zehn Jahre zurückblickt"), berechtigt ist. Der verehrte Mann hat selbst an den: Fortschritt des Mittclschulwesens kräftig mitgewirkt, hat selbst auf den beiden Konferenzen die Sache der Jugend geführt, er mag sich der Beseitigung der „normal- und Gamaschenlchrpläne", des Gedeihens der Schüler-Wärter-, --Turm- und -Rudervcreine, der Tat¬ sache, daß im Jahre 1908 schon an die hundertundvierzig Nudervereine mit nahezu dreitausend Ruderern an höheren Schulen bestanden, besonders der drei Turnstunden und der halben Stunde für Frei- und Atemübungen freuen, womit der preußische Unterrichtsminister die Jugend beschenkt hat. Aber die körper¬ liche Erziehung gewinnt nicht überall in Deutschland in diesem Schritt Boden. In Bayern haben wir noch die zwei Turnstunden der sieben Monate nach der ersten Berliner Konferenz eingeführten Schulordnung und das Flickwerk der Spielstunde. Ich kam: Matthias nicht freien Herzens zustimmen, wenn er sagt: „In unseren Schulen hat ja — und das hat ihnen nicht zum Unsegen gereicht — allezeit die Autorität des Lehrers gute Geltung gehabt, wie überhaupt in unserem Staate und im Beamtentum die Autorität wie ein roeker as dron?ö dasteht." Und wenn er sich freut, „daß die von den Schülern gewählten Vertrauens¬ männer dahin wirken, daß das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern freundlicher, offener und — sagen wir rund heraus — freundschaftlicher und wahrer wird, und daß der Freude an der Schule Platz macht der dumpfe und freudlose Zwang von ehedem", so liegt in dieser Freude über die sich vollziehende Besserung das Zugeständnis, daß das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern zum mindesten noch nicht freundschaftlich und wahr genug ist und daß der dumpfe und freudlose Zwang voll ehedem auch noch im Heikle herrscht. Ich habe in meiner Schrift „Grundschaden des Gymnasiums" nachgewiesen, daß die jetzt geltenden Unterrichtsziele des Gymnasiums die körperliche und die sittliche Kraft der Schüler schädigen. Daß ich mich in dieser Schrift auf die ") Berliner Tnqeblntt l'om 26 November 1910, Ur. 600.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/562>, abgerufen am 03.07.2024.