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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Psendokonservativismus in der Schule

Turnspiele wurden an fast allen Schulen wahlfrei, an einigen auch verbindlich
betrieben, der Sport hatte an den Mittelschulen Eingang gefunden, "mehr als
vierzig Schülerrudervereine bestanden".

Die Fortschritte im Turnen wurden anerkannt, die weitere Förderung des
Wassersports wurde von dem Kommandeur des Kadettenkorps dringend empfohlen,
aber die Worte Kurzsichtigkeit, Augenpflege wurden nicht mehr ausgesprochen.

An dieser Konferenz nahm kein Militärarzt teil. An die Beziehungen
zwischen der körperlichen Erziehung in der Mittelschule und im Heere erinnerte
nur der Kommandeur des Kadettenkorps mit einigen bescheidenen und optimistischen
Sätzen. Das Wort Überbürdung fiel nicht mehr. Am Schlüsse der letzten
Sitzung zog Geheimrat Professor Dr. Emil Fischer die Summe der Beratung
dieses Gegenstandes, indem er als Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamts
folgende Erklärung abgab: "Die hygienische Seite der Schuleinrichtungen ist im
Laufe der Debatte nicht berührt worden. Bei der Schulkonferenz vom Jahre
1890 hat man gerade diesem Punkt eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und
besonders die Überbürdungsfrage sehr ernsthaft diskutiert. Diesmal habe ich
den Eindruck gehabt, daß man mehr der gegenteiligen Anschauung zuneigt und
es nicht für bedenklich hält, den Schülern wieder eine größere Arbeitslast auf¬
zubürden. Dagegen möchte ich im Interesse der Schulhygiene und der allgemeinen
Hygiene Protest erheben. Ich bitte deshalb die Schulverwaltung, von den vielen
Anregungen, die gestern und heute hier gegeben wurden, nur so weit Gebrauch
zu machen, als es ohne Vermehrung der Unterrichtsstunden geschehen kann.
Erst wenn die Mittelschulen uns die jungen Leute nicht allein mit gebildetem
Geiste, sondern auch mit gesundem Körper zur Universität bringen, sind ihre
Aufgaben ganz erfüllt."

Noch im Jahre 1888 hatte die Heeresverwaltung die Schrift "Naturforschung
und Schule", in der Professor Dr. Preyer, auf unzulängliches Material gestützt,
den höheren Schulen vorwarf, sie schädigten die Wehrtüchtigkeit, als wertlos
bezeichnet. Wenige Jahre später, im Jahre 1890 auf der Dezemberkonferenz,
mußte die Heeresverwaltung gegenüber der Schulverwaltung betonen, daß es
keineswegs tröstlich sei, wenn von den zum einjährig-freiwilligen Dienst
Berechtigten des Jahrfünfts 1877 bis 1881 nur 45 Prozent während dieser
Zeit dienten, aber nicht 55 Prozent, sondern nur 22 Prozent dauernd untauglich
waren. Die beiden militärischen Kommissare des Kriegsministeriums mußten
zur Zerstreuung optimistischer Nebel die Selbstverständlichkeit aussprechen, daß
nicht nur die Zahl der dauernd Untauglichen, sondern auch die Summe der
dauernd und der zeitlich Untauglichen "militärisch von der größten Bedeutung
sind": "Wenn am 1. September 1890 . . . 50 Prozent der Dienstpflichtigen
körperlich untauglich sind -- gleichviel ob dauernd oder zeitweilig -- und es
wird am 1. September mobil gemacht, so fehlen alle diese Leute. Darauf aber
kommt es der Heeresverwaltung hierbei an. Die Armee ist ein Kapital, das
sich verzinsen soll in der Stunde der Gefahr; wenn dieses Kapital alsdann die


Psendokonservativismus in der Schule

Turnspiele wurden an fast allen Schulen wahlfrei, an einigen auch verbindlich
betrieben, der Sport hatte an den Mittelschulen Eingang gefunden, „mehr als
vierzig Schülerrudervereine bestanden".

Die Fortschritte im Turnen wurden anerkannt, die weitere Förderung des
Wassersports wurde von dem Kommandeur des Kadettenkorps dringend empfohlen,
aber die Worte Kurzsichtigkeit, Augenpflege wurden nicht mehr ausgesprochen.

An dieser Konferenz nahm kein Militärarzt teil. An die Beziehungen
zwischen der körperlichen Erziehung in der Mittelschule und im Heere erinnerte
nur der Kommandeur des Kadettenkorps mit einigen bescheidenen und optimistischen
Sätzen. Das Wort Überbürdung fiel nicht mehr. Am Schlüsse der letzten
Sitzung zog Geheimrat Professor Dr. Emil Fischer die Summe der Beratung
dieses Gegenstandes, indem er als Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamts
folgende Erklärung abgab: „Die hygienische Seite der Schuleinrichtungen ist im
Laufe der Debatte nicht berührt worden. Bei der Schulkonferenz vom Jahre
1890 hat man gerade diesem Punkt eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und
besonders die Überbürdungsfrage sehr ernsthaft diskutiert. Diesmal habe ich
den Eindruck gehabt, daß man mehr der gegenteiligen Anschauung zuneigt und
es nicht für bedenklich hält, den Schülern wieder eine größere Arbeitslast auf¬
zubürden. Dagegen möchte ich im Interesse der Schulhygiene und der allgemeinen
Hygiene Protest erheben. Ich bitte deshalb die Schulverwaltung, von den vielen
Anregungen, die gestern und heute hier gegeben wurden, nur so weit Gebrauch
zu machen, als es ohne Vermehrung der Unterrichtsstunden geschehen kann.
Erst wenn die Mittelschulen uns die jungen Leute nicht allein mit gebildetem
Geiste, sondern auch mit gesundem Körper zur Universität bringen, sind ihre
Aufgaben ganz erfüllt."

Noch im Jahre 1888 hatte die Heeresverwaltung die Schrift „Naturforschung
und Schule", in der Professor Dr. Preyer, auf unzulängliches Material gestützt,
den höheren Schulen vorwarf, sie schädigten die Wehrtüchtigkeit, als wertlos
bezeichnet. Wenige Jahre später, im Jahre 1890 auf der Dezemberkonferenz,
mußte die Heeresverwaltung gegenüber der Schulverwaltung betonen, daß es
keineswegs tröstlich sei, wenn von den zum einjährig-freiwilligen Dienst
Berechtigten des Jahrfünfts 1877 bis 1881 nur 45 Prozent während dieser
Zeit dienten, aber nicht 55 Prozent, sondern nur 22 Prozent dauernd untauglich
waren. Die beiden militärischen Kommissare des Kriegsministeriums mußten
zur Zerstreuung optimistischer Nebel die Selbstverständlichkeit aussprechen, daß
nicht nur die Zahl der dauernd Untauglichen, sondern auch die Summe der
dauernd und der zeitlich Untauglichen „militärisch von der größten Bedeutung
sind": „Wenn am 1. September 1890 . . . 50 Prozent der Dienstpflichtigen
körperlich untauglich sind — gleichviel ob dauernd oder zeitweilig — und es
wird am 1. September mobil gemacht, so fehlen alle diese Leute. Darauf aber
kommt es der Heeresverwaltung hierbei an. Die Armee ist ein Kapital, das
sich verzinsen soll in der Stunde der Gefahr; wenn dieses Kapital alsdann die


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[0560] Psendokonservativismus in der Schule Turnspiele wurden an fast allen Schulen wahlfrei, an einigen auch verbindlich betrieben, der Sport hatte an den Mittelschulen Eingang gefunden, „mehr als vierzig Schülerrudervereine bestanden". Die Fortschritte im Turnen wurden anerkannt, die weitere Förderung des Wassersports wurde von dem Kommandeur des Kadettenkorps dringend empfohlen, aber die Worte Kurzsichtigkeit, Augenpflege wurden nicht mehr ausgesprochen. An dieser Konferenz nahm kein Militärarzt teil. An die Beziehungen zwischen der körperlichen Erziehung in der Mittelschule und im Heere erinnerte nur der Kommandeur des Kadettenkorps mit einigen bescheidenen und optimistischen Sätzen. Das Wort Überbürdung fiel nicht mehr. Am Schlüsse der letzten Sitzung zog Geheimrat Professor Dr. Emil Fischer die Summe der Beratung dieses Gegenstandes, indem er als Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamts folgende Erklärung abgab: „Die hygienische Seite der Schuleinrichtungen ist im Laufe der Debatte nicht berührt worden. Bei der Schulkonferenz vom Jahre 1890 hat man gerade diesem Punkt eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und besonders die Überbürdungsfrage sehr ernsthaft diskutiert. Diesmal habe ich den Eindruck gehabt, daß man mehr der gegenteiligen Anschauung zuneigt und es nicht für bedenklich hält, den Schülern wieder eine größere Arbeitslast auf¬ zubürden. Dagegen möchte ich im Interesse der Schulhygiene und der allgemeinen Hygiene Protest erheben. Ich bitte deshalb die Schulverwaltung, von den vielen Anregungen, die gestern und heute hier gegeben wurden, nur so weit Gebrauch zu machen, als es ohne Vermehrung der Unterrichtsstunden geschehen kann. Erst wenn die Mittelschulen uns die jungen Leute nicht allein mit gebildetem Geiste, sondern auch mit gesundem Körper zur Universität bringen, sind ihre Aufgaben ganz erfüllt." Noch im Jahre 1888 hatte die Heeresverwaltung die Schrift „Naturforschung und Schule", in der Professor Dr. Preyer, auf unzulängliches Material gestützt, den höheren Schulen vorwarf, sie schädigten die Wehrtüchtigkeit, als wertlos bezeichnet. Wenige Jahre später, im Jahre 1890 auf der Dezemberkonferenz, mußte die Heeresverwaltung gegenüber der Schulverwaltung betonen, daß es keineswegs tröstlich sei, wenn von den zum einjährig-freiwilligen Dienst Berechtigten des Jahrfünfts 1877 bis 1881 nur 45 Prozent während dieser Zeit dienten, aber nicht 55 Prozent, sondern nur 22 Prozent dauernd untauglich waren. Die beiden militärischen Kommissare des Kriegsministeriums mußten zur Zerstreuung optimistischer Nebel die Selbstverständlichkeit aussprechen, daß nicht nur die Zahl der dauernd Untauglichen, sondern auch die Summe der dauernd und der zeitlich Untauglichen „militärisch von der größten Bedeutung sind": „Wenn am 1. September 1890 . . . 50 Prozent der Dienstpflichtigen körperlich untauglich sind — gleichviel ob dauernd oder zeitweilig — und es wird am 1. September mobil gemacht, so fehlen alle diese Leute. Darauf aber kommt es der Heeresverwaltung hierbei an. Die Armee ist ein Kapital, das sich verzinsen soll in der Stunde der Gefahr; wenn dieses Kapital alsdann die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/560>, abgerufen am 29.06.2024.