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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Jen" Marie Guynn

müßige Stunden sein, zur Erholung des Künstlers und seines Publikums, sondern
dem künstlerisch Schaffenden zum Lebensinhalt werdend, soll sie ein Spiegelbild deS
Lebens geben, wahr und erhebend, ernst und erziehend zugleich. Der Kunst über¬
trug er darum die hohe Mission, die alte ersterbende Religion ersetzen zu helfen.
-- Denn die Religion mit all ihren Dogmen und Lehren, die jedem ernst Nach¬
denkenden als absurd, phantastisch, mystisch erscheinen müssen, ist nach Guyau im
Begriff zugrunde zu gehen; sie stirbt allmählich ihren natürlichen, organischen Tod
und wird, wenn die Menschheit erst einmal völlig über all die naiven eschato-
logischen Vorstellungen der Bibel hinausgewachsen ist, ihre Kulturmission erfüllt
haben. So wird aus der Religion der Gegenwart, die ohne abergläubische Vor¬
stellungen und Kulthandlungen noch nicht denkbar ist, in Zukunft, wie Guyau
sagt, eine Jrreligion oder Areligion werden. Was einzig und allein dem Menschen
erhalten bleiben muß, das ist jenes allen Religionssystemen als Quelle und Urgrund
vorangegangene und heute wie ehedem in uns lebende Gefühl der Religiosität,
das Bewußtsein der Endlichkeit und Kleinheit des Menschen gegenüber dem Unend-
lichen und Allgewaltigen der Natur. Die Menschheit soll somit das vom reli¬
giösen Gefühl beibehalten, was an ihm das Reinste ist: die Hinneigung und Liebe
zum schlechthin Idealen, den Drang nach Erkenntnis und den Wunsch, dem Leben
einen höheren Sinn und Inhalt zu geben, als es der Alltag mit seinem Lärmen
und Tosen und die bloße Befriedigung der natürlichen Instinkte zu geben vermögen.
Die Kunst -- jene wunderbare Macht aber, die selbst die verschiedenartigste!?
Menschen miteinander verbindet und um uns alle ein Band der Gemeinsamkeit
schlingt -- soll künftig an die erste Stelle treten, den gesamten Kultus des reli¬
giösen Glaubens zu ersetzen. Aber nicht allein die Kunst: auch die Philosophie
und Wissenschaft hat die Aufgabe, den alten Platz der Religion unteinzuuehmcn;
denn Guyan ist der gleichen Überzeugung wie Kant, daß die Philosophie demütig
mache, weil der Philosoph immer die Unbegreiflichreit des Ganzen vor Angen
habe. -- Wir denken hierbei auch an Goethes bekannten Ausspruch: "Wer Wissen¬
schaft und Kunst besitzt, der hat Religion."

Man mag über Guyaus philosophische Weltanschauung, über seine Lehre von
der Indifferenz der Natur, der Expansionskraft des Lebens und der Jrreligion der
Zukunft denken, wie mau will; man mag seinen Überzeugungen zustimmen oder
nicht: eines wird man nicht leugnen können, den tiefen Ernst seines Schaffens
und die starke Liebe seines Herzens zur Wahrheit und Schönheit. Und wenn
man sich selbst von Guyau, dem Denker, abwenden sollte, weil seine Anschauungen
vielleicht einem anders gearteten Verstände nicht zusagen: den Dichter in ihm
muß man anerkennen, geradeso wie es vielen in ihrer Stellungnahme zu der
seltsamsten und bedeutendsten Erscheinung in der Geschichte der neueren deutschen
Philosophie ergeht: zu Friedrich Nietzsche.

Guyaus Name ist ebenso in den Annalen der Kunst wie der Philosophie mit
weithin leuchtenden Lettern eingezeichnet, als der eines Denkers und Dichters,
dessen künstlerische Aussaat in den kommenden Jahrzehnten noch reiche Früchte zu
tragen verspricht.




Jen» Marie Guynn

müßige Stunden sein, zur Erholung des Künstlers und seines Publikums, sondern
dem künstlerisch Schaffenden zum Lebensinhalt werdend, soll sie ein Spiegelbild deS
Lebens geben, wahr und erhebend, ernst und erziehend zugleich. Der Kunst über¬
trug er darum die hohe Mission, die alte ersterbende Religion ersetzen zu helfen.
— Denn die Religion mit all ihren Dogmen und Lehren, die jedem ernst Nach¬
denkenden als absurd, phantastisch, mystisch erscheinen müssen, ist nach Guyau im
Begriff zugrunde zu gehen; sie stirbt allmählich ihren natürlichen, organischen Tod
und wird, wenn die Menschheit erst einmal völlig über all die naiven eschato-
logischen Vorstellungen der Bibel hinausgewachsen ist, ihre Kulturmission erfüllt
haben. So wird aus der Religion der Gegenwart, die ohne abergläubische Vor¬
stellungen und Kulthandlungen noch nicht denkbar ist, in Zukunft, wie Guyau
sagt, eine Jrreligion oder Areligion werden. Was einzig und allein dem Menschen
erhalten bleiben muß, das ist jenes allen Religionssystemen als Quelle und Urgrund
vorangegangene und heute wie ehedem in uns lebende Gefühl der Religiosität,
das Bewußtsein der Endlichkeit und Kleinheit des Menschen gegenüber dem Unend-
lichen und Allgewaltigen der Natur. Die Menschheit soll somit das vom reli¬
giösen Gefühl beibehalten, was an ihm das Reinste ist: die Hinneigung und Liebe
zum schlechthin Idealen, den Drang nach Erkenntnis und den Wunsch, dem Leben
einen höheren Sinn und Inhalt zu geben, als es der Alltag mit seinem Lärmen
und Tosen und die bloße Befriedigung der natürlichen Instinkte zu geben vermögen.
Die Kunst — jene wunderbare Macht aber, die selbst die verschiedenartigste!?
Menschen miteinander verbindet und um uns alle ein Band der Gemeinsamkeit
schlingt — soll künftig an die erste Stelle treten, den gesamten Kultus des reli¬
giösen Glaubens zu ersetzen. Aber nicht allein die Kunst: auch die Philosophie
und Wissenschaft hat die Aufgabe, den alten Platz der Religion unteinzuuehmcn;
denn Guyan ist der gleichen Überzeugung wie Kant, daß die Philosophie demütig
mache, weil der Philosoph immer die Unbegreiflichreit des Ganzen vor Angen
habe. — Wir denken hierbei auch an Goethes bekannten Ausspruch: „Wer Wissen¬
schaft und Kunst besitzt, der hat Religion."

Man mag über Guyaus philosophische Weltanschauung, über seine Lehre von
der Indifferenz der Natur, der Expansionskraft des Lebens und der Jrreligion der
Zukunft denken, wie mau will; man mag seinen Überzeugungen zustimmen oder
nicht: eines wird man nicht leugnen können, den tiefen Ernst seines Schaffens
und die starke Liebe seines Herzens zur Wahrheit und Schönheit. Und wenn
man sich selbst von Guyau, dem Denker, abwenden sollte, weil seine Anschauungen
vielleicht einem anders gearteten Verstände nicht zusagen: den Dichter in ihm
muß man anerkennen, geradeso wie es vielen in ihrer Stellungnahme zu der
seltsamsten und bedeutendsten Erscheinung in der Geschichte der neueren deutschen
Philosophie ergeht: zu Friedrich Nietzsche.

Guyaus Name ist ebenso in den Annalen der Kunst wie der Philosophie mit
weithin leuchtenden Lettern eingezeichnet, als der eines Denkers und Dichters,
dessen künstlerische Aussaat in den kommenden Jahrzehnten noch reiche Früchte zu
tragen verspricht.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/540>, abgerufen am 28.09.2024.