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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Jean Marie Guyau

andere lebt". -- ,,l^e cissinteressement," ruft Guyau begeistert aus, o'est w
iieur ac la vie Irumsine." Hingegen bezeichnet er den Egoismus, wo er domi¬
nierend und alle sozialen Triebe überwuchernd auftritt, als eine Krankheit, eine
Verkümmerung des natürlichen und gesunden Lebens, er nennt ihn "die ewige
Illusion des Geizes". Das Ideal also, das Guyau dem Menschen gibt, ist das
einer allgemeinen, allumfassenden Nächstenliebe, ein Zustand, der sich vielleicht am
besten ausdrücken läßt unter der Bezeichnung einer "Verbrüderung aller". --
"Auch dann," äußert er einmal, "wenn die Menschen von Geburt nicht Brüder
sein sollten, könnten sie es immerhin werden: durch gegenseitige Achtung und
Liebe." Die soziale Frage kann nach seiner Auffassung nur gelöst werden durch
das stetige Wachsen der gegenseitigen Sympathie und Humanität.

Am machtvollsten hat Guyau diesen Gedanken wohl in seinen Versen aus¬
gesprochen, in Udo Gaedes Nachdichtung in geradezu kongenialer Vortrefflichkeit
wiedergegeben:

In wunderbar hoher, dichterisch verklärter Schönheit klingen dann die Verse
aus, ein hohes Lied auf die All-Liebe des menschlichen Herzens. Und mit freu-
diger Zuversicht ruft Guyau seine schönen, stolzen Worte, die den ganzen Optimis¬
mus seines Wesens offenbaren: "vivre c'est avancer" (Vorwärtsschreiten nur
heißt Leben).

Die zitierten Verse Guyaus -- so charakteristisch für seine Lebensanschauung,
und die tiefe Leidenschaftlichkeit und Hoheit seines Charakters kennzeichnend --
offenbaren uns zugleich auch die starke, hinreißende Kraft des Künstlers und
Poeten in ihm. Sie entsprechen völlig der ernsten Auffassung, die Guyau selbst
vom Wesen und der Bedeutung der Kunst hatte. Die Kunst soll nicht Spiel für


Jean Marie Guyau

andere lebt". — ,,l^e cissinteressement," ruft Guyau begeistert aus, o'est w
iieur ac la vie Irumsine." Hingegen bezeichnet er den Egoismus, wo er domi¬
nierend und alle sozialen Triebe überwuchernd auftritt, als eine Krankheit, eine
Verkümmerung des natürlichen und gesunden Lebens, er nennt ihn „die ewige
Illusion des Geizes". Das Ideal also, das Guyau dem Menschen gibt, ist das
einer allgemeinen, allumfassenden Nächstenliebe, ein Zustand, der sich vielleicht am
besten ausdrücken läßt unter der Bezeichnung einer „Verbrüderung aller". —
„Auch dann," äußert er einmal, „wenn die Menschen von Geburt nicht Brüder
sein sollten, könnten sie es immerhin werden: durch gegenseitige Achtung und
Liebe." Die soziale Frage kann nach seiner Auffassung nur gelöst werden durch
das stetige Wachsen der gegenseitigen Sympathie und Humanität.

Am machtvollsten hat Guyau diesen Gedanken wohl in seinen Versen aus¬
gesprochen, in Udo Gaedes Nachdichtung in geradezu kongenialer Vortrefflichkeit
wiedergegeben:

In wunderbar hoher, dichterisch verklärter Schönheit klingen dann die Verse
aus, ein hohes Lied auf die All-Liebe des menschlichen Herzens. Und mit freu-
diger Zuversicht ruft Guyau seine schönen, stolzen Worte, die den ganzen Optimis¬
mus seines Wesens offenbaren: »vivre c'est avancer" (Vorwärtsschreiten nur
heißt Leben).

Die zitierten Verse Guyaus — so charakteristisch für seine Lebensanschauung,
und die tiefe Leidenschaftlichkeit und Hoheit seines Charakters kennzeichnend —
offenbaren uns zugleich auch die starke, hinreißende Kraft des Künstlers und
Poeten in ihm. Sie entsprechen völlig der ernsten Auffassung, die Guyau selbst
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[0539] Jean Marie Guyau andere lebt". — ,,l^e cissinteressement," ruft Guyau begeistert aus, o'est w iieur ac la vie Irumsine." Hingegen bezeichnet er den Egoismus, wo er domi¬ nierend und alle sozialen Triebe überwuchernd auftritt, als eine Krankheit, eine Verkümmerung des natürlichen und gesunden Lebens, er nennt ihn „die ewige Illusion des Geizes". Das Ideal also, das Guyau dem Menschen gibt, ist das einer allgemeinen, allumfassenden Nächstenliebe, ein Zustand, der sich vielleicht am besten ausdrücken läßt unter der Bezeichnung einer „Verbrüderung aller". — „Auch dann," äußert er einmal, „wenn die Menschen von Geburt nicht Brüder sein sollten, könnten sie es immerhin werden: durch gegenseitige Achtung und Liebe." Die soziale Frage kann nach seiner Auffassung nur gelöst werden durch das stetige Wachsen der gegenseitigen Sympathie und Humanität. Am machtvollsten hat Guyau diesen Gedanken wohl in seinen Versen aus¬ gesprochen, in Udo Gaedes Nachdichtung in geradezu kongenialer Vortrefflichkeit wiedergegeben: In wunderbar hoher, dichterisch verklärter Schönheit klingen dann die Verse aus, ein hohes Lied auf die All-Liebe des menschlichen Herzens. Und mit freu- diger Zuversicht ruft Guyau seine schönen, stolzen Worte, die den ganzen Optimis¬ mus seines Wesens offenbaren: »vivre c'est avancer" (Vorwärtsschreiten nur heißt Leben). Die zitierten Verse Guyaus — so charakteristisch für seine Lebensanschauung, und die tiefe Leidenschaftlichkeit und Hoheit seines Charakters kennzeichnend — offenbaren uns zugleich auch die starke, hinreißende Kraft des Künstlers und Poeten in ihm. Sie entsprechen völlig der ernsten Auffassung, die Guyau selbst vom Wesen und der Bedeutung der Kunst hatte. Die Kunst soll nicht Spiel für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/539>, abgerufen am 03.07.2024.