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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Jean Mario Gnyau

begründetste Weltanschauung scheint ihm die zu sein, zu der sich auch sein Zeit¬
genosse Nietzsche unabhängig von ihm bekannte: Die Überzeugung von der In¬
differenz der Natur; das innerste Wesen der Welt erscheint ihm nicht als eine
Summe guter oder böser Kräfte, sondern neutral, amoral. jenseits aller Absicht¬
lichkeit und darum jenseits von Freude und Schmerz, von Gut und Böse stehend.
Die Natur ist ihm eine unendliche Fülle von Energien, die in steter Bewegung
und Tätigkeit Leben zeugen und so den Weltlauf erhalten. Der Ozean, der ewig
ruhelose, zick- und planlos bewegte, in seiner gewaltigen Unendlichkeit und
Bewunderung gebietenden Größe wird ihm zum Abbild der Natur überhaupt.
So sagt er in der "I^emisge el'une moral": "Nichts auf der Welt ist mehr geeignet,
den: betrachtenden Blicke des Menschen eine umfassendere und zugleich traurigere
Vorstellung des Weltalls zu geben als der Ozean. Er ist das Abbild der Kraft
in ihren wildesten und unbezähmbarsten Formen; er zeigt eine Kraftentfaltung,
eine wahrhaft verschwenderische Machtfülle, von der nichts anderes auf der Welt
eine Idee geben kann. Und all das lebt, regt sich, müht sich, ewig ohne Zweck
und Ziel. Zuweilen möchte man glauben, das Meer sei lebendig, es woge und
atme; ein ungeheures Herz scheint in ihm zu schlagen, so stürmisch hebt und senkt
sich seine Brust. Unsagbar traurig stimmt es uns, wenn uns zum Bewußtsein
kommt, daß all diese Kraft, all dieses glühende Leben umsonst verschwendet ist.
Dieses Erdenherz schlägt ohne Hoffnung; von all diesem donnernden Krachen der
Wogen bleibt nichts als ein wenig Schaum, den der Wind verweht. Wenn unser
Auge den unendlichen Raum umfassen könnte, so sähe es überall nur einen
betäubenden Kampf der Wogen, einen Kampf ohne Ende, weil er ohne Vernunft
ist, einen Krieg aller gegen alle."

Denselben Gedanken spricht Guyau auch in seinen Gedichten aus. Unter, dein
gleichen Bilde des ruhelosen Meeres entwickelt er dort seine Naturanschauung:

Hat Guyau so in seiner Metaphysik ein recht trostloses Bild von dem Wesen
der Welt gewonnen, trostlos geung, daß es ihn hätte zum Pessimisten machen
können, so richtet sich seine Hoffnung und Liebe zum Dasein wieder auf im Hinblick
auf den Menschen, dieses höchste aller Geschöpfe, der in jahrtausendelangem Kampfe
mit der Natur -- wo sie lebenzerstörend und ihm schadenbringend auftrat --
gerungen und unter schwer erkämpften und mit blutigen Opfern erkauften Pyrrhus¬
siegen die Erdkruste wohnlich gestaltet hat; sein Werk ist all das, was wir unsere
gesamte Gegenwartskultur nennen. Guyau glaubt mit freudiger, unbeugsamer
Zuversicht an die Fortentwicklung der Menschheit zu höheren Formen und Gestalten
des Lebens; die Idee, daß die Zukunft der Menschheit in ihrer immer zunehmenden
Vollendung das Leben und Leiden aller vorhergehenden Geschlechter rechtfertigen
werde, erfüllt sein Herz mit freudiger Lebensbejahung. Und diese Hoffnung
begründet er auf ein eigenartiges und interessantes Gesetz: Im Verlaufe seines


Jean Mario Gnyau

begründetste Weltanschauung scheint ihm die zu sein, zu der sich auch sein Zeit¬
genosse Nietzsche unabhängig von ihm bekannte: Die Überzeugung von der In¬
differenz der Natur; das innerste Wesen der Welt erscheint ihm nicht als eine
Summe guter oder böser Kräfte, sondern neutral, amoral. jenseits aller Absicht¬
lichkeit und darum jenseits von Freude und Schmerz, von Gut und Böse stehend.
Die Natur ist ihm eine unendliche Fülle von Energien, die in steter Bewegung
und Tätigkeit Leben zeugen und so den Weltlauf erhalten. Der Ozean, der ewig
ruhelose, zick- und planlos bewegte, in seiner gewaltigen Unendlichkeit und
Bewunderung gebietenden Größe wird ihm zum Abbild der Natur überhaupt.
So sagt er in der „I^emisge el'une moral": „Nichts auf der Welt ist mehr geeignet,
den: betrachtenden Blicke des Menschen eine umfassendere und zugleich traurigere
Vorstellung des Weltalls zu geben als der Ozean. Er ist das Abbild der Kraft
in ihren wildesten und unbezähmbarsten Formen; er zeigt eine Kraftentfaltung,
eine wahrhaft verschwenderische Machtfülle, von der nichts anderes auf der Welt
eine Idee geben kann. Und all das lebt, regt sich, müht sich, ewig ohne Zweck
und Ziel. Zuweilen möchte man glauben, das Meer sei lebendig, es woge und
atme; ein ungeheures Herz scheint in ihm zu schlagen, so stürmisch hebt und senkt
sich seine Brust. Unsagbar traurig stimmt es uns, wenn uns zum Bewußtsein
kommt, daß all diese Kraft, all dieses glühende Leben umsonst verschwendet ist.
Dieses Erdenherz schlägt ohne Hoffnung; von all diesem donnernden Krachen der
Wogen bleibt nichts als ein wenig Schaum, den der Wind verweht. Wenn unser
Auge den unendlichen Raum umfassen könnte, so sähe es überall nur einen
betäubenden Kampf der Wogen, einen Kampf ohne Ende, weil er ohne Vernunft
ist, einen Krieg aller gegen alle."

Denselben Gedanken spricht Guyau auch in seinen Gedichten aus. Unter, dein
gleichen Bilde des ruhelosen Meeres entwickelt er dort seine Naturanschauung:

Hat Guyau so in seiner Metaphysik ein recht trostloses Bild von dem Wesen
der Welt gewonnen, trostlos geung, daß es ihn hätte zum Pessimisten machen
können, so richtet sich seine Hoffnung und Liebe zum Dasein wieder auf im Hinblick
auf den Menschen, dieses höchste aller Geschöpfe, der in jahrtausendelangem Kampfe
mit der Natur — wo sie lebenzerstörend und ihm schadenbringend auftrat —
gerungen und unter schwer erkämpften und mit blutigen Opfern erkauften Pyrrhus¬
siegen die Erdkruste wohnlich gestaltet hat; sein Werk ist all das, was wir unsere
gesamte Gegenwartskultur nennen. Guyau glaubt mit freudiger, unbeugsamer
Zuversicht an die Fortentwicklung der Menschheit zu höheren Formen und Gestalten
des Lebens; die Idee, daß die Zukunft der Menschheit in ihrer immer zunehmenden
Vollendung das Leben und Leiden aller vorhergehenden Geschlechter rechtfertigen
werde, erfüllt sein Herz mit freudiger Lebensbejahung. Und diese Hoffnung
begründet er auf ein eigenartiges und interessantes Gesetz: Im Verlaufe seines


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[0537] Jean Mario Gnyau begründetste Weltanschauung scheint ihm die zu sein, zu der sich auch sein Zeit¬ genosse Nietzsche unabhängig von ihm bekannte: Die Überzeugung von der In¬ differenz der Natur; das innerste Wesen der Welt erscheint ihm nicht als eine Summe guter oder böser Kräfte, sondern neutral, amoral. jenseits aller Absicht¬ lichkeit und darum jenseits von Freude und Schmerz, von Gut und Böse stehend. Die Natur ist ihm eine unendliche Fülle von Energien, die in steter Bewegung und Tätigkeit Leben zeugen und so den Weltlauf erhalten. Der Ozean, der ewig ruhelose, zick- und planlos bewegte, in seiner gewaltigen Unendlichkeit und Bewunderung gebietenden Größe wird ihm zum Abbild der Natur überhaupt. So sagt er in der „I^emisge el'une moral": „Nichts auf der Welt ist mehr geeignet, den: betrachtenden Blicke des Menschen eine umfassendere und zugleich traurigere Vorstellung des Weltalls zu geben als der Ozean. Er ist das Abbild der Kraft in ihren wildesten und unbezähmbarsten Formen; er zeigt eine Kraftentfaltung, eine wahrhaft verschwenderische Machtfülle, von der nichts anderes auf der Welt eine Idee geben kann. Und all das lebt, regt sich, müht sich, ewig ohne Zweck und Ziel. Zuweilen möchte man glauben, das Meer sei lebendig, es woge und atme; ein ungeheures Herz scheint in ihm zu schlagen, so stürmisch hebt und senkt sich seine Brust. Unsagbar traurig stimmt es uns, wenn uns zum Bewußtsein kommt, daß all diese Kraft, all dieses glühende Leben umsonst verschwendet ist. Dieses Erdenherz schlägt ohne Hoffnung; von all diesem donnernden Krachen der Wogen bleibt nichts als ein wenig Schaum, den der Wind verweht. Wenn unser Auge den unendlichen Raum umfassen könnte, so sähe es überall nur einen betäubenden Kampf der Wogen, einen Kampf ohne Ende, weil er ohne Vernunft ist, einen Krieg aller gegen alle." Denselben Gedanken spricht Guyau auch in seinen Gedichten aus. Unter, dein gleichen Bilde des ruhelosen Meeres entwickelt er dort seine Naturanschauung: Hat Guyau so in seiner Metaphysik ein recht trostloses Bild von dem Wesen der Welt gewonnen, trostlos geung, daß es ihn hätte zum Pessimisten machen können, so richtet sich seine Hoffnung und Liebe zum Dasein wieder auf im Hinblick auf den Menschen, dieses höchste aller Geschöpfe, der in jahrtausendelangem Kampfe mit der Natur — wo sie lebenzerstörend und ihm schadenbringend auftrat — gerungen und unter schwer erkämpften und mit blutigen Opfern erkauften Pyrrhus¬ siegen die Erdkruste wohnlich gestaltet hat; sein Werk ist all das, was wir unsere gesamte Gegenwartskultur nennen. Guyau glaubt mit freudiger, unbeugsamer Zuversicht an die Fortentwicklung der Menschheit zu höheren Formen und Gestalten des Lebens; die Idee, daß die Zukunft der Menschheit in ihrer immer zunehmenden Vollendung das Leben und Leiden aller vorhergehenden Geschlechter rechtfertigen werde, erfüllt sein Herz mit freudiger Lebensbejahung. Und diese Hoffnung begründet er auf ein eigenartiges und interessantes Gesetz: Im Verlaufe seines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/537>, abgerufen am 29.06.2024.