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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Gffene Tür oder Interessensphäre?

tüchtiges 65>Millionenvolk, wie das deutsche es ist, läßt sich nicht aushungern
und in der wirtschaftlichen Expansion, die dem beständigen Wachstum seiner
Arbeitskräfte und den großen Fortschritten seiner Technik entspricht, auch nicht
künstlich aufhalten. Wollte man den Versuch systematisch fortsetzen, ihm überall
auf dem für den internationalen Wettbewerb freien Weltmarkte die Tür zu
verschließen -- es müßte notgedrungen einmal der Augenblick eintreten, in dem
Deutschland trotz aller Friedensliebe gezwungen wird, die verriegelten Pforten
des Weltmarktes gewaltsam zu sprengen! Um es nicht zu dieser äußersten Not¬
wendigkeit kommen zu lassen, wird die deutsche Diplomatie alle Mühe haben
und es sich mit allen Mitteln angelegen sein lassen müssen, nicht erst systematisch
ein Marokko auf das andere in immer längerer Reihe folgen zu lassen, sondern
das Prinzip der offenen Tür zum Siege zu führen über das ihm schroff ent¬
gegengesetzte Prinzip der Interessensphären. In dieser Beziehung gewinnt der
Gedankenaustausch der deutschen und russischen Diplomaten gelegentlich des
letzten Zarenbesuches in Potsdam mit den Ergebnissen, über die der Reichs¬
kanzler v. Bethmann-Hollweg in der Neichstagssitzung am 8. Dezember 1910
berichtete, eine erfreuliche Bedeutung von hoher grundsätzlicher Wichtigkeit. Die
deutsch-russische Verständigung über Persien und die Bagdadbahn durchlöchern
einen weit angelegten Plan der Jnteressensphärenpolitik.

Dem Süden Europas vorgelagert, dehnt sich zwischen Tanger und Teheran
ein langer Streifen mohammedanischer Länder, in denen die Politik der europäischen
Mächte ausgedehnte Reibungsflächen findet -- Länder, in denen die deutschen
Interessen dahin gehen, die Selbständigkeit der Marokkaner, der Türken, der
Perser und in ihren selbständigen Gebieten die Politik der offenen Tür erhalten
und betrieben zu sehen, indessen andere europäische Staaten die Politik der
Sonderoorteile, der kolonialen Erwerbungen, der politischen Vormachtstellung
und der Handels- und Verkehrsmonopole treiben/

Nur vorübergehend hat die damals am Weltmarkt noch relativ wenig
interessierte deutsche Politik in jenen Gebieten ihrerseits jene monopolistisch-
kolonisatorische Politik anderer Staaten begünstigt, und zwar zu einer Zeit, als
Bismarck meinte, einen neuen deutsch-französischen Krieg abwenden zu können,
indem er Frankreich nicht nur freie Hand in Nordafrika ließ, sondern den
"ordafrikanischen Expansionsdrang der Franzosen geradezu als Ventil für ihren
überquellenden nationalen Ehrgeiz benutzte. Aber auch diese zeitweiligeBegünstigung
französischer Kolonialpolitik in den nordafrikanischen Gefilden des Mohamme-
danismus hatte ihre bestimmten und wohlberechneten Grenzen. Wenn die
Angliederuug von Tunis an das schon 1830 von Frankreich in Besitz genommene
Algier auf deutscher Seite keinen Widerspruch, sondern sogar Ermunterung fand,
so waren auch die Nebenwirkungen dieser französischen Expansionspolitik, nämlich
die Verärgerung Italiens und der Türkei gegen Frankreich, der deutschen Politik
keineswegs unerwünscht; wenn aber Frankreich damals von einem nordafrikanischen
Kolonialreich träumte, das im Süden vom Kongo, im Osten vom Nil, im Norden


Gffene Tür oder Interessensphäre?

tüchtiges 65>Millionenvolk, wie das deutsche es ist, läßt sich nicht aushungern
und in der wirtschaftlichen Expansion, die dem beständigen Wachstum seiner
Arbeitskräfte und den großen Fortschritten seiner Technik entspricht, auch nicht
künstlich aufhalten. Wollte man den Versuch systematisch fortsetzen, ihm überall
auf dem für den internationalen Wettbewerb freien Weltmarkte die Tür zu
verschließen — es müßte notgedrungen einmal der Augenblick eintreten, in dem
Deutschland trotz aller Friedensliebe gezwungen wird, die verriegelten Pforten
des Weltmarktes gewaltsam zu sprengen! Um es nicht zu dieser äußersten Not¬
wendigkeit kommen zu lassen, wird die deutsche Diplomatie alle Mühe haben
und es sich mit allen Mitteln angelegen sein lassen müssen, nicht erst systematisch
ein Marokko auf das andere in immer längerer Reihe folgen zu lassen, sondern
das Prinzip der offenen Tür zum Siege zu führen über das ihm schroff ent¬
gegengesetzte Prinzip der Interessensphären. In dieser Beziehung gewinnt der
Gedankenaustausch der deutschen und russischen Diplomaten gelegentlich des
letzten Zarenbesuches in Potsdam mit den Ergebnissen, über die der Reichs¬
kanzler v. Bethmann-Hollweg in der Neichstagssitzung am 8. Dezember 1910
berichtete, eine erfreuliche Bedeutung von hoher grundsätzlicher Wichtigkeit. Die
deutsch-russische Verständigung über Persien und die Bagdadbahn durchlöchern
einen weit angelegten Plan der Jnteressensphärenpolitik.

Dem Süden Europas vorgelagert, dehnt sich zwischen Tanger und Teheran
ein langer Streifen mohammedanischer Länder, in denen die Politik der europäischen
Mächte ausgedehnte Reibungsflächen findet — Länder, in denen die deutschen
Interessen dahin gehen, die Selbständigkeit der Marokkaner, der Türken, der
Perser und in ihren selbständigen Gebieten die Politik der offenen Tür erhalten
und betrieben zu sehen, indessen andere europäische Staaten die Politik der
Sonderoorteile, der kolonialen Erwerbungen, der politischen Vormachtstellung
und der Handels- und Verkehrsmonopole treiben/

Nur vorübergehend hat die damals am Weltmarkt noch relativ wenig
interessierte deutsche Politik in jenen Gebieten ihrerseits jene monopolistisch-
kolonisatorische Politik anderer Staaten begünstigt, und zwar zu einer Zeit, als
Bismarck meinte, einen neuen deutsch-französischen Krieg abwenden zu können,
indem er Frankreich nicht nur freie Hand in Nordafrika ließ, sondern den
"ordafrikanischen Expansionsdrang der Franzosen geradezu als Ventil für ihren
überquellenden nationalen Ehrgeiz benutzte. Aber auch diese zeitweiligeBegünstigung
französischer Kolonialpolitik in den nordafrikanischen Gefilden des Mohamme-
danismus hatte ihre bestimmten und wohlberechneten Grenzen. Wenn die
Angliederuug von Tunis an das schon 1830 von Frankreich in Besitz genommene
Algier auf deutscher Seite keinen Widerspruch, sondern sogar Ermunterung fand,
so waren auch die Nebenwirkungen dieser französischen Expansionspolitik, nämlich
die Verärgerung Italiens und der Türkei gegen Frankreich, der deutschen Politik
keineswegs unerwünscht; wenn aber Frankreich damals von einem nordafrikanischen
Kolonialreich träumte, das im Süden vom Kongo, im Osten vom Nil, im Norden


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[0449] Gffene Tür oder Interessensphäre? tüchtiges 65>Millionenvolk, wie das deutsche es ist, läßt sich nicht aushungern und in der wirtschaftlichen Expansion, die dem beständigen Wachstum seiner Arbeitskräfte und den großen Fortschritten seiner Technik entspricht, auch nicht künstlich aufhalten. Wollte man den Versuch systematisch fortsetzen, ihm überall auf dem für den internationalen Wettbewerb freien Weltmarkte die Tür zu verschließen — es müßte notgedrungen einmal der Augenblick eintreten, in dem Deutschland trotz aller Friedensliebe gezwungen wird, die verriegelten Pforten des Weltmarktes gewaltsam zu sprengen! Um es nicht zu dieser äußersten Not¬ wendigkeit kommen zu lassen, wird die deutsche Diplomatie alle Mühe haben und es sich mit allen Mitteln angelegen sein lassen müssen, nicht erst systematisch ein Marokko auf das andere in immer längerer Reihe folgen zu lassen, sondern das Prinzip der offenen Tür zum Siege zu führen über das ihm schroff ent¬ gegengesetzte Prinzip der Interessensphären. In dieser Beziehung gewinnt der Gedankenaustausch der deutschen und russischen Diplomaten gelegentlich des letzten Zarenbesuches in Potsdam mit den Ergebnissen, über die der Reichs¬ kanzler v. Bethmann-Hollweg in der Neichstagssitzung am 8. Dezember 1910 berichtete, eine erfreuliche Bedeutung von hoher grundsätzlicher Wichtigkeit. Die deutsch-russische Verständigung über Persien und die Bagdadbahn durchlöchern einen weit angelegten Plan der Jnteressensphärenpolitik. Dem Süden Europas vorgelagert, dehnt sich zwischen Tanger und Teheran ein langer Streifen mohammedanischer Länder, in denen die Politik der europäischen Mächte ausgedehnte Reibungsflächen findet — Länder, in denen die deutschen Interessen dahin gehen, die Selbständigkeit der Marokkaner, der Türken, der Perser und in ihren selbständigen Gebieten die Politik der offenen Tür erhalten und betrieben zu sehen, indessen andere europäische Staaten die Politik der Sonderoorteile, der kolonialen Erwerbungen, der politischen Vormachtstellung und der Handels- und Verkehrsmonopole treiben/ Nur vorübergehend hat die damals am Weltmarkt noch relativ wenig interessierte deutsche Politik in jenen Gebieten ihrerseits jene monopolistisch- kolonisatorische Politik anderer Staaten begünstigt, und zwar zu einer Zeit, als Bismarck meinte, einen neuen deutsch-französischen Krieg abwenden zu können, indem er Frankreich nicht nur freie Hand in Nordafrika ließ, sondern den "ordafrikanischen Expansionsdrang der Franzosen geradezu als Ventil für ihren überquellenden nationalen Ehrgeiz benutzte. Aber auch diese zeitweiligeBegünstigung französischer Kolonialpolitik in den nordafrikanischen Gefilden des Mohamme- danismus hatte ihre bestimmten und wohlberechneten Grenzen. Wenn die Angliederuug von Tunis an das schon 1830 von Frankreich in Besitz genommene Algier auf deutscher Seite keinen Widerspruch, sondern sogar Ermunterung fand, so waren auch die Nebenwirkungen dieser französischen Expansionspolitik, nämlich die Verärgerung Italiens und der Türkei gegen Frankreich, der deutschen Politik keineswegs unerwünscht; wenn aber Frankreich damals von einem nordafrikanischen Kolonialreich träumte, das im Süden vom Kongo, im Osten vom Nil, im Norden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/449>, abgerufen am 22.07.2024.