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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Arbeiterschutzgesetzgebung

Werkstätten mit Kraftmaschinen im Jahre 1900 brachte einige Ruhe, vermehrte
aber die Mannigfaltigkeit der Vorschriften, weil bei dieser Gelegenheit eine
große Zahl von Ausnahmen bewilligt werden mußte. Das Jahr 1906 brachte
dann endlich die erste internationale Vereinbarung (die Berner Konvention),
die aber nicht vollständig war -- sie umfaßt nur die westeuropäischen Staaten
und einen Teil ihrer Kolonien; Nußland und ganz Amerika, Asien und Australien
haben ihren Beitritt nicht erklärt --, die nur auf die Arbeitszeit der Arbeiterinnen
sich bezieht und für Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern gilt. Die Verein¬
barung machte eine Änderung des deutschen Gesetzes erforderlich, die am
1. Januar 1910 in Kraft trat und wesentliche Verschärfungen sowohl gegen
die früheren, wie gegen die Bestimmungen der Berner Konvention brachte. --
Aus den "mehr als zehn" wurden unter anderem "mindestens zehn Arbeiter".
Deutschland ist also den übrigen Vertragstaaten wieder ein ganzes Stück voraus.
Die beiden letzten Jahrzehnte sind mithin angefüllt mit Maßregeln, die teils
Verschärfung der Vorschriften, teils ihre Ausdehnung auf immer mehr und
immer unbedeutendere Betriebe bedeuteten.

Wohin soll die Reise nun weiter gehen? Wer die Debatten im Reichstage,
in Parteiversammlungen, in Kongressen verfolgt hat, wer die Fachpresse vom
Schlage der Sozialen Praxis, die Besprechungen der Jahresberichte der Gewerbe-
anfsichtsbeamten in der Arbeiterpresse gelesen hat, kann über die Richtung nickt
im Zweifel sein. Der Handwerks- und Gewerbekammertag in Stuttgart im
September 1910 hat sich schon gegen die weitere Ausdehnung der sogenannten
Fabrikgesetzgebung auf die kleineren Motorbetriebe wehren zu müssen geglaubt.
Hier und da taucht schon der Vorschlag der Unterstellung der Hausindustrie
und Heimarbeit unter die Gewerbeaufsicht auf. Was man sich darunter vor¬
stellen soll, ist mir dunkel. Nebenher geht die Forderung einer intensiverer
Reoisionstätigkeit, die ebenso wie die anderen eine Vermehrung des Personals
und schließlich aus finanziellen Gründen seine Ergänzung ans weniger anspruchs¬
vollen Bevölkerungskreisen zur Folge haben muß. Damit wäre dann die Ein¬
stellung von Arbeitern in diesen Dienst ermöglicht. Es fehlt dann noch die
Wahl dieser Beamten durch die Arbeiter. Wenn bis dahin der Fabrikparla-
mentarismus noch nicht weit genug gediehen sein sollte, so wird sich ein Über¬
gang finden, etwa die Präsentation durch die Krankenkassen oder die Gewerbe¬
gerichtsbeisitzer. Damit wäre dann das Volkstribunat fertig, der erste Schritt
zur Verwirklichung des Traumes jeder Demokratie, der bürgerlichen wie der
sozialen, die Wählbarkeit der Staatsbeamten nach amerikanischem Muster, die
jedem Schmock oder Thersites ein zusammenklappbares, jederzeit gebrauchsfertiges
Zepterchen in die Tasche steckt. Die Verwirklichung dieser Bestrebungen steht noch
in weiten: Felde; aber will man es überhaupt erst zu einem Kampfe darum
kommen lassen?

Von der Konkurrenz des Allslandes scheint unsere Industrie einstweilen
noch uicht allzu viel zu fürchten zu haben. Ein hurtiger Beweis läßt sich zwar


Arbeiterschutzgesetzgebung

Werkstätten mit Kraftmaschinen im Jahre 1900 brachte einige Ruhe, vermehrte
aber die Mannigfaltigkeit der Vorschriften, weil bei dieser Gelegenheit eine
große Zahl von Ausnahmen bewilligt werden mußte. Das Jahr 1906 brachte
dann endlich die erste internationale Vereinbarung (die Berner Konvention),
die aber nicht vollständig war — sie umfaßt nur die westeuropäischen Staaten
und einen Teil ihrer Kolonien; Nußland und ganz Amerika, Asien und Australien
haben ihren Beitritt nicht erklärt —, die nur auf die Arbeitszeit der Arbeiterinnen
sich bezieht und für Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern gilt. Die Verein¬
barung machte eine Änderung des deutschen Gesetzes erforderlich, die am
1. Januar 1910 in Kraft trat und wesentliche Verschärfungen sowohl gegen
die früheren, wie gegen die Bestimmungen der Berner Konvention brachte. —
Aus den „mehr als zehn" wurden unter anderem „mindestens zehn Arbeiter".
Deutschland ist also den übrigen Vertragstaaten wieder ein ganzes Stück voraus.
Die beiden letzten Jahrzehnte sind mithin angefüllt mit Maßregeln, die teils
Verschärfung der Vorschriften, teils ihre Ausdehnung auf immer mehr und
immer unbedeutendere Betriebe bedeuteten.

Wohin soll die Reise nun weiter gehen? Wer die Debatten im Reichstage,
in Parteiversammlungen, in Kongressen verfolgt hat, wer die Fachpresse vom
Schlage der Sozialen Praxis, die Besprechungen der Jahresberichte der Gewerbe-
anfsichtsbeamten in der Arbeiterpresse gelesen hat, kann über die Richtung nickt
im Zweifel sein. Der Handwerks- und Gewerbekammertag in Stuttgart im
September 1910 hat sich schon gegen die weitere Ausdehnung der sogenannten
Fabrikgesetzgebung auf die kleineren Motorbetriebe wehren zu müssen geglaubt.
Hier und da taucht schon der Vorschlag der Unterstellung der Hausindustrie
und Heimarbeit unter die Gewerbeaufsicht auf. Was man sich darunter vor¬
stellen soll, ist mir dunkel. Nebenher geht die Forderung einer intensiverer
Reoisionstätigkeit, die ebenso wie die anderen eine Vermehrung des Personals
und schließlich aus finanziellen Gründen seine Ergänzung ans weniger anspruchs¬
vollen Bevölkerungskreisen zur Folge haben muß. Damit wäre dann die Ein¬
stellung von Arbeitern in diesen Dienst ermöglicht. Es fehlt dann noch die
Wahl dieser Beamten durch die Arbeiter. Wenn bis dahin der Fabrikparla-
mentarismus noch nicht weit genug gediehen sein sollte, so wird sich ein Über¬
gang finden, etwa die Präsentation durch die Krankenkassen oder die Gewerbe¬
gerichtsbeisitzer. Damit wäre dann das Volkstribunat fertig, der erste Schritt
zur Verwirklichung des Traumes jeder Demokratie, der bürgerlichen wie der
sozialen, die Wählbarkeit der Staatsbeamten nach amerikanischem Muster, die
jedem Schmock oder Thersites ein zusammenklappbares, jederzeit gebrauchsfertiges
Zepterchen in die Tasche steckt. Die Verwirklichung dieser Bestrebungen steht noch
in weiten: Felde; aber will man es überhaupt erst zu einem Kampfe darum
kommen lassen?

Von der Konkurrenz des Allslandes scheint unsere Industrie einstweilen
noch uicht allzu viel zu fürchten zu haben. Ein hurtiger Beweis läßt sich zwar


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[0401] Arbeiterschutzgesetzgebung Werkstätten mit Kraftmaschinen im Jahre 1900 brachte einige Ruhe, vermehrte aber die Mannigfaltigkeit der Vorschriften, weil bei dieser Gelegenheit eine große Zahl von Ausnahmen bewilligt werden mußte. Das Jahr 1906 brachte dann endlich die erste internationale Vereinbarung (die Berner Konvention), die aber nicht vollständig war — sie umfaßt nur die westeuropäischen Staaten und einen Teil ihrer Kolonien; Nußland und ganz Amerika, Asien und Australien haben ihren Beitritt nicht erklärt —, die nur auf die Arbeitszeit der Arbeiterinnen sich bezieht und für Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern gilt. Die Verein¬ barung machte eine Änderung des deutschen Gesetzes erforderlich, die am 1. Januar 1910 in Kraft trat und wesentliche Verschärfungen sowohl gegen die früheren, wie gegen die Bestimmungen der Berner Konvention brachte. — Aus den „mehr als zehn" wurden unter anderem „mindestens zehn Arbeiter". Deutschland ist also den übrigen Vertragstaaten wieder ein ganzes Stück voraus. Die beiden letzten Jahrzehnte sind mithin angefüllt mit Maßregeln, die teils Verschärfung der Vorschriften, teils ihre Ausdehnung auf immer mehr und immer unbedeutendere Betriebe bedeuteten. Wohin soll die Reise nun weiter gehen? Wer die Debatten im Reichstage, in Parteiversammlungen, in Kongressen verfolgt hat, wer die Fachpresse vom Schlage der Sozialen Praxis, die Besprechungen der Jahresberichte der Gewerbe- anfsichtsbeamten in der Arbeiterpresse gelesen hat, kann über die Richtung nickt im Zweifel sein. Der Handwerks- und Gewerbekammertag in Stuttgart im September 1910 hat sich schon gegen die weitere Ausdehnung der sogenannten Fabrikgesetzgebung auf die kleineren Motorbetriebe wehren zu müssen geglaubt. Hier und da taucht schon der Vorschlag der Unterstellung der Hausindustrie und Heimarbeit unter die Gewerbeaufsicht auf. Was man sich darunter vor¬ stellen soll, ist mir dunkel. Nebenher geht die Forderung einer intensiverer Reoisionstätigkeit, die ebenso wie die anderen eine Vermehrung des Personals und schließlich aus finanziellen Gründen seine Ergänzung ans weniger anspruchs¬ vollen Bevölkerungskreisen zur Folge haben muß. Damit wäre dann die Ein¬ stellung von Arbeitern in diesen Dienst ermöglicht. Es fehlt dann noch die Wahl dieser Beamten durch die Arbeiter. Wenn bis dahin der Fabrikparla- mentarismus noch nicht weit genug gediehen sein sollte, so wird sich ein Über¬ gang finden, etwa die Präsentation durch die Krankenkassen oder die Gewerbe¬ gerichtsbeisitzer. Damit wäre dann das Volkstribunat fertig, der erste Schritt zur Verwirklichung des Traumes jeder Demokratie, der bürgerlichen wie der sozialen, die Wählbarkeit der Staatsbeamten nach amerikanischem Muster, die jedem Schmock oder Thersites ein zusammenklappbares, jederzeit gebrauchsfertiges Zepterchen in die Tasche steckt. Die Verwirklichung dieser Bestrebungen steht noch in weiten: Felde; aber will man es überhaupt erst zu einem Kampfe darum kommen lassen? Von der Konkurrenz des Allslandes scheint unsere Industrie einstweilen noch uicht allzu viel zu fürchten zu haben. Ein hurtiger Beweis läßt sich zwar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/401>, abgerufen am 29.06.2024.