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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Arbeiterschutzgesetzgebung

dein sich gezeigt hatte, daß die internationale Vereinbarung nur langsam vor¬
wärts komme, mußte bewiesen werden, daß Deutschland bereit sei, Opfer zu
bringen, und daß die Sache ginge. Das war auch so lange ungefährlich, als
man sich darauf beschränkte, schädliche Auswüchse der industriellen Entwicklung
zu beseitigen: Wenn man die Arbeitszeit weiblicher und jugendlicher Arbeiter
von einem gesundheitsschädlichen Übermaß auf ein vernünftiges Maß vermindert,
so wird man an Leistung nichts verlieren, weil die Leistungsfähigkeit dieser
Arbeiter bald steigen wird; ja, einige Jahre später, wenn die in ihrer Jugend
besser behandelten Arbeiter herangewachsen sind, und wiederum einige Jahre
später, wenn die Kinder der besser geschonten Arbeiterinnen heranzuwachsen
beginnen, kann sogar ein Vorteil für die Volkswirtschaft herausspringen. Das
ist aber nur so lange der Fall, als das mit Rücksicht auf die körperliche Ent¬
wicklung der Jugendlichen und die Gesundheit erwachsener Arbeiter zulässige
Höchstmaß an Arbeitszeit nicht unterschritten wird. Eine weitergehende Herab¬
minderung der Arbeitszeit kann für das Familienleben, für die geistige und
sittliche Entwicklung des Volkes ein Vorteil sein; mit dieser Herabminderung
aber überschreiten wir die Scheide, von der an die Wasser nicht mehr in den
Strom des Nationalvermögens, sondern in das Tal der Volkswohlfahrt fließen.
Da ist wohl die Frage berechtigt: Ist Germania so weit, daß sie es sich etwas
bequemer machen kann? daß sie die Einwicklung nicht auf die erkrankten
Glieder zu beschränken braucht, fondern die Binden auch da anwenden darf,
wo sie lediglich das Behagen erhöhen? Mancher wird geneigt sein, diese Frage
zu verneinen. Mancher wird auch sagen: Wenn sich die Arbeiter selbst eine
kürzere Arbeitszeit erringen -- gut. Dann ist die Gewähr gegeben, daß dieser
Vorteil nicht mit schädlichen Lohneinbußen erkauft wird, und es spricht eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Gewerbe und damit die Volkswirt¬
schaft die neue Belastung vertragen kann. Die gesetzlich erzwungenen Abkürzungen
der Arbeitszeit sind dagegen gar nicht selten mit einer Mindereinnahme für die
Arbeiter verbunden, weil der Industriezweig, in dem sie Beschäftigung gefunden
haben, an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen ist.

Leider muß ich mir versagen, den Entwicklungsgang unserer Arbeiterschutz¬
gesetzgebung oder auch nur ihren augenblicklichen Stand darzulegen. So viel
Papier, wie dazu auch bei gedrängtester Darstellung nötig wäre, würde mir
der Verleger, so viel Zeit und Geduld der Leser nicht zur Verfügung stellen.
Darum sei nur so viel gesagt: das Gesetz greift sehr tief in die verschiedenartigsten
Verhältnisse ein. Die Folge davon ist eine große Mannigfaltigkeit derBestimmungen,
die die Übersicht und die Durchführung erschwert. Man wollte zunächst nur
die größeren, fabrikmäßigen Betriebe unter das Gesetz stellen, es gelang aber
nicht, eine scharfe Abgrenzung dafür zu finden. Infolgedessen ergab sich ein
Gebiet zweifelhaften Rechtes, auf dem der Kampf, ob die Betriebe als Fabriken
unter die Schutzbestunmungen fallen oder als Werkstätten davon freibleiben sollten,
hin und her tobte. Die Ausdehnung der Vorschriften auf nichtfabrikmäßige


Arbeiterschutzgesetzgebung

dein sich gezeigt hatte, daß die internationale Vereinbarung nur langsam vor¬
wärts komme, mußte bewiesen werden, daß Deutschland bereit sei, Opfer zu
bringen, und daß die Sache ginge. Das war auch so lange ungefährlich, als
man sich darauf beschränkte, schädliche Auswüchse der industriellen Entwicklung
zu beseitigen: Wenn man die Arbeitszeit weiblicher und jugendlicher Arbeiter
von einem gesundheitsschädlichen Übermaß auf ein vernünftiges Maß vermindert,
so wird man an Leistung nichts verlieren, weil die Leistungsfähigkeit dieser
Arbeiter bald steigen wird; ja, einige Jahre später, wenn die in ihrer Jugend
besser behandelten Arbeiter herangewachsen sind, und wiederum einige Jahre
später, wenn die Kinder der besser geschonten Arbeiterinnen heranzuwachsen
beginnen, kann sogar ein Vorteil für die Volkswirtschaft herausspringen. Das
ist aber nur so lange der Fall, als das mit Rücksicht auf die körperliche Ent¬
wicklung der Jugendlichen und die Gesundheit erwachsener Arbeiter zulässige
Höchstmaß an Arbeitszeit nicht unterschritten wird. Eine weitergehende Herab¬
minderung der Arbeitszeit kann für das Familienleben, für die geistige und
sittliche Entwicklung des Volkes ein Vorteil sein; mit dieser Herabminderung
aber überschreiten wir die Scheide, von der an die Wasser nicht mehr in den
Strom des Nationalvermögens, sondern in das Tal der Volkswohlfahrt fließen.
Da ist wohl die Frage berechtigt: Ist Germania so weit, daß sie es sich etwas
bequemer machen kann? daß sie die Einwicklung nicht auf die erkrankten
Glieder zu beschränken braucht, fondern die Binden auch da anwenden darf,
wo sie lediglich das Behagen erhöhen? Mancher wird geneigt sein, diese Frage
zu verneinen. Mancher wird auch sagen: Wenn sich die Arbeiter selbst eine
kürzere Arbeitszeit erringen — gut. Dann ist die Gewähr gegeben, daß dieser
Vorteil nicht mit schädlichen Lohneinbußen erkauft wird, und es spricht eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Gewerbe und damit die Volkswirt¬
schaft die neue Belastung vertragen kann. Die gesetzlich erzwungenen Abkürzungen
der Arbeitszeit sind dagegen gar nicht selten mit einer Mindereinnahme für die
Arbeiter verbunden, weil der Industriezweig, in dem sie Beschäftigung gefunden
haben, an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen ist.

Leider muß ich mir versagen, den Entwicklungsgang unserer Arbeiterschutz¬
gesetzgebung oder auch nur ihren augenblicklichen Stand darzulegen. So viel
Papier, wie dazu auch bei gedrängtester Darstellung nötig wäre, würde mir
der Verleger, so viel Zeit und Geduld der Leser nicht zur Verfügung stellen.
Darum sei nur so viel gesagt: das Gesetz greift sehr tief in die verschiedenartigsten
Verhältnisse ein. Die Folge davon ist eine große Mannigfaltigkeit derBestimmungen,
die die Übersicht und die Durchführung erschwert. Man wollte zunächst nur
die größeren, fabrikmäßigen Betriebe unter das Gesetz stellen, es gelang aber
nicht, eine scharfe Abgrenzung dafür zu finden. Infolgedessen ergab sich ein
Gebiet zweifelhaften Rechtes, auf dem der Kampf, ob die Betriebe als Fabriken
unter die Schutzbestunmungen fallen oder als Werkstätten davon freibleiben sollten,
hin und her tobte. Die Ausdehnung der Vorschriften auf nichtfabrikmäßige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/400>, abgerufen am 01.07.2024.