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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die lviederkunft Naundorffs

Familienbriefe, die O. Friedrichs herausgegeben und als rührende Beweisstücke
einer moralischen Identität Naundorffs mit dem Dauphin Ludwig bezeichnet hat,
kritisch und zeigt, daß sie keine Spur von großartigen und ergreifenden Erinne¬
rungen eines Königssohnes, sondern nur mystische Prahlereien und die naive
Freude des Uhrmachers über die kostbaren Geld- und Schmuckgeschenke verraten,
die er seinen Verwandten schicken kann. Anweisungen zur Täuschung der Steuer¬
behörde und selbst der französischen Freunde stimmen sehr bedenklich, und ver¬
räterisch klingt es, wenn er seinen Kindern empfiehlt, den 27. März, den
Geburtstag Ludwigs des siebzehnten, als seinen Ehrentag zu feiern und die
ahnungslose Mutter damit zu überraschen -- woraus sich ergibt, daß Johanna
Einert, die Frau des Uhrmachers, bisher keine Ahnung von dem fürstlichen
Geburtstage ihres Gatten hatte.

Eine große Rolle in den Büchern der Naundorffianer spielen die sogenannten
Wiedererkennungen ihres Helden durch alte Diener Ludwigs des Sechzehnten.
Auf wen machte es nicht Eindruck, wenn wir hören, daß die Wiegefrau des
Dauphins, Frau v. Rambaud, um ihm eine Falle zu stellen, ihn fragte, ob
er sich erinnere, ein kleines mitgebrachtes blaues Kleid in den Tuilerien getragen
zu haben, und er sogleich darauf antwortete, er erinnere sich an das Kleid,
aber er habe es nur in Versailles, und zwar nur einmal getragen, weil es ihm
zu eng gewesen sei! Und Frau v. Rambaud ist nur eine von vielen, die in
Naundorff Ludwig den siebzehnten wiedererkannten. Aber man wird an dem
Wert dieser Nekognitionen sogleich irre, wenn man erfährt, daß Naundorffs
wichtigster Nebenbuhler, der Pseudobaron von Richemont, eine weit größere Zahl
auffallender Zeugnisse für sich anführen konnte und eine gleiche Zahl vornehmer
Legitimisten um sich sammelte. Ganz wie Naundorff verblüffte er durch die
Siegesgewißheit seines Auftretens, suchte gerade die zweifelnden Zeugen auf,
um sie zu gewinnen, und in der Tat schworen alte Lehrer und Spielgefährten
des Dauphins auf ihn, und selbst Frau v. Rambaud wurde irre, als sie Richemont
nach Naundorff kennen lernte und rief verwirrt, nur der Himmel könne zwischen
diesem und jenem Ludwig entscheiden. Man sieht daraus, von wie zweifel¬
haftem Werte solche nach vielen Jahren erfolgenden Wiedererkenuungen sind,
und wird sich hüten, ihnen eine entscheidende Geltung beizumessen.

Ebenso hat man von der körperlichen Ähnlichkeit Naundorffs und seiner
Nachkommen mit den Bourbonen allzuviel Lärm gemacht. Abgesehen davon,
daß allen falschen Dauphins der Bourbonische Familientypus und die geheimnis¬
vollen Male zugeschrieben wurden, haben neuere Untersuchungen sachverständiger
Künstler und Anatomen gezeigt, daß die Gesichtsbildung, Farbe der Haare, Form
der Nase und der Mundpartie bei Naundorff keineswegs mit der des jungen
Ludwig übereinstimmten und daß gefällige Porträtisten in ihren Bildern die
Ähnlichkeit, von ihrer Parteimeinung verleitet, übertrieben haben.

Den wichtigsten Beitrag zur Lösung des Rätsels Naundorff aber hat
Georges de Manteycr geliefert, ein Pariser Gelehrter, der in den letzten Jahren


Die lviederkunft Naundorffs

Familienbriefe, die O. Friedrichs herausgegeben und als rührende Beweisstücke
einer moralischen Identität Naundorffs mit dem Dauphin Ludwig bezeichnet hat,
kritisch und zeigt, daß sie keine Spur von großartigen und ergreifenden Erinne¬
rungen eines Königssohnes, sondern nur mystische Prahlereien und die naive
Freude des Uhrmachers über die kostbaren Geld- und Schmuckgeschenke verraten,
die er seinen Verwandten schicken kann. Anweisungen zur Täuschung der Steuer¬
behörde und selbst der französischen Freunde stimmen sehr bedenklich, und ver¬
räterisch klingt es, wenn er seinen Kindern empfiehlt, den 27. März, den
Geburtstag Ludwigs des siebzehnten, als seinen Ehrentag zu feiern und die
ahnungslose Mutter damit zu überraschen — woraus sich ergibt, daß Johanna
Einert, die Frau des Uhrmachers, bisher keine Ahnung von dem fürstlichen
Geburtstage ihres Gatten hatte.

Eine große Rolle in den Büchern der Naundorffianer spielen die sogenannten
Wiedererkennungen ihres Helden durch alte Diener Ludwigs des Sechzehnten.
Auf wen machte es nicht Eindruck, wenn wir hören, daß die Wiegefrau des
Dauphins, Frau v. Rambaud, um ihm eine Falle zu stellen, ihn fragte, ob
er sich erinnere, ein kleines mitgebrachtes blaues Kleid in den Tuilerien getragen
zu haben, und er sogleich darauf antwortete, er erinnere sich an das Kleid,
aber er habe es nur in Versailles, und zwar nur einmal getragen, weil es ihm
zu eng gewesen sei! Und Frau v. Rambaud ist nur eine von vielen, die in
Naundorff Ludwig den siebzehnten wiedererkannten. Aber man wird an dem
Wert dieser Nekognitionen sogleich irre, wenn man erfährt, daß Naundorffs
wichtigster Nebenbuhler, der Pseudobaron von Richemont, eine weit größere Zahl
auffallender Zeugnisse für sich anführen konnte und eine gleiche Zahl vornehmer
Legitimisten um sich sammelte. Ganz wie Naundorff verblüffte er durch die
Siegesgewißheit seines Auftretens, suchte gerade die zweifelnden Zeugen auf,
um sie zu gewinnen, und in der Tat schworen alte Lehrer und Spielgefährten
des Dauphins auf ihn, und selbst Frau v. Rambaud wurde irre, als sie Richemont
nach Naundorff kennen lernte und rief verwirrt, nur der Himmel könne zwischen
diesem und jenem Ludwig entscheiden. Man sieht daraus, von wie zweifel¬
haftem Werte solche nach vielen Jahren erfolgenden Wiedererkenuungen sind,
und wird sich hüten, ihnen eine entscheidende Geltung beizumessen.

Ebenso hat man von der körperlichen Ähnlichkeit Naundorffs und seiner
Nachkommen mit den Bourbonen allzuviel Lärm gemacht. Abgesehen davon,
daß allen falschen Dauphins der Bourbonische Familientypus und die geheimnis¬
vollen Male zugeschrieben wurden, haben neuere Untersuchungen sachverständiger
Künstler und Anatomen gezeigt, daß die Gesichtsbildung, Farbe der Haare, Form
der Nase und der Mundpartie bei Naundorff keineswegs mit der des jungen
Ludwig übereinstimmten und daß gefällige Porträtisten in ihren Bildern die
Ähnlichkeit, von ihrer Parteimeinung verleitet, übertrieben haben.

Den wichtigsten Beitrag zur Lösung des Rätsels Naundorff aber hat
Georges de Manteycr geliefert, ein Pariser Gelehrter, der in den letzten Jahren


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[0360] Die lviederkunft Naundorffs Familienbriefe, die O. Friedrichs herausgegeben und als rührende Beweisstücke einer moralischen Identität Naundorffs mit dem Dauphin Ludwig bezeichnet hat, kritisch und zeigt, daß sie keine Spur von großartigen und ergreifenden Erinne¬ rungen eines Königssohnes, sondern nur mystische Prahlereien und die naive Freude des Uhrmachers über die kostbaren Geld- und Schmuckgeschenke verraten, die er seinen Verwandten schicken kann. Anweisungen zur Täuschung der Steuer¬ behörde und selbst der französischen Freunde stimmen sehr bedenklich, und ver¬ räterisch klingt es, wenn er seinen Kindern empfiehlt, den 27. März, den Geburtstag Ludwigs des siebzehnten, als seinen Ehrentag zu feiern und die ahnungslose Mutter damit zu überraschen — woraus sich ergibt, daß Johanna Einert, die Frau des Uhrmachers, bisher keine Ahnung von dem fürstlichen Geburtstage ihres Gatten hatte. Eine große Rolle in den Büchern der Naundorffianer spielen die sogenannten Wiedererkennungen ihres Helden durch alte Diener Ludwigs des Sechzehnten. Auf wen machte es nicht Eindruck, wenn wir hören, daß die Wiegefrau des Dauphins, Frau v. Rambaud, um ihm eine Falle zu stellen, ihn fragte, ob er sich erinnere, ein kleines mitgebrachtes blaues Kleid in den Tuilerien getragen zu haben, und er sogleich darauf antwortete, er erinnere sich an das Kleid, aber er habe es nur in Versailles, und zwar nur einmal getragen, weil es ihm zu eng gewesen sei! Und Frau v. Rambaud ist nur eine von vielen, die in Naundorff Ludwig den siebzehnten wiedererkannten. Aber man wird an dem Wert dieser Nekognitionen sogleich irre, wenn man erfährt, daß Naundorffs wichtigster Nebenbuhler, der Pseudobaron von Richemont, eine weit größere Zahl auffallender Zeugnisse für sich anführen konnte und eine gleiche Zahl vornehmer Legitimisten um sich sammelte. Ganz wie Naundorff verblüffte er durch die Siegesgewißheit seines Auftretens, suchte gerade die zweifelnden Zeugen auf, um sie zu gewinnen, und in der Tat schworen alte Lehrer und Spielgefährten des Dauphins auf ihn, und selbst Frau v. Rambaud wurde irre, als sie Richemont nach Naundorff kennen lernte und rief verwirrt, nur der Himmel könne zwischen diesem und jenem Ludwig entscheiden. Man sieht daraus, von wie zweifel¬ haftem Werte solche nach vielen Jahren erfolgenden Wiedererkenuungen sind, und wird sich hüten, ihnen eine entscheidende Geltung beizumessen. Ebenso hat man von der körperlichen Ähnlichkeit Naundorffs und seiner Nachkommen mit den Bourbonen allzuviel Lärm gemacht. Abgesehen davon, daß allen falschen Dauphins der Bourbonische Familientypus und die geheimnis¬ vollen Male zugeschrieben wurden, haben neuere Untersuchungen sachverständiger Künstler und Anatomen gezeigt, daß die Gesichtsbildung, Farbe der Haare, Form der Nase und der Mundpartie bei Naundorff keineswegs mit der des jungen Ludwig übereinstimmten und daß gefällige Porträtisten in ihren Bildern die Ähnlichkeit, von ihrer Parteimeinung verleitet, übertrieben haben. Den wichtigsten Beitrag zur Lösung des Rätsels Naundorff aber hat Georges de Manteycr geliefert, ein Pariser Gelehrter, der in den letzten Jahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/360>, abgerufen am 01.07.2024.