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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die FreircchtsblNvcgung

Fehlt es an einer gesetzlichen Vorschrift, so entscheidet der Richter nach
Gewohnheitsrecht und, wo ein solches nicht besteht, nach bewährter Lehre und
Überlieferung.

Kann er aus keiner dieser Quellen das Recht schöpfen, so fällt er sein
Urteil nach der Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen müßte."

Um dieser letztgenannten schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, wird der
Richter allerdings Kenntnis und Verständnis der treibenden Kräfte des wirt¬
schaftlichen Lebens, soziales Gefühl und praktisches Empfinden in größtem Maße
besitzen müssen. Dies sind aber dieselben Eigenschaften, welche unser Zeitalter
gerade von-vergangenen Zeiten unterscheiden und auszeichnen, die Eigenschaften,
welche aus dem staunenerregenden Aufschwünge, den Deutschland dank seinem
Handel, seiner Technik und Industrie genommen hat, geboren worden sind.
Werden diese Eigenschaften von der sslla cumUZ aus betätigt werden, so wird
mit einem Schlage auch all das Gerede von der Weltfremdheit unserer Richter
verstummen. Ein Richter, der an seine Prozesse mit diesem geistigen Niveau
Herangehen wird, der wird auch von selbst davor bewahrt bleiben, in der
Erfüllung der Formalitäten des Rechts die höchste Aufgabe des Juristen zu
erblicken, der wird die Formen, die bis zu einem gewissen Grade freilich stets
unentbehrlich sein werden, in die eine gebührende, nur ordnende und registrierende
Stellung zurückweisen, der wird aber nicht, wie es leider heute noch Juristen
gibt, glücklich sein, wenn er einen formalen Mangel entdeckt hat, Grund dessen
er dann eine Klage oder einen Antrag "zurückschmettern" kann. Um das unnötige
Überwuchern des Formalismus, wie er sich besonders in Handhabungen unserer
Prozeßbestimmungen äußert, an einem Beispiel zu zeigen, sei auf die Bestimmungen
der Zivilprozeßordnungen über Klageänderung hingewiesen. Z 264 Zivil¬
prozeßordnung bestimmt:


"Nach dem Eintreten der Rechtshängigkeit ist eine Änderung der Klage nur
zugelassen, wenn der Beklagte einwilligt oder wenn nach dem Ermessen des
Gerichts durch die Änderung die Verteidigung des Beklagten nicht wesentlich
erschwert wird."

Welche unnötige Schererei wird heute noch vielfach mit diesem Paragraphen
getrieben. Der Kläger stützt seinen Anspruch z. B. zunächst auf einen Kauf,
später auf ein Darlehn, oder er hat den Anspruch zunächst für sich geltend gemacht,
erhebt aber demnächst den Anspruch als Vertreter seiner Ehefrau. Sofort wird
unzulässige Klageänderung vom Beklagten gerügt. Die Folge ist, daß der Kläger,
da er die Klage auf das erste Fundament eben mit Aussicht auf Erfolg nicht
stützen kann, sie entweder zurücknimmt oder mit ihr abgewiesen wird. Acht Tage
später ist natürlich eine neue Klage gegen denselben Beklagten, gestützt auf das
zweite Fundament, anhängig. Welche Geld- und Kraftvergeudung! Es kann
selbstverständlich nicht verlangt werden, daß ein Beklagter unvorbereitet sich auf
eine geänderte Klage einläßt; aber wenn er alsdann einen Anspruch auf Ver¬
tagung mit ausreichendem Zeitraume hätte, so könnte er sich stets im Nahmen


Die FreircchtsblNvcgung

Fehlt es an einer gesetzlichen Vorschrift, so entscheidet der Richter nach
Gewohnheitsrecht und, wo ein solches nicht besteht, nach bewährter Lehre und
Überlieferung.

Kann er aus keiner dieser Quellen das Recht schöpfen, so fällt er sein
Urteil nach der Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen müßte."

Um dieser letztgenannten schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, wird der
Richter allerdings Kenntnis und Verständnis der treibenden Kräfte des wirt¬
schaftlichen Lebens, soziales Gefühl und praktisches Empfinden in größtem Maße
besitzen müssen. Dies sind aber dieselben Eigenschaften, welche unser Zeitalter
gerade von-vergangenen Zeiten unterscheiden und auszeichnen, die Eigenschaften,
welche aus dem staunenerregenden Aufschwünge, den Deutschland dank seinem
Handel, seiner Technik und Industrie genommen hat, geboren worden sind.
Werden diese Eigenschaften von der sslla cumUZ aus betätigt werden, so wird
mit einem Schlage auch all das Gerede von der Weltfremdheit unserer Richter
verstummen. Ein Richter, der an seine Prozesse mit diesem geistigen Niveau
Herangehen wird, der wird auch von selbst davor bewahrt bleiben, in der
Erfüllung der Formalitäten des Rechts die höchste Aufgabe des Juristen zu
erblicken, der wird die Formen, die bis zu einem gewissen Grade freilich stets
unentbehrlich sein werden, in die eine gebührende, nur ordnende und registrierende
Stellung zurückweisen, der wird aber nicht, wie es leider heute noch Juristen
gibt, glücklich sein, wenn er einen formalen Mangel entdeckt hat, Grund dessen
er dann eine Klage oder einen Antrag „zurückschmettern" kann. Um das unnötige
Überwuchern des Formalismus, wie er sich besonders in Handhabungen unserer
Prozeßbestimmungen äußert, an einem Beispiel zu zeigen, sei auf die Bestimmungen
der Zivilprozeßordnungen über Klageänderung hingewiesen. Z 264 Zivil¬
prozeßordnung bestimmt:


„Nach dem Eintreten der Rechtshängigkeit ist eine Änderung der Klage nur
zugelassen, wenn der Beklagte einwilligt oder wenn nach dem Ermessen des
Gerichts durch die Änderung die Verteidigung des Beklagten nicht wesentlich
erschwert wird."

Welche unnötige Schererei wird heute noch vielfach mit diesem Paragraphen
getrieben. Der Kläger stützt seinen Anspruch z. B. zunächst auf einen Kauf,
später auf ein Darlehn, oder er hat den Anspruch zunächst für sich geltend gemacht,
erhebt aber demnächst den Anspruch als Vertreter seiner Ehefrau. Sofort wird
unzulässige Klageänderung vom Beklagten gerügt. Die Folge ist, daß der Kläger,
da er die Klage auf das erste Fundament eben mit Aussicht auf Erfolg nicht
stützen kann, sie entweder zurücknimmt oder mit ihr abgewiesen wird. Acht Tage
später ist natürlich eine neue Klage gegen denselben Beklagten, gestützt auf das
zweite Fundament, anhängig. Welche Geld- und Kraftvergeudung! Es kann
selbstverständlich nicht verlangt werden, daß ein Beklagter unvorbereitet sich auf
eine geänderte Klage einläßt; aber wenn er alsdann einen Anspruch auf Ver¬
tagung mit ausreichendem Zeitraume hätte, so könnte er sich stets im Nahmen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/352>, abgerufen am 28.09.2024.