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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die Lreirechtsbewegung

Dies ist eine völlige Verkennung unserer Bewegung. Das Gesetz soll auch für
den Anhänger der Freirechtsbewegung die oberste Richtschnur der Rechtsprechung
bleiben; wo das Gesetz klar ist, soll auch der künftige Richter ihm unbedingt
unterworfen sein. Aber es gibt zahlreiche Fälle, in denen das Gesetz unklar
ist oder völlig schweigt. Hier arbeitet die alte Schule mit der Unterstellung,
daß das Gesetz lückenlos sei, und daß es nur gelte, die scheinbare Lücke durch
Konstruktion auszufüllen. Zur Konstruktion aber bedient man sich entweder des
Argumentes aus der Analogie oder des Argumentes aus dem Gegenteil. Ob
ein Fall, für den eine gesetzliche Bestimmung fehlt, nach Analogie einer anderen
gesetzlichen Bestimmung zu entscheiden sei oder aus der Tatsache, daß der Fall
in der nächstliegenden Bestimmung gerade nicht geregelt ist, arZumento con-
trg.no nun das Gegenteil dieser Bestimmung als Rechtsnorm gefolgert wird,
das hängt davon ab, was der Richter aus dem Willen des Gesetzgebers oder
aus dem Geist des Gesetzes oder aus dem Wortlaut in grammatischer und
logischer Interpretation herausliest. Oft liest eine Instanz das Gegenteil von
dem heraus, was die andere Instanz herausgelesen hat, und somit ist auch nach
der alten Praxis den Unstimmigkeiten Tür und Tor geöffnet. Die Methode
der juristischen Konstruktion führt in ihren Rechtsfolgen notwendig dazu, daß
der Richter nur darauf achtet, ob er den Fall richtig konstruiert habe. Ob das
Resultat, zu welchem er dabei kommt, ein brauchbares oder unbrauchbares, ob
es ein der praktischen Vernunft ins Gesicht schlagendes oder nicht ist, das muß
dem eingefleischter Konstruktionsjuristen gleichgültig sein. Leider haben wir auch
genug Entscheidungen erlebt, welche nur konstruiert und auf die wirtschaftlichen
Verhältnisse nicht gesehen haben. Diese Entscheidungen sind es gerade gewesen,
welche die feindselige Stimmung, die gegen den Richterstand heute leider in
Deutschland weit verbreitet ist, großzogen und welche das Gerede von der Welt¬
fremdheit der Richter in Umlauf gebracht haben. Natürlich hat es zu allen
Zeiten auch eine große Anzahl von Richtern gegeben, welche sich gegen diese
Konstruktions-Jurisprudenz instinktiv gesträubt und zunächst, darauf gesehen haben,
daß sie den Rechtsstreit wirtschaftlich brauchbar entscheiden, und sich dann erst
überlegt haben, wie ist zu konstruieren, damit wir auch juristisch zu diesem ver¬
nünftigen Resultat kommen. Für solche Juristen hat Fuchs das treffende Wort
,,Ku)ptosoziologen" geprägt. Sie sind von soziologischen Geiste erfüllt, aber sie
wagen unter dem Drucke der herrschenden Schule noch nicht, ihr Urteil offen
mit wirtschaftlichen oder soziologischen Motiven zu begründen, sondern sie
hängen ihm noch ein Mäntelchen der Konstruktion um.

Wie weit die Bindung an das Gesetz reichen muß und wo die
soziologische Entscheidung beginnen darf, das hat in einer vorbildlichen Form
Artikel 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches mit der Fassung zum Ausdruck
gebracht:

"Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach
Wortlaut und Auslegung eine Bestimmung enthält.


Die Lreirechtsbewegung

Dies ist eine völlige Verkennung unserer Bewegung. Das Gesetz soll auch für
den Anhänger der Freirechtsbewegung die oberste Richtschnur der Rechtsprechung
bleiben; wo das Gesetz klar ist, soll auch der künftige Richter ihm unbedingt
unterworfen sein. Aber es gibt zahlreiche Fälle, in denen das Gesetz unklar
ist oder völlig schweigt. Hier arbeitet die alte Schule mit der Unterstellung,
daß das Gesetz lückenlos sei, und daß es nur gelte, die scheinbare Lücke durch
Konstruktion auszufüllen. Zur Konstruktion aber bedient man sich entweder des
Argumentes aus der Analogie oder des Argumentes aus dem Gegenteil. Ob
ein Fall, für den eine gesetzliche Bestimmung fehlt, nach Analogie einer anderen
gesetzlichen Bestimmung zu entscheiden sei oder aus der Tatsache, daß der Fall
in der nächstliegenden Bestimmung gerade nicht geregelt ist, arZumento con-
trg.no nun das Gegenteil dieser Bestimmung als Rechtsnorm gefolgert wird,
das hängt davon ab, was der Richter aus dem Willen des Gesetzgebers oder
aus dem Geist des Gesetzes oder aus dem Wortlaut in grammatischer und
logischer Interpretation herausliest. Oft liest eine Instanz das Gegenteil von
dem heraus, was die andere Instanz herausgelesen hat, und somit ist auch nach
der alten Praxis den Unstimmigkeiten Tür und Tor geöffnet. Die Methode
der juristischen Konstruktion führt in ihren Rechtsfolgen notwendig dazu, daß
der Richter nur darauf achtet, ob er den Fall richtig konstruiert habe. Ob das
Resultat, zu welchem er dabei kommt, ein brauchbares oder unbrauchbares, ob
es ein der praktischen Vernunft ins Gesicht schlagendes oder nicht ist, das muß
dem eingefleischter Konstruktionsjuristen gleichgültig sein. Leider haben wir auch
genug Entscheidungen erlebt, welche nur konstruiert und auf die wirtschaftlichen
Verhältnisse nicht gesehen haben. Diese Entscheidungen sind es gerade gewesen,
welche die feindselige Stimmung, die gegen den Richterstand heute leider in
Deutschland weit verbreitet ist, großzogen und welche das Gerede von der Welt¬
fremdheit der Richter in Umlauf gebracht haben. Natürlich hat es zu allen
Zeiten auch eine große Anzahl von Richtern gegeben, welche sich gegen diese
Konstruktions-Jurisprudenz instinktiv gesträubt und zunächst, darauf gesehen haben,
daß sie den Rechtsstreit wirtschaftlich brauchbar entscheiden, und sich dann erst
überlegt haben, wie ist zu konstruieren, damit wir auch juristisch zu diesem ver¬
nünftigen Resultat kommen. Für solche Juristen hat Fuchs das treffende Wort
,,Ku)ptosoziologen" geprägt. Sie sind von soziologischen Geiste erfüllt, aber sie
wagen unter dem Drucke der herrschenden Schule noch nicht, ihr Urteil offen
mit wirtschaftlichen oder soziologischen Motiven zu begründen, sondern sie
hängen ihm noch ein Mäntelchen der Konstruktion um.

Wie weit die Bindung an das Gesetz reichen muß und wo die
soziologische Entscheidung beginnen darf, das hat in einer vorbildlichen Form
Artikel 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches mit der Fassung zum Ausdruck
gebracht:

„Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach
Wortlaut und Auslegung eine Bestimmung enthält.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/351>, abgerufen am 26.06.2024.