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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die Freirechtsbewegung

des ersten Prozesses auf die veränderte Klage mit seiner Verteidigung genügend
einrichten. Ein modern denkender Richter wird deshalb, wo er irgend kann,
verneinen, daß durch die Änderung der Klage die Verteidigung des Beklagten
wesentlich erschwert werde, und eine künftige Prozeßordnung wird hoffentlich
den Einwand der unzulässigen Klageänderung ganz beseitigen.

Wir sind damit zu einer zweiten Forderung der Freirechtsbewegung gekommen,
daß die Gesetzgebung künftig nicht durch Schaffung vou Formalien das Rechts¬
leben unnötig erschwere, daß sie auch in materiellen Rechten nicht zu enge und
begriffsmäßige Regeln aufstelle, weil unser Leben doch so bunt und vielseitig
geworden ist, daß weniger denn je alle Fälle des Lebens vom Gesetz gedeckt
werden können. Wir brauchen elastische Gesetze, wie sie das französische Recht
vielfach auszeichnen. Wenn es die Franzosen z. B. verstanden haben, aus einem
einzigen Paragraphen ihres Code den ganzen Schutz gegen den unlauteren Wett¬
bewerb zu entwickeln, während wir hierzu ein Gesetz mit einem Dutzend Para¬
graphen gebraucht haben, das auch nicht einmal für alle Fälle ausreicht, so
gebührt für jenen Erfolg der Franzosen die Anerkennung ebensosehr der
Elastizität ihrer Rechtsbestimmungen wie der geistigen Freiheit ihrer Richter,
die es eben wagen, sich von dem Buchstaben und Wortlaut eines Paragraphen
getrost zu entfernen.

Mit solchen: Geiste die bereits in Amt und Würden befindlichen Juristen¬
generationen zu durchdringen, wird nur teilweise gelingen. Aussichtsreicher ist
die Arbeit bei den erst heranzubildenden Juristen, und darum will die Frei¬
rechtsbewegung in dritter Linie Einfluß auf die Faktoren gewinnen, welche über
die Ausbildung der juristischen Jugend zu bestimmen haben.

Es ist in den juristischen Fakultäten unserer Universitäten in den letzten
Jahren gewiß manches besser geworden. Die Studenten werden in Seminaren
zur Bearbeitung praktischer Fälle angehalten, was es zur Zeit unseres Studiums
noch nicht gab; aber die praktischen Fälle werden doch teilweise von Lehrern
gestellt, die nie in der Praxis gewesen sind. Da hat z. B. an einer der
besuchtesten preußischen Universitäten im vorigen Semester ein Professor des
bürgerlichen Rechts seinen Studenten folgenden Fall gegeben:

Ein reicher Amerikaner läßt vor den Fenstern der Zimmer, welche er in
einem deutschen Hotel bewohnt, fünfzig Rosenbäume pflanzen. Als er das Hotel
nach einiger Zeit verläßt, will er die Rosenbäume herausreißen und mitnehmen.
Der Wirt widerspricht dem. Wer ist im Recht?

Ja, wo in aller Welt kommt es denn vor, daß ein Hotelgast Rofenbäume
vor sein Hotelzimmer pflanzen läßt? Ist unser Rechtsleben wirklich so arm an
brauchbaren Fällen, daß man sür die Studenten auf die satio und inplanwtio
des ec>rpu8 iuri8 civilis zurückgreifen muß? Wer auf solche Beispiele verfällt,
dem fließen eben die unversieglichen Quellen der juristischen Praxis nicht. Sowie
es unmöglich ist, daß ein noch so befähigter Mediziner nach bestandenen Staats¬
examen einen Lehrstuhl für Chirurgie erhält, so muß es unmöglich werden, böß


Die Freirechtsbewegung

des ersten Prozesses auf die veränderte Klage mit seiner Verteidigung genügend
einrichten. Ein modern denkender Richter wird deshalb, wo er irgend kann,
verneinen, daß durch die Änderung der Klage die Verteidigung des Beklagten
wesentlich erschwert werde, und eine künftige Prozeßordnung wird hoffentlich
den Einwand der unzulässigen Klageänderung ganz beseitigen.

Wir sind damit zu einer zweiten Forderung der Freirechtsbewegung gekommen,
daß die Gesetzgebung künftig nicht durch Schaffung vou Formalien das Rechts¬
leben unnötig erschwere, daß sie auch in materiellen Rechten nicht zu enge und
begriffsmäßige Regeln aufstelle, weil unser Leben doch so bunt und vielseitig
geworden ist, daß weniger denn je alle Fälle des Lebens vom Gesetz gedeckt
werden können. Wir brauchen elastische Gesetze, wie sie das französische Recht
vielfach auszeichnen. Wenn es die Franzosen z. B. verstanden haben, aus einem
einzigen Paragraphen ihres Code den ganzen Schutz gegen den unlauteren Wett¬
bewerb zu entwickeln, während wir hierzu ein Gesetz mit einem Dutzend Para¬
graphen gebraucht haben, das auch nicht einmal für alle Fälle ausreicht, so
gebührt für jenen Erfolg der Franzosen die Anerkennung ebensosehr der
Elastizität ihrer Rechtsbestimmungen wie der geistigen Freiheit ihrer Richter,
die es eben wagen, sich von dem Buchstaben und Wortlaut eines Paragraphen
getrost zu entfernen.

Mit solchen: Geiste die bereits in Amt und Würden befindlichen Juristen¬
generationen zu durchdringen, wird nur teilweise gelingen. Aussichtsreicher ist
die Arbeit bei den erst heranzubildenden Juristen, und darum will die Frei¬
rechtsbewegung in dritter Linie Einfluß auf die Faktoren gewinnen, welche über
die Ausbildung der juristischen Jugend zu bestimmen haben.

Es ist in den juristischen Fakultäten unserer Universitäten in den letzten
Jahren gewiß manches besser geworden. Die Studenten werden in Seminaren
zur Bearbeitung praktischer Fälle angehalten, was es zur Zeit unseres Studiums
noch nicht gab; aber die praktischen Fälle werden doch teilweise von Lehrern
gestellt, die nie in der Praxis gewesen sind. Da hat z. B. an einer der
besuchtesten preußischen Universitäten im vorigen Semester ein Professor des
bürgerlichen Rechts seinen Studenten folgenden Fall gegeben:

Ein reicher Amerikaner läßt vor den Fenstern der Zimmer, welche er in
einem deutschen Hotel bewohnt, fünfzig Rosenbäume pflanzen. Als er das Hotel
nach einiger Zeit verläßt, will er die Rosenbäume herausreißen und mitnehmen.
Der Wirt widerspricht dem. Wer ist im Recht?

Ja, wo in aller Welt kommt es denn vor, daß ein Hotelgast Rofenbäume
vor sein Hotelzimmer pflanzen läßt? Ist unser Rechtsleben wirklich so arm an
brauchbaren Fällen, daß man sür die Studenten auf die satio und inplanwtio
des ec>rpu8 iuri8 civilis zurückgreifen muß? Wer auf solche Beispiele verfällt,
dem fließen eben die unversieglichen Quellen der juristischen Praxis nicht. Sowie
es unmöglich ist, daß ein noch so befähigter Mediziner nach bestandenen Staats¬
examen einen Lehrstuhl für Chirurgie erhält, so muß es unmöglich werden, böß


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[0353] Die Freirechtsbewegung des ersten Prozesses auf die veränderte Klage mit seiner Verteidigung genügend einrichten. Ein modern denkender Richter wird deshalb, wo er irgend kann, verneinen, daß durch die Änderung der Klage die Verteidigung des Beklagten wesentlich erschwert werde, und eine künftige Prozeßordnung wird hoffentlich den Einwand der unzulässigen Klageänderung ganz beseitigen. Wir sind damit zu einer zweiten Forderung der Freirechtsbewegung gekommen, daß die Gesetzgebung künftig nicht durch Schaffung vou Formalien das Rechts¬ leben unnötig erschwere, daß sie auch in materiellen Rechten nicht zu enge und begriffsmäßige Regeln aufstelle, weil unser Leben doch so bunt und vielseitig geworden ist, daß weniger denn je alle Fälle des Lebens vom Gesetz gedeckt werden können. Wir brauchen elastische Gesetze, wie sie das französische Recht vielfach auszeichnen. Wenn es die Franzosen z. B. verstanden haben, aus einem einzigen Paragraphen ihres Code den ganzen Schutz gegen den unlauteren Wett¬ bewerb zu entwickeln, während wir hierzu ein Gesetz mit einem Dutzend Para¬ graphen gebraucht haben, das auch nicht einmal für alle Fälle ausreicht, so gebührt für jenen Erfolg der Franzosen die Anerkennung ebensosehr der Elastizität ihrer Rechtsbestimmungen wie der geistigen Freiheit ihrer Richter, die es eben wagen, sich von dem Buchstaben und Wortlaut eines Paragraphen getrost zu entfernen. Mit solchen: Geiste die bereits in Amt und Würden befindlichen Juristen¬ generationen zu durchdringen, wird nur teilweise gelingen. Aussichtsreicher ist die Arbeit bei den erst heranzubildenden Juristen, und darum will die Frei¬ rechtsbewegung in dritter Linie Einfluß auf die Faktoren gewinnen, welche über die Ausbildung der juristischen Jugend zu bestimmen haben. Es ist in den juristischen Fakultäten unserer Universitäten in den letzten Jahren gewiß manches besser geworden. Die Studenten werden in Seminaren zur Bearbeitung praktischer Fälle angehalten, was es zur Zeit unseres Studiums noch nicht gab; aber die praktischen Fälle werden doch teilweise von Lehrern gestellt, die nie in der Praxis gewesen sind. Da hat z. B. an einer der besuchtesten preußischen Universitäten im vorigen Semester ein Professor des bürgerlichen Rechts seinen Studenten folgenden Fall gegeben: Ein reicher Amerikaner läßt vor den Fenstern der Zimmer, welche er in einem deutschen Hotel bewohnt, fünfzig Rosenbäume pflanzen. Als er das Hotel nach einiger Zeit verläßt, will er die Rosenbäume herausreißen und mitnehmen. Der Wirt widerspricht dem. Wer ist im Recht? Ja, wo in aller Welt kommt es denn vor, daß ein Hotelgast Rofenbäume vor sein Hotelzimmer pflanzen läßt? Ist unser Rechtsleben wirklich so arm an brauchbaren Fällen, daß man sür die Studenten auf die satio und inplanwtio des ec>rpu8 iuri8 civilis zurückgreifen muß? Wer auf solche Beispiele verfällt, dem fließen eben die unversieglichen Quellen der juristischen Praxis nicht. Sowie es unmöglich ist, daß ein noch so befähigter Mediziner nach bestandenen Staats¬ examen einen Lehrstuhl für Chirurgie erhält, so muß es unmöglich werden, böß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/353>, abgerufen am 22.07.2024.