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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

Bucht hinübersieht, stellt sich die Stadt im Hintergrund ihrer kleinen Bucht und
umgeben von den Strandvororten äußerst malerisch dar. Hinter dem Hasen
und der schmälen Strandterrasse baut sich der altertümliche Kern der Stadt auf
steilem Klippenrand, dem "Kunt", kühn und gewaltig auf wie eine Landschaft
von Böcklin. Geradezu märchenhaft aber ist das Bild vom hohen Meer, wenn
von geheimnisvollem Dunstschleier umflossen der Burghügel und die schlanken
Kirchtürme in der Ferne aus den Wellen auftauchen.

Auf diesem Hügel stand einst die chemische Burg Lindonissa, die 1219 von
den Dänen zerstört wurde. Der Bischof Albert von Riga hatte, von Süden
vordringend, bereits die Hälfte des Landes der Ehlen unterworfen, als diese die
Russen zuHilfe riefen. Der Bischof anderseits bewog den König von Dänemark
Waldemar den Zweiten zu einem Kreuzzug gegen die Ehlen, in dem dieser die
nördliche Hälfte des Estenlandes unter die dänische Herrschaft brachte. Dieser
dänische Besitz ging erst 1347 und zwar durch Kauf in die Hände des Deutsch¬
ordens über. Auf der Stelle des eroberten Lindonissa bauten die Dänen die
Burg Reval, und an deren Abhang landeinwärts entstand sehr rasch eine Stadt,
die bald Bischofssitz wurde und schon 1245 von dem Dänenkönig Stadtrecht,
das Lübische Recht, verliehen bekam. Die Bevölkerung der Stadt ergänzte sich
in zunehmenden: Maß aus Deutschen wie auch die ritterschaftlichen Vasallen in
den umliegenden Landschaften. Trotzdem mußte erst ein verheerender Aufstand
der Ehlen vorausgehen, ehe Stadt und Ritterschaft sich entschlossen, aus der
"milden", das heißt schwachen Herrschaft des entfernten Dänenfürsten in die des
Ordens überzugehen, nachdem dieser die Ehlen aufs Haupt geschlagen hatte.

Die bauliche Verbindung der Handelsstadt am Fuß des Burgbergs, der
hier wie in Dorpat Doni heißt, mit der Oberstadt auf dem Hügel hat den alten
Baumeistern eine Fülle von Aufgaben gestellt, die sie vielfach in höchst malerischer
Weise gelöst haben.

Die gotische Zeit baute neben mehreren kleinen zwei großartige Kirchen.
Die eine davon, die Olaikirche, besitzt den höchsten Turm Rußlands, dessen
schlanke Pyramide unter Kaiser Nikolaus dem Ersten vom Blitz zerstört, aber
unter Beihilfe des Kaisers wieder in der alten Gestalt ausgeführt wurde, während
die Turmspitzen fast aller baltischen Kirchen im Laufe der Zeit in anderen
Stilarten ersetzt wurden. Einen solchen Aufbau aus der Barockzeit, schön mit
Kupfer verkleidet, trägt der alte Turm des Doms, und in noch gefälligeren
Formen zeigen ihn die beiden ininaretschlanken, achteckigen Türme, die im
siebzehnten Jahrhundert an das gotische Rathaus und an die gotische Rats¬
kapelle angelehnt wurden.

Auf dem uralten Herrschersitz steht jetzt noch das ehemalige bischöfliche Schloß
mit einem kühnen Turm, dem "Langen Hermann". Eine breite, stille Straße, besetzt
mit den Häusern des estländischeu deutschen Adels, führt nach dem kleinen Dom, der
im Schatten seiner Linden beinahe verschwindet. Er birgt eine Fülle von Grab¬
mälern, welche die Geschichte der Stadt erzählen: an den Wänden ritterschaft-


Line Sommerreise durch das Baltenland

Bucht hinübersieht, stellt sich die Stadt im Hintergrund ihrer kleinen Bucht und
umgeben von den Strandvororten äußerst malerisch dar. Hinter dem Hasen
und der schmälen Strandterrasse baut sich der altertümliche Kern der Stadt auf
steilem Klippenrand, dem „Kunt", kühn und gewaltig auf wie eine Landschaft
von Böcklin. Geradezu märchenhaft aber ist das Bild vom hohen Meer, wenn
von geheimnisvollem Dunstschleier umflossen der Burghügel und die schlanken
Kirchtürme in der Ferne aus den Wellen auftauchen.

Auf diesem Hügel stand einst die chemische Burg Lindonissa, die 1219 von
den Dänen zerstört wurde. Der Bischof Albert von Riga hatte, von Süden
vordringend, bereits die Hälfte des Landes der Ehlen unterworfen, als diese die
Russen zuHilfe riefen. Der Bischof anderseits bewog den König von Dänemark
Waldemar den Zweiten zu einem Kreuzzug gegen die Ehlen, in dem dieser die
nördliche Hälfte des Estenlandes unter die dänische Herrschaft brachte. Dieser
dänische Besitz ging erst 1347 und zwar durch Kauf in die Hände des Deutsch¬
ordens über. Auf der Stelle des eroberten Lindonissa bauten die Dänen die
Burg Reval, und an deren Abhang landeinwärts entstand sehr rasch eine Stadt,
die bald Bischofssitz wurde und schon 1245 von dem Dänenkönig Stadtrecht,
das Lübische Recht, verliehen bekam. Die Bevölkerung der Stadt ergänzte sich
in zunehmenden: Maß aus Deutschen wie auch die ritterschaftlichen Vasallen in
den umliegenden Landschaften. Trotzdem mußte erst ein verheerender Aufstand
der Ehlen vorausgehen, ehe Stadt und Ritterschaft sich entschlossen, aus der
„milden", das heißt schwachen Herrschaft des entfernten Dänenfürsten in die des
Ordens überzugehen, nachdem dieser die Ehlen aufs Haupt geschlagen hatte.

Die bauliche Verbindung der Handelsstadt am Fuß des Burgbergs, der
hier wie in Dorpat Doni heißt, mit der Oberstadt auf dem Hügel hat den alten
Baumeistern eine Fülle von Aufgaben gestellt, die sie vielfach in höchst malerischer
Weise gelöst haben.

Die gotische Zeit baute neben mehreren kleinen zwei großartige Kirchen.
Die eine davon, die Olaikirche, besitzt den höchsten Turm Rußlands, dessen
schlanke Pyramide unter Kaiser Nikolaus dem Ersten vom Blitz zerstört, aber
unter Beihilfe des Kaisers wieder in der alten Gestalt ausgeführt wurde, während
die Turmspitzen fast aller baltischen Kirchen im Laufe der Zeit in anderen
Stilarten ersetzt wurden. Einen solchen Aufbau aus der Barockzeit, schön mit
Kupfer verkleidet, trägt der alte Turm des Doms, und in noch gefälligeren
Formen zeigen ihn die beiden ininaretschlanken, achteckigen Türme, die im
siebzehnten Jahrhundert an das gotische Rathaus und an die gotische Rats¬
kapelle angelehnt wurden.

Auf dem uralten Herrschersitz steht jetzt noch das ehemalige bischöfliche Schloß
mit einem kühnen Turm, dem „Langen Hermann". Eine breite, stille Straße, besetzt
mit den Häusern des estländischeu deutschen Adels, führt nach dem kleinen Dom, der
im Schatten seiner Linden beinahe verschwindet. Er birgt eine Fülle von Grab¬
mälern, welche die Geschichte der Stadt erzählen: an den Wänden ritterschaft-


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[0335] Line Sommerreise durch das Baltenland Bucht hinübersieht, stellt sich die Stadt im Hintergrund ihrer kleinen Bucht und umgeben von den Strandvororten äußerst malerisch dar. Hinter dem Hasen und der schmälen Strandterrasse baut sich der altertümliche Kern der Stadt auf steilem Klippenrand, dem „Kunt", kühn und gewaltig auf wie eine Landschaft von Böcklin. Geradezu märchenhaft aber ist das Bild vom hohen Meer, wenn von geheimnisvollem Dunstschleier umflossen der Burghügel und die schlanken Kirchtürme in der Ferne aus den Wellen auftauchen. Auf diesem Hügel stand einst die chemische Burg Lindonissa, die 1219 von den Dänen zerstört wurde. Der Bischof Albert von Riga hatte, von Süden vordringend, bereits die Hälfte des Landes der Ehlen unterworfen, als diese die Russen zuHilfe riefen. Der Bischof anderseits bewog den König von Dänemark Waldemar den Zweiten zu einem Kreuzzug gegen die Ehlen, in dem dieser die nördliche Hälfte des Estenlandes unter die dänische Herrschaft brachte. Dieser dänische Besitz ging erst 1347 und zwar durch Kauf in die Hände des Deutsch¬ ordens über. Auf der Stelle des eroberten Lindonissa bauten die Dänen die Burg Reval, und an deren Abhang landeinwärts entstand sehr rasch eine Stadt, die bald Bischofssitz wurde und schon 1245 von dem Dänenkönig Stadtrecht, das Lübische Recht, verliehen bekam. Die Bevölkerung der Stadt ergänzte sich in zunehmenden: Maß aus Deutschen wie auch die ritterschaftlichen Vasallen in den umliegenden Landschaften. Trotzdem mußte erst ein verheerender Aufstand der Ehlen vorausgehen, ehe Stadt und Ritterschaft sich entschlossen, aus der „milden", das heißt schwachen Herrschaft des entfernten Dänenfürsten in die des Ordens überzugehen, nachdem dieser die Ehlen aufs Haupt geschlagen hatte. Die bauliche Verbindung der Handelsstadt am Fuß des Burgbergs, der hier wie in Dorpat Doni heißt, mit der Oberstadt auf dem Hügel hat den alten Baumeistern eine Fülle von Aufgaben gestellt, die sie vielfach in höchst malerischer Weise gelöst haben. Die gotische Zeit baute neben mehreren kleinen zwei großartige Kirchen. Die eine davon, die Olaikirche, besitzt den höchsten Turm Rußlands, dessen schlanke Pyramide unter Kaiser Nikolaus dem Ersten vom Blitz zerstört, aber unter Beihilfe des Kaisers wieder in der alten Gestalt ausgeführt wurde, während die Turmspitzen fast aller baltischen Kirchen im Laufe der Zeit in anderen Stilarten ersetzt wurden. Einen solchen Aufbau aus der Barockzeit, schön mit Kupfer verkleidet, trägt der alte Turm des Doms, und in noch gefälligeren Formen zeigen ihn die beiden ininaretschlanken, achteckigen Türme, die im siebzehnten Jahrhundert an das gotische Rathaus und an die gotische Rats¬ kapelle angelehnt wurden. Auf dem uralten Herrschersitz steht jetzt noch das ehemalige bischöfliche Schloß mit einem kühnen Turm, dem „Langen Hermann". Eine breite, stille Straße, besetzt mit den Häusern des estländischeu deutschen Adels, führt nach dem kleinen Dom, der im Schatten seiner Linden beinahe verschwindet. Er birgt eine Fülle von Grab¬ mälern, welche die Geschichte der Stadt erzählen: an den Wänden ritterschaft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/335>, abgerufen am 03.07.2024.