Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Soimnerreise durch das Baltsnland

feuer in Brand geriet. Die traurigen Zeitverhältnisse erlaubten damals eine
Wiederherstellung des Daches nicht, und der fünfstöckige Einbau in den Chor
zur Aufstellung der reichen Universitätsbibliothek, der im letzten Jahrhundert
vorgenommen worden ist, beinträchtigt natürlich den romantischen Reiz der Ruine.
Die nahegelegene Bischofsburg und die Befestigungen sind bis auf den letzten
Rest verschwunden, aber geblieben ist der hübsche Ausblick auf die weite Ebene,
die einst von hier beherrscht wurde, geblieben ist der unvergängliche Ruhm der
Universität und, trotz der Russifizierung, deren Bedeutung als geistiger Mittel¬
punkt des Deutschtums in den Ostseeprovinzen.

Das deutsche Studentenleben in Dorpat -- die Ballen sagen übrigens
Dörpt -- hat manches, was es von dem auf unseren Hochschulen unterscheidet.
Seit alter Zeit gibt es drei deutsche Verbindungen, die der Kurländer, Liv-
länder und Estländer, zu denen später noch die l^ratsrnitas KiMrisi8 und die
I^eobaltm kam. Die vier erstgenannten entsprechen mehr den mittelalterlichen
Landsmannschaften oder "Zungen" in Padua, Bologna oder Prag oder den
heutigen Verbindungen in Upsala als irgendeiner Form unserer Korporationen;
daß sie ihre Häuser "Quartiere" nennen, paßt ganz zu den mittelalterlichen
Erinnerungen. Ihren Grundsätzen nach sind die Dorpater Korporationen am
ehesten zu vergleichen mit der alten deutschen Burschenschaft, die keine Bestimmungs¬
mensur kannte und mehr auf die Vertretung ihrer Ideale als auf die Form
der Satisfaktion und des Fechtens hielt. Die Verbindungen der Kurländer,
Livländer und Estländer sind tatsächlich heute noch der Mittelpunkt der studierenden
Jugend der Provinzen, nach denen sie sich nennen. Diese drei Provinzen führten
noch vor kurzem wenigstens in geistiger Beziehung fast ein Sonderleben, genau
wie die einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reichs, ein Sonderleben, das
hier wie dort begründet und zum Teil entschuldigt ist durch ihre verschiedene
Entstehung und politische Geschichte. Den Mikrokosmus der baltischen Welt
stellt oder stellte nun das Verbindungswesen in Dorpat vor: neben dem Gefühl
und der Betätigung der Zusammengehörigkeit doch auch soviel kleinliche Eifer¬
sucht und Reibungen, wie sie etwa Baden, Württemberg und Bayern heute noch
fertig bringen. Die Folge des alle treffenden Druckes der Russifizierung weckte
die Einsicht in das Überlebte derartiger Stammes-Reservatnörgeleien und ver¬
erbter Verbindungshäckeleien. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und
der Wille zur Einheit kam schön zum Ausdruck bei dem hundertjährigen Stiftungsfest
der Kurländer im Jahre 1908, das unter großem Zustrom aus allen drei
Provinzen mit unglaublicher Begeisterung gefeiert wurde. Dieses studentische
Fest war das erste große Fest der baltischen Deutschen seit der Revolution.

Eine weitere Nachtfahrt brachte mich in der Frühe des 11. August nach
Reval. Diese Stadt macht mit seinem ungebrochenen Mauerring, mit seinen
zwanzig trutzigen Wehrtürmen und den großen Kirchen von der Landseite her
einen äußerst stattlichen Eindruck. Schöner noch ist der Anblick von der See¬
seite. Wenn man von dem Steilrand des gegenüberliegenden Ufers der Revaler


Line Soimnerreise durch das Baltsnland

feuer in Brand geriet. Die traurigen Zeitverhältnisse erlaubten damals eine
Wiederherstellung des Daches nicht, und der fünfstöckige Einbau in den Chor
zur Aufstellung der reichen Universitätsbibliothek, der im letzten Jahrhundert
vorgenommen worden ist, beinträchtigt natürlich den romantischen Reiz der Ruine.
Die nahegelegene Bischofsburg und die Befestigungen sind bis auf den letzten
Rest verschwunden, aber geblieben ist der hübsche Ausblick auf die weite Ebene,
die einst von hier beherrscht wurde, geblieben ist der unvergängliche Ruhm der
Universität und, trotz der Russifizierung, deren Bedeutung als geistiger Mittel¬
punkt des Deutschtums in den Ostseeprovinzen.

Das deutsche Studentenleben in Dorpat — die Ballen sagen übrigens
Dörpt — hat manches, was es von dem auf unseren Hochschulen unterscheidet.
Seit alter Zeit gibt es drei deutsche Verbindungen, die der Kurländer, Liv-
länder und Estländer, zu denen später noch die l^ratsrnitas KiMrisi8 und die
I^eobaltm kam. Die vier erstgenannten entsprechen mehr den mittelalterlichen
Landsmannschaften oder „Zungen" in Padua, Bologna oder Prag oder den
heutigen Verbindungen in Upsala als irgendeiner Form unserer Korporationen;
daß sie ihre Häuser „Quartiere" nennen, paßt ganz zu den mittelalterlichen
Erinnerungen. Ihren Grundsätzen nach sind die Dorpater Korporationen am
ehesten zu vergleichen mit der alten deutschen Burschenschaft, die keine Bestimmungs¬
mensur kannte und mehr auf die Vertretung ihrer Ideale als auf die Form
der Satisfaktion und des Fechtens hielt. Die Verbindungen der Kurländer,
Livländer und Estländer sind tatsächlich heute noch der Mittelpunkt der studierenden
Jugend der Provinzen, nach denen sie sich nennen. Diese drei Provinzen führten
noch vor kurzem wenigstens in geistiger Beziehung fast ein Sonderleben, genau
wie die einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reichs, ein Sonderleben, das
hier wie dort begründet und zum Teil entschuldigt ist durch ihre verschiedene
Entstehung und politische Geschichte. Den Mikrokosmus der baltischen Welt
stellt oder stellte nun das Verbindungswesen in Dorpat vor: neben dem Gefühl
und der Betätigung der Zusammengehörigkeit doch auch soviel kleinliche Eifer¬
sucht und Reibungen, wie sie etwa Baden, Württemberg und Bayern heute noch
fertig bringen. Die Folge des alle treffenden Druckes der Russifizierung weckte
die Einsicht in das Überlebte derartiger Stammes-Reservatnörgeleien und ver¬
erbter Verbindungshäckeleien. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und
der Wille zur Einheit kam schön zum Ausdruck bei dem hundertjährigen Stiftungsfest
der Kurländer im Jahre 1908, das unter großem Zustrom aus allen drei
Provinzen mit unglaublicher Begeisterung gefeiert wurde. Dieses studentische
Fest war das erste große Fest der baltischen Deutschen seit der Revolution.

Eine weitere Nachtfahrt brachte mich in der Frühe des 11. August nach
Reval. Diese Stadt macht mit seinem ungebrochenen Mauerring, mit seinen
zwanzig trutzigen Wehrtürmen und den großen Kirchen von der Landseite her
einen äußerst stattlichen Eindruck. Schöner noch ist der Anblick von der See¬
seite. Wenn man von dem Steilrand des gegenüberliegenden Ufers der Revaler


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318617"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Soimnerreise durch das Baltsnland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1530" prev="#ID_1529"> feuer in Brand geriet. Die traurigen Zeitverhältnisse erlaubten damals eine<lb/>
Wiederherstellung des Daches nicht, und der fünfstöckige Einbau in den Chor<lb/>
zur Aufstellung der reichen Universitätsbibliothek, der im letzten Jahrhundert<lb/>
vorgenommen worden ist, beinträchtigt natürlich den romantischen Reiz der Ruine.<lb/>
Die nahegelegene Bischofsburg und die Befestigungen sind bis auf den letzten<lb/>
Rest verschwunden, aber geblieben ist der hübsche Ausblick auf die weite Ebene,<lb/>
die einst von hier beherrscht wurde, geblieben ist der unvergängliche Ruhm der<lb/>
Universität und, trotz der Russifizierung, deren Bedeutung als geistiger Mittel¬<lb/>
punkt des Deutschtums in den Ostseeprovinzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1531"> Das deutsche Studentenleben in Dorpat &#x2014; die Ballen sagen übrigens<lb/>
Dörpt &#x2014; hat manches, was es von dem auf unseren Hochschulen unterscheidet.<lb/>
Seit alter Zeit gibt es drei deutsche Verbindungen, die der Kurländer, Liv-<lb/>
länder und Estländer, zu denen später noch die l^ratsrnitas KiMrisi8 und die<lb/>
I^eobaltm kam. Die vier erstgenannten entsprechen mehr den mittelalterlichen<lb/>
Landsmannschaften oder &#x201E;Zungen" in Padua, Bologna oder Prag oder den<lb/>
heutigen Verbindungen in Upsala als irgendeiner Form unserer Korporationen;<lb/>
daß sie ihre Häuser &#x201E;Quartiere" nennen, paßt ganz zu den mittelalterlichen<lb/>
Erinnerungen. Ihren Grundsätzen nach sind die Dorpater Korporationen am<lb/>
ehesten zu vergleichen mit der alten deutschen Burschenschaft, die keine Bestimmungs¬<lb/>
mensur kannte und mehr auf die Vertretung ihrer Ideale als auf die Form<lb/>
der Satisfaktion und des Fechtens hielt. Die Verbindungen der Kurländer,<lb/>
Livländer und Estländer sind tatsächlich heute noch der Mittelpunkt der studierenden<lb/>
Jugend der Provinzen, nach denen sie sich nennen. Diese drei Provinzen führten<lb/>
noch vor kurzem wenigstens in geistiger Beziehung fast ein Sonderleben, genau<lb/>
wie die einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reichs, ein Sonderleben, das<lb/>
hier wie dort begründet und zum Teil entschuldigt ist durch ihre verschiedene<lb/>
Entstehung und politische Geschichte. Den Mikrokosmus der baltischen Welt<lb/>
stellt oder stellte nun das Verbindungswesen in Dorpat vor: neben dem Gefühl<lb/>
und der Betätigung der Zusammengehörigkeit doch auch soviel kleinliche Eifer¬<lb/>
sucht und Reibungen, wie sie etwa Baden, Württemberg und Bayern heute noch<lb/>
fertig bringen. Die Folge des alle treffenden Druckes der Russifizierung weckte<lb/>
die Einsicht in das Überlebte derartiger Stammes-Reservatnörgeleien und ver¬<lb/>
erbter Verbindungshäckeleien. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und<lb/>
der Wille zur Einheit kam schön zum Ausdruck bei dem hundertjährigen Stiftungsfest<lb/>
der Kurländer im Jahre 1908, das unter großem Zustrom aus allen drei<lb/>
Provinzen mit unglaublicher Begeisterung gefeiert wurde. Dieses studentische<lb/>
Fest war das erste große Fest der baltischen Deutschen seit der Revolution.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1532" next="#ID_1533"> Eine weitere Nachtfahrt brachte mich in der Frühe des 11. August nach<lb/>
Reval. Diese Stadt macht mit seinem ungebrochenen Mauerring, mit seinen<lb/>
zwanzig trutzigen Wehrtürmen und den großen Kirchen von der Landseite her<lb/>
einen äußerst stattlichen Eindruck. Schöner noch ist der Anblick von der See¬<lb/>
seite.  Wenn man von dem Steilrand des gegenüberliegenden Ufers der Revaler</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0334] Line Soimnerreise durch das Baltsnland feuer in Brand geriet. Die traurigen Zeitverhältnisse erlaubten damals eine Wiederherstellung des Daches nicht, und der fünfstöckige Einbau in den Chor zur Aufstellung der reichen Universitätsbibliothek, der im letzten Jahrhundert vorgenommen worden ist, beinträchtigt natürlich den romantischen Reiz der Ruine. Die nahegelegene Bischofsburg und die Befestigungen sind bis auf den letzten Rest verschwunden, aber geblieben ist der hübsche Ausblick auf die weite Ebene, die einst von hier beherrscht wurde, geblieben ist der unvergängliche Ruhm der Universität und, trotz der Russifizierung, deren Bedeutung als geistiger Mittel¬ punkt des Deutschtums in den Ostseeprovinzen. Das deutsche Studentenleben in Dorpat — die Ballen sagen übrigens Dörpt — hat manches, was es von dem auf unseren Hochschulen unterscheidet. Seit alter Zeit gibt es drei deutsche Verbindungen, die der Kurländer, Liv- länder und Estländer, zu denen später noch die l^ratsrnitas KiMrisi8 und die I^eobaltm kam. Die vier erstgenannten entsprechen mehr den mittelalterlichen Landsmannschaften oder „Zungen" in Padua, Bologna oder Prag oder den heutigen Verbindungen in Upsala als irgendeiner Form unserer Korporationen; daß sie ihre Häuser „Quartiere" nennen, paßt ganz zu den mittelalterlichen Erinnerungen. Ihren Grundsätzen nach sind die Dorpater Korporationen am ehesten zu vergleichen mit der alten deutschen Burschenschaft, die keine Bestimmungs¬ mensur kannte und mehr auf die Vertretung ihrer Ideale als auf die Form der Satisfaktion und des Fechtens hielt. Die Verbindungen der Kurländer, Livländer und Estländer sind tatsächlich heute noch der Mittelpunkt der studierenden Jugend der Provinzen, nach denen sie sich nennen. Diese drei Provinzen führten noch vor kurzem wenigstens in geistiger Beziehung fast ein Sonderleben, genau wie die einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reichs, ein Sonderleben, das hier wie dort begründet und zum Teil entschuldigt ist durch ihre verschiedene Entstehung und politische Geschichte. Den Mikrokosmus der baltischen Welt stellt oder stellte nun das Verbindungswesen in Dorpat vor: neben dem Gefühl und der Betätigung der Zusammengehörigkeit doch auch soviel kleinliche Eifer¬ sucht und Reibungen, wie sie etwa Baden, Württemberg und Bayern heute noch fertig bringen. Die Folge des alle treffenden Druckes der Russifizierung weckte die Einsicht in das Überlebte derartiger Stammes-Reservatnörgeleien und ver¬ erbter Verbindungshäckeleien. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Wille zur Einheit kam schön zum Ausdruck bei dem hundertjährigen Stiftungsfest der Kurländer im Jahre 1908, das unter großem Zustrom aus allen drei Provinzen mit unglaublicher Begeisterung gefeiert wurde. Dieses studentische Fest war das erste große Fest der baltischen Deutschen seit der Revolution. Eine weitere Nachtfahrt brachte mich in der Frühe des 11. August nach Reval. Diese Stadt macht mit seinem ungebrochenen Mauerring, mit seinen zwanzig trutzigen Wehrtürmen und den großen Kirchen von der Landseite her einen äußerst stattlichen Eindruck. Schöner noch ist der Anblick von der See¬ seite. Wenn man von dem Steilrand des gegenüberliegenden Ufers der Revaler

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/334
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/334>, abgerufen am 22.07.2024.