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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltcnland

liebe Wappen aus alter und neuerer Zeit, im Chor an bevorzugter Stelle die
liegenden Steinfiguren schwedischer Kommandanten und ihrer Gemahlinnen; das
Schiff der Kirche birgt ein Werk Canovas, das Ehrenmal eines aus Schottland
gebürtigen Admirals, das die dankbare Kaiserin Katharina die Zweite errichten
ließ. Darüber hängen vergilbte Trophäen von der Seeschlacht bei Tschahme (1770);
serner liegt hier Krusenstern, dessen Weltumsegelung sein Gefährte Chamisso
beschrieben hat. Auch ein unstäter Kriegsmann aus Böhmen hat hier seine
letzte Ruhe gefunden: Mathias Thurn, "die Fackel und das Heerhorn" des
Dreißigjährigen Krieges. In der Nähe der Domkirche steht das große Ritter¬
schaftshaus und die Domschule. Sie ist eine der ältesten gelehrten Schulen
diesseits der Alpen und seit 1906 wieder als deutsches Gymnasium eröffnet,
nachdem sie im Jahre 1892 ihre Tore geschlossen hatte, weil sie mit der russischen
Unterrichtssprache den russischen Geist nicht einziehen lassen wollte.

Aus einer Abflachung des Domhügels steht in wirklich prächtiger Lage auf
einem großen freigelegten Platz die russische Kathedrale. In keiner der anderen
Städte ist es gelungen, die Signatur der neuen Zeit, den Stempel des russischen
Cäsaropapismus, dem alten Stadtbild in einer so nicht zu übersehenden Deut¬
lichkeit aufzudrücken. Die Kathedrale ist zweifellos in ihrer Art ein sehr eleganter
Bau, aber an dieser Stelle wirkt sie, vom künstlerischen Standpunkt aus, wie
eine Faust aufs Auge, denn die ganze nähere Umgebung, ja die ganze Stadt
innerhalb des Mauerrings hat ihr fein zusammengestimmtes Bild bewahrt, wie
es im Lauf einer ununterbrochenen Bauüberlieferung von Jahrhunderten organisch
entstanden ist. Die Stadt ist wiederholt, aber stets vergeblich, belagert worden.
Auch der reformatorische Bildersturm ist hier glimpflich abgelaufen, fo daß
Neval nicht bloß seine Befestigung und seine alten Gebäude, sondern auch einen
großen Teil seiner Kunstschätze bis auf den heutigen Tag bewährt hat und jedem
Besucher als ein Kleinod der Heimatkunst in Erinnerung bleiben muß.

Sehr viel Ähnlichkeit mit Neval hat nach Lage, Entstehung und Geschichte
die nördlichste der Städte des alten Ordenslandes, das schlachtenberühmte Narwa.
Auch dieser Ort hat an Türmen, Mauern und Häusern seinen deutsch-altertüm¬
lichen Charakter gut bewahrt. Es ist dies um so mehr zu verwundern, als die
ehemalige Grenzstadt schon in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts auf
Jahrzehnte unter russischer Botmäßigkeit stand und von Peter dem Großen, der
sie den Schweden im Sturm entrissen hatte, von Estland getrennt und mit dem
eigentlichen Rußland vereinigt wurde.

Wie anheimelnd Riga, Reval und selbst Narwa aussehen, fühlt man erst
recht, wenn man sie verlassen hat. Ich gestehe offen, daß ich vor meiner Reise
geneigt war, die Berichte von dem deutschen Charakter dieser Städte, die ich
gelesen hatte, für veraltet zu halten, und ich habe es recht gut verstanden, als
einmal ein Vollblutrusse in Deutschland zu mir sagte: "Reval war die erste
deutsche Stadt, die ich sah".




Line Sommerreise durch das Baltcnland

liebe Wappen aus alter und neuerer Zeit, im Chor an bevorzugter Stelle die
liegenden Steinfiguren schwedischer Kommandanten und ihrer Gemahlinnen; das
Schiff der Kirche birgt ein Werk Canovas, das Ehrenmal eines aus Schottland
gebürtigen Admirals, das die dankbare Kaiserin Katharina die Zweite errichten
ließ. Darüber hängen vergilbte Trophäen von der Seeschlacht bei Tschahme (1770);
serner liegt hier Krusenstern, dessen Weltumsegelung sein Gefährte Chamisso
beschrieben hat. Auch ein unstäter Kriegsmann aus Böhmen hat hier seine
letzte Ruhe gefunden: Mathias Thurn, „die Fackel und das Heerhorn" des
Dreißigjährigen Krieges. In der Nähe der Domkirche steht das große Ritter¬
schaftshaus und die Domschule. Sie ist eine der ältesten gelehrten Schulen
diesseits der Alpen und seit 1906 wieder als deutsches Gymnasium eröffnet,
nachdem sie im Jahre 1892 ihre Tore geschlossen hatte, weil sie mit der russischen
Unterrichtssprache den russischen Geist nicht einziehen lassen wollte.

Aus einer Abflachung des Domhügels steht in wirklich prächtiger Lage auf
einem großen freigelegten Platz die russische Kathedrale. In keiner der anderen
Städte ist es gelungen, die Signatur der neuen Zeit, den Stempel des russischen
Cäsaropapismus, dem alten Stadtbild in einer so nicht zu übersehenden Deut¬
lichkeit aufzudrücken. Die Kathedrale ist zweifellos in ihrer Art ein sehr eleganter
Bau, aber an dieser Stelle wirkt sie, vom künstlerischen Standpunkt aus, wie
eine Faust aufs Auge, denn die ganze nähere Umgebung, ja die ganze Stadt
innerhalb des Mauerrings hat ihr fein zusammengestimmtes Bild bewahrt, wie
es im Lauf einer ununterbrochenen Bauüberlieferung von Jahrhunderten organisch
entstanden ist. Die Stadt ist wiederholt, aber stets vergeblich, belagert worden.
Auch der reformatorische Bildersturm ist hier glimpflich abgelaufen, fo daß
Neval nicht bloß seine Befestigung und seine alten Gebäude, sondern auch einen
großen Teil seiner Kunstschätze bis auf den heutigen Tag bewährt hat und jedem
Besucher als ein Kleinod der Heimatkunst in Erinnerung bleiben muß.

Sehr viel Ähnlichkeit mit Neval hat nach Lage, Entstehung und Geschichte
die nördlichste der Städte des alten Ordenslandes, das schlachtenberühmte Narwa.
Auch dieser Ort hat an Türmen, Mauern und Häusern seinen deutsch-altertüm¬
lichen Charakter gut bewahrt. Es ist dies um so mehr zu verwundern, als die
ehemalige Grenzstadt schon in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts auf
Jahrzehnte unter russischer Botmäßigkeit stand und von Peter dem Großen, der
sie den Schweden im Sturm entrissen hatte, von Estland getrennt und mit dem
eigentlichen Rußland vereinigt wurde.

Wie anheimelnd Riga, Reval und selbst Narwa aussehen, fühlt man erst
recht, wenn man sie verlassen hat. Ich gestehe offen, daß ich vor meiner Reise
geneigt war, die Berichte von dem deutschen Charakter dieser Städte, die ich
gelesen hatte, für veraltet zu halten, und ich habe es recht gut verstanden, als
einmal ein Vollblutrusse in Deutschland zu mir sagte: „Reval war die erste
deutsche Stadt, die ich sah".




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/336>, abgerufen am 01.07.2024.