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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltcnland

Verbindungen ein wichtiger Eingangshafen für Rußland war und in regen
Handelsbeziehungen zu den zwei russischen Republiken Pleskau (Pskow) und
Nowgorod (Veliki-Nowgorod) stand.

Mit der Eroberung Dorpats durch den Feldherrn Iwans des Schrecklichen
im Jahre 1568 begann die Zerstückelung Altlivlands. Schon damals wurde
ein Teil der Bewohner ins Innere Rußlands abgeführt, ein anderer war vorher
mit Sack und Pack geflohen. Die Stadt blieb damals nicht lange bei Rußland.
Wenige Jahre, nachdem sie unter Peter dem Großen zurückerobert war, wurden
alle deutschen Bürger ins Innere Rußlands geschleppt. Die Stadt selbst wurde
vollständig zerstört, um sie nicht zu einem Stützpunkt des Schwedenkönigs Karl
des Zwölften werden zu lassen. So ist es kein Wunder, wenn die Stadt ihren
einstigen deutsch-mittelalterlichen Baucharakter vollständig verloren hat; eher ist
es zu verwundern, daß sich wieder eine deutsche Gemeinde gesammelt hat, die
jetzt mit ihren siebentausend Seelen ungefähr den sechsten Teil der Einwohner¬
zahl bildet.

Von der mittelalterlichen Herrlichkeit hat das "nordische Heidelberg" nichts
gerettet als seinen großartigen Dom, dessen Ruine die Stadt beherrscht wie das
Schloß in Heidelberg, dazu eine Kirche in der Stadt, die Johanniskirche mit
ihrem romanischen Turm. Nach verschiedenen Bränden ist die Stadt nnter
Katharina der Zweiten in rechtwinklig sich kreuzenden Straßenzügen wieder auf¬
gebaut worden. Eine Straße von gewaltiger Breite, die von der Embachbrücke
gegen den Dom führt, erinnert mit ihren ansehnlichen steinernen Häusern an'
die Hilfe der Kaiserin, die den Wiederaufbau dieses Teils der Stadt in Stein
befahl und auch ermöglichte. Das neue Universitätsgebäude Alexanders des
Ersten ist ein sehr stattlicher, klassizistischer, typisch langweiliger Bau mit einem
schönen Saal. Ein anderes Werk aus derselben Periode, der russische Kaufhos,
in der nächsten Nähe des Flußhafens gelegen, ein eingeschossiges Quadrat von
etwa 100 Meter Seitenlänge und rings mit Säulenstallungen umgeben, blendend
weiß getüncht, wirkt dafür als Hintergrund eines bunten Marktbildes um so
malerischer. Höchst eigentümlich nimmt sich das großartige chemische Volkshaus
mit seinem grün angestrichenen gewaltigen Dach aus. Es soll im Geschmack
einer eben sich entwickelnden finnisch-nationalen Kunst entworfen sein. Weitaus
die meisten der Dorpater Gebäude sind wie in Mitau aus Holz aufgeführt,
teilweise recht gefällig und doch dabei so solid, wie es ein Himmelsstrich erfordert,
unter dem die Flüsse über vier Monate einfrieren. Da nicht bloß der Domberg,
an den sich die Stadt anlehnt, von einer Parkanlage bedeckt ist, sondern auch
in allen neueren Straßen die Häuser in Gärten stehen, macht die ganze Stadt
einen sehr freundlichen Eindruck, der durch die Sauberkeit der Straßen noch
gehoben wird.

Den Stolz der Stadt bildet der Domberg -- gewöhnlich nur Dom genannt --
mit der großen zweitürmigen Kirche, die die Belagerung und Plünderung unter
Iwan dein Vierten überstanden hat, aber im Jahre 1598 bei einem Johannis-


Grcnzboten II 1911 41
Line Sommerreise durch das Baltcnland

Verbindungen ein wichtiger Eingangshafen für Rußland war und in regen
Handelsbeziehungen zu den zwei russischen Republiken Pleskau (Pskow) und
Nowgorod (Veliki-Nowgorod) stand.

Mit der Eroberung Dorpats durch den Feldherrn Iwans des Schrecklichen
im Jahre 1568 begann die Zerstückelung Altlivlands. Schon damals wurde
ein Teil der Bewohner ins Innere Rußlands abgeführt, ein anderer war vorher
mit Sack und Pack geflohen. Die Stadt blieb damals nicht lange bei Rußland.
Wenige Jahre, nachdem sie unter Peter dem Großen zurückerobert war, wurden
alle deutschen Bürger ins Innere Rußlands geschleppt. Die Stadt selbst wurde
vollständig zerstört, um sie nicht zu einem Stützpunkt des Schwedenkönigs Karl
des Zwölften werden zu lassen. So ist es kein Wunder, wenn die Stadt ihren
einstigen deutsch-mittelalterlichen Baucharakter vollständig verloren hat; eher ist
es zu verwundern, daß sich wieder eine deutsche Gemeinde gesammelt hat, die
jetzt mit ihren siebentausend Seelen ungefähr den sechsten Teil der Einwohner¬
zahl bildet.

Von der mittelalterlichen Herrlichkeit hat das „nordische Heidelberg" nichts
gerettet als seinen großartigen Dom, dessen Ruine die Stadt beherrscht wie das
Schloß in Heidelberg, dazu eine Kirche in der Stadt, die Johanniskirche mit
ihrem romanischen Turm. Nach verschiedenen Bränden ist die Stadt nnter
Katharina der Zweiten in rechtwinklig sich kreuzenden Straßenzügen wieder auf¬
gebaut worden. Eine Straße von gewaltiger Breite, die von der Embachbrücke
gegen den Dom führt, erinnert mit ihren ansehnlichen steinernen Häusern an'
die Hilfe der Kaiserin, die den Wiederaufbau dieses Teils der Stadt in Stein
befahl und auch ermöglichte. Das neue Universitätsgebäude Alexanders des
Ersten ist ein sehr stattlicher, klassizistischer, typisch langweiliger Bau mit einem
schönen Saal. Ein anderes Werk aus derselben Periode, der russische Kaufhos,
in der nächsten Nähe des Flußhafens gelegen, ein eingeschossiges Quadrat von
etwa 100 Meter Seitenlänge und rings mit Säulenstallungen umgeben, blendend
weiß getüncht, wirkt dafür als Hintergrund eines bunten Marktbildes um so
malerischer. Höchst eigentümlich nimmt sich das großartige chemische Volkshaus
mit seinem grün angestrichenen gewaltigen Dach aus. Es soll im Geschmack
einer eben sich entwickelnden finnisch-nationalen Kunst entworfen sein. Weitaus
die meisten der Dorpater Gebäude sind wie in Mitau aus Holz aufgeführt,
teilweise recht gefällig und doch dabei so solid, wie es ein Himmelsstrich erfordert,
unter dem die Flüsse über vier Monate einfrieren. Da nicht bloß der Domberg,
an den sich die Stadt anlehnt, von einer Parkanlage bedeckt ist, sondern auch
in allen neueren Straßen die Häuser in Gärten stehen, macht die ganze Stadt
einen sehr freundlichen Eindruck, der durch die Sauberkeit der Straßen noch
gehoben wird.

Den Stolz der Stadt bildet der Domberg — gewöhnlich nur Dom genannt —
mit der großen zweitürmigen Kirche, die die Belagerung und Plünderung unter
Iwan dein Vierten überstanden hat, aber im Jahre 1598 bei einem Johannis-


Grcnzboten II 1911 41
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/333>, abgerufen am 22.07.2024.