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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

Ferien waren, ließ ich mich doch herumführen, und ich lernte bei dieser Gelegenheit
zum erstenmal einen Schulfamulus kennen, der mit der Zucht seiner Schüler
zufrieden war. Der Mann, der mit seinem Barbarossabart selbst einen sehr
angenehmen Eindruck machte, erzählte in dem großen Saal für Handfertigkeits¬
unterricht mit sichtlichem Vergnügen, daß die jungen Leute gebeten hätten, in
den Freistunden ohne die übliche Aufsicht durch einen Lehrer üben zu dürfen,
und daß die von ihnen angebotene Selbstbeaufsichtigung sich auch bewährt habe.
Von dem Gebäude hat man eine hübsche Aussicht auf die Stadt, zwischen deren
rote Dächer vielfach Baumwipfel sich einmischen: sie sieht aus "wie eine Schüssel
Krebse mit Grünem", lautet der alte Schulwitz.

Eine Fahrt von sechs Stunden, leider bei Nacht, brachte mich ans der
gastlichen Gegend nach Dorpat. Aufs höchste gespannt betrat ich in der Geister¬
stunde die Stadt, die für mich das Hauptziel der Reise bildete. Seit der Zer¬
stückelung Altlivlands hat ja keine seiner Städte gebend und nehmend so viel
für die Wechselbeziehungen zwischen dem baltischen und dem übrigen Deutschtum
geleistet, so viel für den geistigen Zusammenhalt der drei Provinzen selbst bedeutet,
als die gemeinsame Universitätsstadt, welche einen Karl Ernst von Baer zu ihren
Lehrern zählte und die uns noch zum Schluß einen Bergmann geschenkt hat.
Die Universität ist als eine deutsche und protestantische ins Leben gerufen worden
von dem Schwedenkönig Gustav Adolf, und zwar vom Feldlager in Nürnberg
aus als Abwehr der gegenreformcitorischen Maßnahmen der Polenkönige, die
der Vorkämpfer der protestantischen Sache in dem eben eroberten Lande vor¬
gefunden hatte. Die I_>nivel-8nah Qu8taviana ging aber in den folgenden Kriegs-
läuften bald unter. Nachdem schon Peter der Große die Wiedererrichtung der
Hochschule, allerdings erst für geeignetere Zeiten, in Aussicht gestellt hatte, wurden
die Wünsche der baltischen Deutschen vom Kaiser Alexander dem Ersten im
Jahre 1802 erfüllt; es sollte damit ein Ersatz geboten werden für die kurz zuvor
von seinem Vater erlassene Verfügung, nach der russische Untertanen keine aus¬
ländischen Hochschulen mehr besuchen durften. Ihre Blütezeit erreichte die
Universität unter Alexander dem Zweiten. Sein Nachfolger drückte den Stand
der Anstalt rasch herunter, indem er einerseits durch die Bestimmung des Russischen
als Vortragssprache die deutschen Lehrer vertrieb und andererseits durch Zulassung
von Studierenden ohne Maturitätsexamen eine minderwertige Hörerschaft heranzog.

Als Stadt hat keine der drei großen baltischen Städte so schwere und
wechselvolle Schicksale erlebt wie Dorpat, das dem russischen Binnenland am
nächsten lag und kein rettendes Meer zur Seite hatte. Dorpat ist als deutsche
Stadt wenig jünger als Riga, als menschliche Niederlassung aber älter, denn
vor den Deutschen hatten dort die Ehlen und vor diesen die Russen eine Ansiedlung,
deren alter Name Jurjew jetzt statt des chemischen Dorpat wieder hervorgeholt
worden ist, um die Russifizierung der deutschen Hochschule mit dem chemischen
Namen anzuzeigen. Das alte deutsche Dorpat war der zweite Bischofssitz des
Ordenslandes und eine wichtige Hansestadt, die durch ihre bequemen Wasser-


Line Sommerreise durch das Baltenland

Ferien waren, ließ ich mich doch herumführen, und ich lernte bei dieser Gelegenheit
zum erstenmal einen Schulfamulus kennen, der mit der Zucht seiner Schüler
zufrieden war. Der Mann, der mit seinem Barbarossabart selbst einen sehr
angenehmen Eindruck machte, erzählte in dem großen Saal für Handfertigkeits¬
unterricht mit sichtlichem Vergnügen, daß die jungen Leute gebeten hätten, in
den Freistunden ohne die übliche Aufsicht durch einen Lehrer üben zu dürfen,
und daß die von ihnen angebotene Selbstbeaufsichtigung sich auch bewährt habe.
Von dem Gebäude hat man eine hübsche Aussicht auf die Stadt, zwischen deren
rote Dächer vielfach Baumwipfel sich einmischen: sie sieht aus „wie eine Schüssel
Krebse mit Grünem", lautet der alte Schulwitz.

Eine Fahrt von sechs Stunden, leider bei Nacht, brachte mich ans der
gastlichen Gegend nach Dorpat. Aufs höchste gespannt betrat ich in der Geister¬
stunde die Stadt, die für mich das Hauptziel der Reise bildete. Seit der Zer¬
stückelung Altlivlands hat ja keine seiner Städte gebend und nehmend so viel
für die Wechselbeziehungen zwischen dem baltischen und dem übrigen Deutschtum
geleistet, so viel für den geistigen Zusammenhalt der drei Provinzen selbst bedeutet,
als die gemeinsame Universitätsstadt, welche einen Karl Ernst von Baer zu ihren
Lehrern zählte und die uns noch zum Schluß einen Bergmann geschenkt hat.
Die Universität ist als eine deutsche und protestantische ins Leben gerufen worden
von dem Schwedenkönig Gustav Adolf, und zwar vom Feldlager in Nürnberg
aus als Abwehr der gegenreformcitorischen Maßnahmen der Polenkönige, die
der Vorkämpfer der protestantischen Sache in dem eben eroberten Lande vor¬
gefunden hatte. Die I_>nivel-8nah Qu8taviana ging aber in den folgenden Kriegs-
läuften bald unter. Nachdem schon Peter der Große die Wiedererrichtung der
Hochschule, allerdings erst für geeignetere Zeiten, in Aussicht gestellt hatte, wurden
die Wünsche der baltischen Deutschen vom Kaiser Alexander dem Ersten im
Jahre 1802 erfüllt; es sollte damit ein Ersatz geboten werden für die kurz zuvor
von seinem Vater erlassene Verfügung, nach der russische Untertanen keine aus¬
ländischen Hochschulen mehr besuchen durften. Ihre Blütezeit erreichte die
Universität unter Alexander dem Zweiten. Sein Nachfolger drückte den Stand
der Anstalt rasch herunter, indem er einerseits durch die Bestimmung des Russischen
als Vortragssprache die deutschen Lehrer vertrieb und andererseits durch Zulassung
von Studierenden ohne Maturitätsexamen eine minderwertige Hörerschaft heranzog.

Als Stadt hat keine der drei großen baltischen Städte so schwere und
wechselvolle Schicksale erlebt wie Dorpat, das dem russischen Binnenland am
nächsten lag und kein rettendes Meer zur Seite hatte. Dorpat ist als deutsche
Stadt wenig jünger als Riga, als menschliche Niederlassung aber älter, denn
vor den Deutschen hatten dort die Ehlen und vor diesen die Russen eine Ansiedlung,
deren alter Name Jurjew jetzt statt des chemischen Dorpat wieder hervorgeholt
worden ist, um die Russifizierung der deutschen Hochschule mit dem chemischen
Namen anzuzeigen. Das alte deutsche Dorpat war der zweite Bischofssitz des
Ordenslandes und eine wichtige Hansestadt, die durch ihre bequemen Wasser-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/332>, abgerufen am 22.07.2024.