Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Exotische Musik

Intervalle unseres Tonsystems umzuhören. Nur wenn die Abweichung eine
gewisse Grenze überschreitet, fassen wir sie als Verstimmung auf.

Weit befremdender als das Tonsystem der Siamesen mutet uns ihre Art
des gemeinsamen Musizierens an. In ihrem Orchester spielt jedes Instrument
eine Variation des Themas, und zwar seiner Beschaffenheit gemäß: die Flöte
zum Beispiel flicht vor allem Triller und kleine rasche Schinuckpassagen in die
melodische Linie ein, während die tonalen Schlaginstrumente (Xylophon und
Metallophon) ihren besonderen Charakter durch akzentuierte Läufe und zahlreiche
Tremolos zum Ausdruck bringen. Es ist also viel eher ein Nebeneinander- als
ein Zusammenmusizieren, wofür Stumpf eine sehr treffende Bezeichnung gefunden
hat: Heterophonie. Der Ausdruck stammt von Plato, dessen Schilderung es
wahrscheinlich macht, daß die alten Griechen in ähnlicher Weise musiziere haben,
wie es heute noch in Siam geschieht und auch auf Java, in China, in Japan
und anderwärts, Diese heterophonen Formen vereinigen sich zuweilen mit den
bereits erwähnten Quinten- und Quartenparallelen. Ein chinesisches Jnstrumental-
stück beginnt folgendermaßen:



Neben diesen Studien am Phonographen sucht die vergleichende Musik-
Wissenschaft festzustellen, welche Rolle die Musik im Leben der verschiedenen
exotischen Völker spielt, bei welchen Gelegenheiten musiziere wird und von wem.
ob Musikinstrumente existieren und welcher Art und Abstammung sie sind. Sehr
bedeutsam ist auch die Frage nach etwaigem musikalischen Import aus fremden
Ländern und Kulturen und dessen Einwirkung auf die nationale Musik.

Daß die Tonkunst fast nirgends einen so geringen Faktor im öffentlichen
Leben bildet wie in den Ländern mit europäischer Zivilisation, ist bekannt.
"Wollt ihr wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der Ein¬
geborenen gut oder schlecht sind? Fragt die Musik!" Dies war die Ansicht


Exotische Musik

Intervalle unseres Tonsystems umzuhören. Nur wenn die Abweichung eine
gewisse Grenze überschreitet, fassen wir sie als Verstimmung auf.

Weit befremdender als das Tonsystem der Siamesen mutet uns ihre Art
des gemeinsamen Musizierens an. In ihrem Orchester spielt jedes Instrument
eine Variation des Themas, und zwar seiner Beschaffenheit gemäß: die Flöte
zum Beispiel flicht vor allem Triller und kleine rasche Schinuckpassagen in die
melodische Linie ein, während die tonalen Schlaginstrumente (Xylophon und
Metallophon) ihren besonderen Charakter durch akzentuierte Läufe und zahlreiche
Tremolos zum Ausdruck bringen. Es ist also viel eher ein Nebeneinander- als
ein Zusammenmusizieren, wofür Stumpf eine sehr treffende Bezeichnung gefunden
hat: Heterophonie. Der Ausdruck stammt von Plato, dessen Schilderung es
wahrscheinlich macht, daß die alten Griechen in ähnlicher Weise musiziere haben,
wie es heute noch in Siam geschieht und auch auf Java, in China, in Japan
und anderwärts, Diese heterophonen Formen vereinigen sich zuweilen mit den
bereits erwähnten Quinten- und Quartenparallelen. Ein chinesisches Jnstrumental-
stück beginnt folgendermaßen:



Neben diesen Studien am Phonographen sucht die vergleichende Musik-
Wissenschaft festzustellen, welche Rolle die Musik im Leben der verschiedenen
exotischen Völker spielt, bei welchen Gelegenheiten musiziere wird und von wem.
ob Musikinstrumente existieren und welcher Art und Abstammung sie sind. Sehr
bedeutsam ist auch die Frage nach etwaigem musikalischen Import aus fremden
Ländern und Kulturen und dessen Einwirkung auf die nationale Musik.

Daß die Tonkunst fast nirgends einen so geringen Faktor im öffentlichen
Leben bildet wie in den Ländern mit europäischer Zivilisation, ist bekannt.
„Wollt ihr wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der Ein¬
geborenen gut oder schlecht sind? Fragt die Musik!" Dies war die Ansicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0283" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318566"/>
          <fw type="header" place="top"> Exotische Musik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1355" prev="#ID_1354"> Intervalle unseres Tonsystems umzuhören. Nur wenn die Abweichung eine<lb/>
gewisse Grenze überschreitet, fassen wir sie als Verstimmung auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1356"> Weit befremdender als das Tonsystem der Siamesen mutet uns ihre Art<lb/>
des gemeinsamen Musizierens an. In ihrem Orchester spielt jedes Instrument<lb/>
eine Variation des Themas, und zwar seiner Beschaffenheit gemäß: die Flöte<lb/>
zum Beispiel flicht vor allem Triller und kleine rasche Schinuckpassagen in die<lb/>
melodische Linie ein, während die tonalen Schlaginstrumente (Xylophon und<lb/>
Metallophon) ihren besonderen Charakter durch akzentuierte Läufe und zahlreiche<lb/>
Tremolos zum Ausdruck bringen. Es ist also viel eher ein Nebeneinander- als<lb/>
ein Zusammenmusizieren, wofür Stumpf eine sehr treffende Bezeichnung gefunden<lb/>
hat: Heterophonie. Der Ausdruck stammt von Plato, dessen Schilderung es<lb/>
wahrscheinlich macht, daß die alten Griechen in ähnlicher Weise musiziere haben,<lb/>
wie es heute noch in Siam geschieht und auch auf Java, in China, in Japan<lb/>
und anderwärts, Diese heterophonen Formen vereinigen sich zuweilen mit den<lb/>
bereits erwähnten Quinten- und Quartenparallelen. Ein chinesisches Jnstrumental-<lb/>
stück beginnt folgendermaßen:</p><lb/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_318282/figures/grenzboten_341893_318282_318566_004.jpg"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1357"> Neben diesen Studien am Phonographen sucht die vergleichende Musik-<lb/>
Wissenschaft festzustellen, welche Rolle die Musik im Leben der verschiedenen<lb/>
exotischen Völker spielt, bei welchen Gelegenheiten musiziere wird und von wem.<lb/>
ob Musikinstrumente existieren und welcher Art und Abstammung sie sind. Sehr<lb/>
bedeutsam ist auch die Frage nach etwaigem musikalischen Import aus fremden<lb/>
Ländern und Kulturen und dessen Einwirkung auf die nationale Musik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1358" next="#ID_1359"> Daß die Tonkunst fast nirgends einen so geringen Faktor im öffentlichen<lb/>
Leben bildet wie in den Ländern mit europäischer Zivilisation, ist bekannt.<lb/>
&#x201E;Wollt ihr wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der Ein¬<lb/>
geborenen gut oder schlecht sind? Fragt die Musik!"  Dies war die Ansicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0283] Exotische Musik Intervalle unseres Tonsystems umzuhören. Nur wenn die Abweichung eine gewisse Grenze überschreitet, fassen wir sie als Verstimmung auf. Weit befremdender als das Tonsystem der Siamesen mutet uns ihre Art des gemeinsamen Musizierens an. In ihrem Orchester spielt jedes Instrument eine Variation des Themas, und zwar seiner Beschaffenheit gemäß: die Flöte zum Beispiel flicht vor allem Triller und kleine rasche Schinuckpassagen in die melodische Linie ein, während die tonalen Schlaginstrumente (Xylophon und Metallophon) ihren besonderen Charakter durch akzentuierte Läufe und zahlreiche Tremolos zum Ausdruck bringen. Es ist also viel eher ein Nebeneinander- als ein Zusammenmusizieren, wofür Stumpf eine sehr treffende Bezeichnung gefunden hat: Heterophonie. Der Ausdruck stammt von Plato, dessen Schilderung es wahrscheinlich macht, daß die alten Griechen in ähnlicher Weise musiziere haben, wie es heute noch in Siam geschieht und auch auf Java, in China, in Japan und anderwärts, Diese heterophonen Formen vereinigen sich zuweilen mit den bereits erwähnten Quinten- und Quartenparallelen. Ein chinesisches Jnstrumental- stück beginnt folgendermaßen: [Abbildung] Neben diesen Studien am Phonographen sucht die vergleichende Musik- Wissenschaft festzustellen, welche Rolle die Musik im Leben der verschiedenen exotischen Völker spielt, bei welchen Gelegenheiten musiziere wird und von wem. ob Musikinstrumente existieren und welcher Art und Abstammung sie sind. Sehr bedeutsam ist auch die Frage nach etwaigem musikalischen Import aus fremden Ländern und Kulturen und dessen Einwirkung auf die nationale Musik. Daß die Tonkunst fast nirgends einen so geringen Faktor im öffentlichen Leben bildet wie in den Ländern mit europäischer Zivilisation, ist bekannt. „Wollt ihr wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der Ein¬ geborenen gut oder schlecht sind? Fragt die Musik!" Dies war die Ansicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/283
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/283>, abgerufen am 22.07.2024.