Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Exotische Musik

der Schluß. . . . Von diesem Grundtypus sind über hundert Sätzchen ^wie
und V^s in den Phonogrammen enthalten. Sie zeigen so im Aufbau
Ähnlichkeit mit unserer strengen klassischen achttaktigen Periode, um so mehr,
als sie regelmäßig paarweis gesetzt sind, und so der erste Schluß manchmal
den Eindruck eines Halbschlusses macht. . . Charakteristisch ist aber der
Schlußvorbau."

Die Behauptungen mancher früheren Forschungsreisenden, daß die Gesänge
der Naturvölker in einem durchaus regellosen Geheul beständen, sind damit zur
Genüge widerlegt. Denn es handelt sich hier um eine der niedrigsten Stufen
musikalischer Kunst, die bis jetzt bekannt sind. Die anderen sogenannten primi¬
tiven Völker, die im Berliner Phonogramm-Archiv vertreten sind, operieren mit
bedeutend mehr Tönen und singen vor allem rhythmisch komplizierter.

In unserer sich immer ausschließlicher auf harmonische Basis stellenden
Tonkunst degeneriert das rhythmische Moment. Bei der rein melodischen Musik
der exotischen Völker hat es dagegen in den meisten Fällen einen außerordentlich
hohen Entwicklungsgrad erreicht. Besonders wenn die Trommel mit im Spiel
ist, treten häufig rhythmische Gebilde auf, die aufzufassen wir vollkommen
außerstande sind. Afrika hat es darin anscheinend am weitesten gebracht. In
Westafrika gibt es eine wahre Polyphonie des Rhythmus: drei oder mehr
Trommeln tragen zu gleicher Zeit verschiedene Rhythmen vor, und zwar als
Begleitung zu einen: Gesang, der wieder seinen ganz besonderen Takt und
Rhythmus haben kann. Wenn man ein solches Musikstück in der Weise phono¬
graphisch festlegt, daß man jede Trommel mit einem besonderen Apparat auf¬
nimmt, diese einzelnen "Stimmen" dann transkribiert und in einer Partitur
mit den: Gesang vereinigt, wird man die merkwürdigsten Formen und
Wechselbeziehungen und überall eine strenge Regelmäßigkeit finden.

Daß bei allen Negern das Auffassungsvermögen für komplizierte rhythmische
Gefüge außerordentlich geschult ist, zeigt sich auch in der sogenannten Trvmmel-
sprache. Diese bildet eine Art drahtloser Telegraphie: Bei vielen Stämmen
West- und Mittelafrikas besitzt jedes Dorf eine Trommel, die bestimmt
ist, Mitteilungen auf akustischen: Wege in benachbarte Dörfer gelangen
zu lassen, die von diesen, falls es erforderlich ist, weitergegeben werden.
Da die hellen Töne dieser Holztrommeln besonders während der Nacht auf
sehr weite Strecken vernehmbar sind, bildet dieses Meldesystem einen äußerst
wichtigen Faktor im Leben zahlreicher afrikanischer Negervölker. Es findet sich
übrigens auch in der Südsee und in Südamerika.

Eine ausgesprochene Vorliebe für rhythmische Delikatessen in der Melodie
selbst besitzen die Indianer, während die Trommelbegleitung bei ihnen meist
recht einfach ist. Nur geht sie oft in einem anderen Takt als die zugehörige
Gesangmelodie, oder ihre Schläge erfolgen stets auf den nach unserer Auffassung
schlechten Taktteil. Ein Tauzgefang der Thompson-River-Jndianer aus Britisch-
Columbia lautet:


Exotische Musik

der Schluß. . . . Von diesem Grundtypus sind über hundert Sätzchen ^wie
und V^s in den Phonogrammen enthalten. Sie zeigen so im Aufbau
Ähnlichkeit mit unserer strengen klassischen achttaktigen Periode, um so mehr,
als sie regelmäßig paarweis gesetzt sind, und so der erste Schluß manchmal
den Eindruck eines Halbschlusses macht. . . Charakteristisch ist aber der
Schlußvorbau."

Die Behauptungen mancher früheren Forschungsreisenden, daß die Gesänge
der Naturvölker in einem durchaus regellosen Geheul beständen, sind damit zur
Genüge widerlegt. Denn es handelt sich hier um eine der niedrigsten Stufen
musikalischer Kunst, die bis jetzt bekannt sind. Die anderen sogenannten primi¬
tiven Völker, die im Berliner Phonogramm-Archiv vertreten sind, operieren mit
bedeutend mehr Tönen und singen vor allem rhythmisch komplizierter.

In unserer sich immer ausschließlicher auf harmonische Basis stellenden
Tonkunst degeneriert das rhythmische Moment. Bei der rein melodischen Musik
der exotischen Völker hat es dagegen in den meisten Fällen einen außerordentlich
hohen Entwicklungsgrad erreicht. Besonders wenn die Trommel mit im Spiel
ist, treten häufig rhythmische Gebilde auf, die aufzufassen wir vollkommen
außerstande sind. Afrika hat es darin anscheinend am weitesten gebracht. In
Westafrika gibt es eine wahre Polyphonie des Rhythmus: drei oder mehr
Trommeln tragen zu gleicher Zeit verschiedene Rhythmen vor, und zwar als
Begleitung zu einen: Gesang, der wieder seinen ganz besonderen Takt und
Rhythmus haben kann. Wenn man ein solches Musikstück in der Weise phono¬
graphisch festlegt, daß man jede Trommel mit einem besonderen Apparat auf¬
nimmt, diese einzelnen „Stimmen" dann transkribiert und in einer Partitur
mit den: Gesang vereinigt, wird man die merkwürdigsten Formen und
Wechselbeziehungen und überall eine strenge Regelmäßigkeit finden.

Daß bei allen Negern das Auffassungsvermögen für komplizierte rhythmische
Gefüge außerordentlich geschult ist, zeigt sich auch in der sogenannten Trvmmel-
sprache. Diese bildet eine Art drahtloser Telegraphie: Bei vielen Stämmen
West- und Mittelafrikas besitzt jedes Dorf eine Trommel, die bestimmt
ist, Mitteilungen auf akustischen: Wege in benachbarte Dörfer gelangen
zu lassen, die von diesen, falls es erforderlich ist, weitergegeben werden.
Da die hellen Töne dieser Holztrommeln besonders während der Nacht auf
sehr weite Strecken vernehmbar sind, bildet dieses Meldesystem einen äußerst
wichtigen Faktor im Leben zahlreicher afrikanischer Negervölker. Es findet sich
übrigens auch in der Südsee und in Südamerika.

Eine ausgesprochene Vorliebe für rhythmische Delikatessen in der Melodie
selbst besitzen die Indianer, während die Trommelbegleitung bei ihnen meist
recht einfach ist. Nur geht sie oft in einem anderen Takt als die zugehörige
Gesangmelodie, oder ihre Schläge erfolgen stets auf den nach unserer Auffassung
schlechten Taktteil. Ein Tauzgefang der Thompson-River-Jndianer aus Britisch-
Columbia lautet:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318563"/>
          <fw type="header" place="top"> Exotische Musik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1340" prev="#ID_1339"> der Schluß. . . . Von diesem Grundtypus sind über hundert Sätzchen ^wie<lb/>
und V^s in den Phonogrammen enthalten. Sie zeigen so im Aufbau<lb/>
Ähnlichkeit mit unserer strengen klassischen achttaktigen Periode, um so mehr,<lb/>
als sie regelmäßig paarweis gesetzt sind, und so der erste Schluß manchmal<lb/>
den Eindruck eines Halbschlusses macht. . . Charakteristisch ist aber der<lb/>
Schlußvorbau."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1341"> Die Behauptungen mancher früheren Forschungsreisenden, daß die Gesänge<lb/>
der Naturvölker in einem durchaus regellosen Geheul beständen, sind damit zur<lb/>
Genüge widerlegt. Denn es handelt sich hier um eine der niedrigsten Stufen<lb/>
musikalischer Kunst, die bis jetzt bekannt sind. Die anderen sogenannten primi¬<lb/>
tiven Völker, die im Berliner Phonogramm-Archiv vertreten sind, operieren mit<lb/>
bedeutend mehr Tönen und singen vor allem rhythmisch komplizierter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1342"> In unserer sich immer ausschließlicher auf harmonische Basis stellenden<lb/>
Tonkunst degeneriert das rhythmische Moment. Bei der rein melodischen Musik<lb/>
der exotischen Völker hat es dagegen in den meisten Fällen einen außerordentlich<lb/>
hohen Entwicklungsgrad erreicht. Besonders wenn die Trommel mit im Spiel<lb/>
ist, treten häufig rhythmische Gebilde auf, die aufzufassen wir vollkommen<lb/>
außerstande sind. Afrika hat es darin anscheinend am weitesten gebracht. In<lb/>
Westafrika gibt es eine wahre Polyphonie des Rhythmus: drei oder mehr<lb/>
Trommeln tragen zu gleicher Zeit verschiedene Rhythmen vor, und zwar als<lb/>
Begleitung zu einen: Gesang, der wieder seinen ganz besonderen Takt und<lb/>
Rhythmus haben kann. Wenn man ein solches Musikstück in der Weise phono¬<lb/>
graphisch festlegt, daß man jede Trommel mit einem besonderen Apparat auf¬<lb/>
nimmt, diese einzelnen &#x201E;Stimmen" dann transkribiert und in einer Partitur<lb/>
mit den: Gesang vereinigt, wird man die merkwürdigsten Formen und<lb/>
Wechselbeziehungen und überall eine strenge Regelmäßigkeit finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1343"> Daß bei allen Negern das Auffassungsvermögen für komplizierte rhythmische<lb/>
Gefüge außerordentlich geschult ist, zeigt sich auch in der sogenannten Trvmmel-<lb/>
sprache. Diese bildet eine Art drahtloser Telegraphie: Bei vielen Stämmen<lb/>
West- und Mittelafrikas besitzt jedes Dorf eine Trommel, die bestimmt<lb/>
ist, Mitteilungen auf akustischen: Wege in benachbarte Dörfer gelangen<lb/>
zu lassen, die von diesen, falls es erforderlich ist, weitergegeben werden.<lb/>
Da die hellen Töne dieser Holztrommeln besonders während der Nacht auf<lb/>
sehr weite Strecken vernehmbar sind, bildet dieses Meldesystem einen äußerst<lb/>
wichtigen Faktor im Leben zahlreicher afrikanischer Negervölker. Es findet sich<lb/>
übrigens auch in der Südsee und in Südamerika.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1344"> Eine ausgesprochene Vorliebe für rhythmische Delikatessen in der Melodie<lb/>
selbst besitzen die Indianer, während die Trommelbegleitung bei ihnen meist<lb/>
recht einfach ist. Nur geht sie oft in einem anderen Takt als die zugehörige<lb/>
Gesangmelodie, oder ihre Schläge erfolgen stets auf den nach unserer Auffassung<lb/>
schlechten Taktteil. Ein Tauzgefang der Thompson-River-Jndianer aus Britisch-<lb/>
Columbia lautet:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0280] Exotische Musik der Schluß. . . . Von diesem Grundtypus sind über hundert Sätzchen ^wie und V^s in den Phonogrammen enthalten. Sie zeigen so im Aufbau Ähnlichkeit mit unserer strengen klassischen achttaktigen Periode, um so mehr, als sie regelmäßig paarweis gesetzt sind, und so der erste Schluß manchmal den Eindruck eines Halbschlusses macht. . . Charakteristisch ist aber der Schlußvorbau." Die Behauptungen mancher früheren Forschungsreisenden, daß die Gesänge der Naturvölker in einem durchaus regellosen Geheul beständen, sind damit zur Genüge widerlegt. Denn es handelt sich hier um eine der niedrigsten Stufen musikalischer Kunst, die bis jetzt bekannt sind. Die anderen sogenannten primi¬ tiven Völker, die im Berliner Phonogramm-Archiv vertreten sind, operieren mit bedeutend mehr Tönen und singen vor allem rhythmisch komplizierter. In unserer sich immer ausschließlicher auf harmonische Basis stellenden Tonkunst degeneriert das rhythmische Moment. Bei der rein melodischen Musik der exotischen Völker hat es dagegen in den meisten Fällen einen außerordentlich hohen Entwicklungsgrad erreicht. Besonders wenn die Trommel mit im Spiel ist, treten häufig rhythmische Gebilde auf, die aufzufassen wir vollkommen außerstande sind. Afrika hat es darin anscheinend am weitesten gebracht. In Westafrika gibt es eine wahre Polyphonie des Rhythmus: drei oder mehr Trommeln tragen zu gleicher Zeit verschiedene Rhythmen vor, und zwar als Begleitung zu einen: Gesang, der wieder seinen ganz besonderen Takt und Rhythmus haben kann. Wenn man ein solches Musikstück in der Weise phono¬ graphisch festlegt, daß man jede Trommel mit einem besonderen Apparat auf¬ nimmt, diese einzelnen „Stimmen" dann transkribiert und in einer Partitur mit den: Gesang vereinigt, wird man die merkwürdigsten Formen und Wechselbeziehungen und überall eine strenge Regelmäßigkeit finden. Daß bei allen Negern das Auffassungsvermögen für komplizierte rhythmische Gefüge außerordentlich geschult ist, zeigt sich auch in der sogenannten Trvmmel- sprache. Diese bildet eine Art drahtloser Telegraphie: Bei vielen Stämmen West- und Mittelafrikas besitzt jedes Dorf eine Trommel, die bestimmt ist, Mitteilungen auf akustischen: Wege in benachbarte Dörfer gelangen zu lassen, die von diesen, falls es erforderlich ist, weitergegeben werden. Da die hellen Töne dieser Holztrommeln besonders während der Nacht auf sehr weite Strecken vernehmbar sind, bildet dieses Meldesystem einen äußerst wichtigen Faktor im Leben zahlreicher afrikanischer Negervölker. Es findet sich übrigens auch in der Südsee und in Südamerika. Eine ausgesprochene Vorliebe für rhythmische Delikatessen in der Melodie selbst besitzen die Indianer, während die Trommelbegleitung bei ihnen meist recht einfach ist. Nur geht sie oft in einem anderen Takt als die zugehörige Gesangmelodie, oder ihre Schläge erfolgen stets auf den nach unserer Auffassung schlechten Taktteil. Ein Tauzgefang der Thompson-River-Jndianer aus Britisch- Columbia lautet:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/280
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/280>, abgerufen am 28.09.2024.