Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Exotische Musik

etwa darin, daß unter den vorhandenen Stücken diejenigen herausgesucht werden,
die vom Standpunkt des mitteleuropäischen Musikers als die wohltönendsten
und interessantesten erscheinen. Das subjektive Moment muß vielmehr zunächst
ganz außer Betracht gelassen werden. Die Untersuchungen richten sich vor
allem darauf, welche Intervalle in dem betreffenden Musikstück vorkommen,
welch eine Leiter resp, welch ein System sich ergibt, wenn die Töne der Höhe
nach geordnet werden, wie die Melodie beschaffen ist, ob sie Haupt-und Neben¬
töne enthält, ob das Stück irgendeine Struktur besitzt, und ob aus dieser ein
bestimmtes Schema zu ermitteln ist, das sich auf andere Stücke anwenden läßt.
Ferner ist die musikalische Vortragsart von großer Wichtigkeit. Nur läßt sich
diese in den meisten Fällen sehr schwer beschreiben, da die exotische Musik in
ihrem Vortrag zahlreiche Eigentümlichkeiten enthält, die unserer Tonkunst fremd
sind, und für die es deshalb in unserem musikalischen Vokabularium keine
Bezeichnungen gibt.

Das genaue Transkribieren von fremdländischen Musikstücken ist überhaupt
nicht eben leicht. Wer zum erstenmal eine solche Niederschrift zur Hand nimmt,
wird mit erstaunten Blicken die mannigfachen diakritischen Zeichen betrachten,
die der gewöhnlichen Notenschrift unbekannt sind. Indessen gewöhnt sich der
Leser sehr rasch an sie, ohne deren Hilfe es unmöglich wäre, ihm ein auch
nur halbwegs getreues Bild von exotischer Musik zu verschaffen.

Das wichtigste Ergebnis der bisherigen Untersuchungen besteht in der Fest¬
stellung, daß auch die Melodien der primitivsten Musik, die der Phonograph
bis heute aufgezeichnet hat, eine gewisse Struktur besitzen. Damit ist nicht
gemeint, daß alle musikalischen Strophen von gleicher Länge wären -- das
hätte, zumal bei Tanz- und Arbeitsgesängen, weiter nichts Überraschendes --,
sondern daß die einzelnen Melodieteile in sich selbst einen bestimmten Aufbau
erkennen lassen, und zwar, wenn sie dem gleichen Volksstamm angehören, meist
einen so ähnlichen, daß die Aufstellung eines Schemas möglich wird. Zum
Beleg möge eine Melodie der Wedda auf Ceylon dienen.



Der Bearbeiter dieser Melodien kommt in seinen Untersuchungen zu fol¬
gendem Ergebnis: "Der Tonvorrat beschränkt sich auf zwei, höchstens drei Töne,
und der Tonumfang auf einen Ganzton, höchstens eine erhöhte kleine Terz;
aber die Töne sind präzis und klar. ... Der Bau der meisten Gebilde hat
rhythmisch-melodisch im wesentlichen das Gesetz, daß ein kleines Motiv (zwei
Viertelwerte) zunächst zweimal erscheint, hernach kommen zwei Viertelwerte oder
einer, wobei regelmäßig der tiefste Ton erreicht wird (Schlußvorbau), und dann


Exotische Musik

etwa darin, daß unter den vorhandenen Stücken diejenigen herausgesucht werden,
die vom Standpunkt des mitteleuropäischen Musikers als die wohltönendsten
und interessantesten erscheinen. Das subjektive Moment muß vielmehr zunächst
ganz außer Betracht gelassen werden. Die Untersuchungen richten sich vor
allem darauf, welche Intervalle in dem betreffenden Musikstück vorkommen,
welch eine Leiter resp, welch ein System sich ergibt, wenn die Töne der Höhe
nach geordnet werden, wie die Melodie beschaffen ist, ob sie Haupt-und Neben¬
töne enthält, ob das Stück irgendeine Struktur besitzt, und ob aus dieser ein
bestimmtes Schema zu ermitteln ist, das sich auf andere Stücke anwenden läßt.
Ferner ist die musikalische Vortragsart von großer Wichtigkeit. Nur läßt sich
diese in den meisten Fällen sehr schwer beschreiben, da die exotische Musik in
ihrem Vortrag zahlreiche Eigentümlichkeiten enthält, die unserer Tonkunst fremd
sind, und für die es deshalb in unserem musikalischen Vokabularium keine
Bezeichnungen gibt.

Das genaue Transkribieren von fremdländischen Musikstücken ist überhaupt
nicht eben leicht. Wer zum erstenmal eine solche Niederschrift zur Hand nimmt,
wird mit erstaunten Blicken die mannigfachen diakritischen Zeichen betrachten,
die der gewöhnlichen Notenschrift unbekannt sind. Indessen gewöhnt sich der
Leser sehr rasch an sie, ohne deren Hilfe es unmöglich wäre, ihm ein auch
nur halbwegs getreues Bild von exotischer Musik zu verschaffen.

Das wichtigste Ergebnis der bisherigen Untersuchungen besteht in der Fest¬
stellung, daß auch die Melodien der primitivsten Musik, die der Phonograph
bis heute aufgezeichnet hat, eine gewisse Struktur besitzen. Damit ist nicht
gemeint, daß alle musikalischen Strophen von gleicher Länge wären — das
hätte, zumal bei Tanz- und Arbeitsgesängen, weiter nichts Überraschendes —,
sondern daß die einzelnen Melodieteile in sich selbst einen bestimmten Aufbau
erkennen lassen, und zwar, wenn sie dem gleichen Volksstamm angehören, meist
einen so ähnlichen, daß die Aufstellung eines Schemas möglich wird. Zum
Beleg möge eine Melodie der Wedda auf Ceylon dienen.



Der Bearbeiter dieser Melodien kommt in seinen Untersuchungen zu fol¬
gendem Ergebnis: „Der Tonvorrat beschränkt sich auf zwei, höchstens drei Töne,
und der Tonumfang auf einen Ganzton, höchstens eine erhöhte kleine Terz;
aber die Töne sind präzis und klar. ... Der Bau der meisten Gebilde hat
rhythmisch-melodisch im wesentlichen das Gesetz, daß ein kleines Motiv (zwei
Viertelwerte) zunächst zweimal erscheint, hernach kommen zwei Viertelwerte oder
einer, wobei regelmäßig der tiefste Ton erreicht wird (Schlußvorbau), und dann


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318562"/>
          <fw type="header" place="top"> Exotische Musik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1336" prev="#ID_1335"> etwa darin, daß unter den vorhandenen Stücken diejenigen herausgesucht werden,<lb/>
die vom Standpunkt des mitteleuropäischen Musikers als die wohltönendsten<lb/>
und interessantesten erscheinen. Das subjektive Moment muß vielmehr zunächst<lb/>
ganz außer Betracht gelassen werden. Die Untersuchungen richten sich vor<lb/>
allem darauf, welche Intervalle in dem betreffenden Musikstück vorkommen,<lb/>
welch eine Leiter resp, welch ein System sich ergibt, wenn die Töne der Höhe<lb/>
nach geordnet werden, wie die Melodie beschaffen ist, ob sie Haupt-und Neben¬<lb/>
töne enthält, ob das Stück irgendeine Struktur besitzt, und ob aus dieser ein<lb/>
bestimmtes Schema zu ermitteln ist, das sich auf andere Stücke anwenden läßt.<lb/>
Ferner ist die musikalische Vortragsart von großer Wichtigkeit. Nur läßt sich<lb/>
diese in den meisten Fällen sehr schwer beschreiben, da die exotische Musik in<lb/>
ihrem Vortrag zahlreiche Eigentümlichkeiten enthält, die unserer Tonkunst fremd<lb/>
sind, und für die es deshalb in unserem musikalischen Vokabularium keine<lb/>
Bezeichnungen gibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1337"> Das genaue Transkribieren von fremdländischen Musikstücken ist überhaupt<lb/>
nicht eben leicht. Wer zum erstenmal eine solche Niederschrift zur Hand nimmt,<lb/>
wird mit erstaunten Blicken die mannigfachen diakritischen Zeichen betrachten,<lb/>
die der gewöhnlichen Notenschrift unbekannt sind. Indessen gewöhnt sich der<lb/>
Leser sehr rasch an sie, ohne deren Hilfe es unmöglich wäre, ihm ein auch<lb/>
nur halbwegs getreues Bild von exotischer Musik zu verschaffen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1338"> Das wichtigste Ergebnis der bisherigen Untersuchungen besteht in der Fest¬<lb/>
stellung, daß auch die Melodien der primitivsten Musik, die der Phonograph<lb/>
bis heute aufgezeichnet hat, eine gewisse Struktur besitzen. Damit ist nicht<lb/>
gemeint, daß alle musikalischen Strophen von gleicher Länge wären &#x2014; das<lb/>
hätte, zumal bei Tanz- und Arbeitsgesängen, weiter nichts Überraschendes &#x2014;,<lb/>
sondern daß die einzelnen Melodieteile in sich selbst einen bestimmten Aufbau<lb/>
erkennen lassen, und zwar, wenn sie dem gleichen Volksstamm angehören, meist<lb/>
einen so ähnlichen, daß die Aufstellung eines Schemas möglich wird. Zum<lb/>
Beleg möge eine Melodie der Wedda auf Ceylon dienen.</p><lb/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_318282/figures/grenzboten_341893_318282_318562_005.jpg"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1339" next="#ID_1340"> Der Bearbeiter dieser Melodien kommt in seinen Untersuchungen zu fol¬<lb/>
gendem Ergebnis: &#x201E;Der Tonvorrat beschränkt sich auf zwei, höchstens drei Töne,<lb/>
und der Tonumfang auf einen Ganzton, höchstens eine erhöhte kleine Terz;<lb/>
aber die Töne sind präzis und klar. ... Der Bau der meisten Gebilde hat<lb/>
rhythmisch-melodisch im wesentlichen das Gesetz, daß ein kleines Motiv (zwei<lb/>
Viertelwerte) zunächst zweimal erscheint, hernach kommen zwei Viertelwerte oder<lb/>
einer, wobei regelmäßig der tiefste Ton erreicht wird (Schlußvorbau), und dann</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0279] Exotische Musik etwa darin, daß unter den vorhandenen Stücken diejenigen herausgesucht werden, die vom Standpunkt des mitteleuropäischen Musikers als die wohltönendsten und interessantesten erscheinen. Das subjektive Moment muß vielmehr zunächst ganz außer Betracht gelassen werden. Die Untersuchungen richten sich vor allem darauf, welche Intervalle in dem betreffenden Musikstück vorkommen, welch eine Leiter resp, welch ein System sich ergibt, wenn die Töne der Höhe nach geordnet werden, wie die Melodie beschaffen ist, ob sie Haupt-und Neben¬ töne enthält, ob das Stück irgendeine Struktur besitzt, und ob aus dieser ein bestimmtes Schema zu ermitteln ist, das sich auf andere Stücke anwenden läßt. Ferner ist die musikalische Vortragsart von großer Wichtigkeit. Nur läßt sich diese in den meisten Fällen sehr schwer beschreiben, da die exotische Musik in ihrem Vortrag zahlreiche Eigentümlichkeiten enthält, die unserer Tonkunst fremd sind, und für die es deshalb in unserem musikalischen Vokabularium keine Bezeichnungen gibt. Das genaue Transkribieren von fremdländischen Musikstücken ist überhaupt nicht eben leicht. Wer zum erstenmal eine solche Niederschrift zur Hand nimmt, wird mit erstaunten Blicken die mannigfachen diakritischen Zeichen betrachten, die der gewöhnlichen Notenschrift unbekannt sind. Indessen gewöhnt sich der Leser sehr rasch an sie, ohne deren Hilfe es unmöglich wäre, ihm ein auch nur halbwegs getreues Bild von exotischer Musik zu verschaffen. Das wichtigste Ergebnis der bisherigen Untersuchungen besteht in der Fest¬ stellung, daß auch die Melodien der primitivsten Musik, die der Phonograph bis heute aufgezeichnet hat, eine gewisse Struktur besitzen. Damit ist nicht gemeint, daß alle musikalischen Strophen von gleicher Länge wären — das hätte, zumal bei Tanz- und Arbeitsgesängen, weiter nichts Überraschendes —, sondern daß die einzelnen Melodieteile in sich selbst einen bestimmten Aufbau erkennen lassen, und zwar, wenn sie dem gleichen Volksstamm angehören, meist einen so ähnlichen, daß die Aufstellung eines Schemas möglich wird. Zum Beleg möge eine Melodie der Wedda auf Ceylon dienen. [Abbildung] Der Bearbeiter dieser Melodien kommt in seinen Untersuchungen zu fol¬ gendem Ergebnis: „Der Tonvorrat beschränkt sich auf zwei, höchstens drei Töne, und der Tonumfang auf einen Ganzton, höchstens eine erhöhte kleine Terz; aber die Töne sind präzis und klar. ... Der Bau der meisten Gebilde hat rhythmisch-melodisch im wesentlichen das Gesetz, daß ein kleines Motiv (zwei Viertelwerte) zunächst zweimal erscheint, hernach kommen zwei Viertelwerte oder einer, wobei regelmäßig der tiefste Ton erreicht wird (Schlußvorbau), und dann

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/279
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/279>, abgerufen am 26.06.2024.