Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Richard Koch und die Reichsbank

Noch im Jahre .1873, als Koch schon bei der Preußischen Bank war, erfreute
sich das Deutsche Reich des Daseins von nicht weniger als einhundcrtundvierzig
Arten papierner Wertzeichen (Banknoten und Papiergeld), die mehr und mehr
das Hartgeld aus dem Verkehr gedrängt hatten.

Die Bevölkerung Deutschlands betrug um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts nur etwa 35 Millionen Köpfe, also ungefähr ebenso viel als die Frank¬
reichs; das Kapitalvermögen wurde um diese Zeit in Preußen nur auf 720 Mark
auf den Kops der Bevölkerung geschätzt, während man ungefähr um dieselbe
Zeit auf die englische Bevölkerung bereits etwa den vierfachen Betrag berechnete.

Immerhin waren aber seit 1834 durch die Begründung des Deutschen
Zollvereins, der ein einheitliches Wirtschaftsgebiet und eine einheitliche Wirt¬
schaftspolitik ermöglicht hatte, die Vorbedingungen für einen wirtschaftlichen Auf¬
schwung geschaffen, der anch damals bereits in teilweise erheblicher Weise ein¬
setzte, begünstigt durch eine endliche Ansammlung von Kapitalien, die eine in
Deutschland ungewohnt lange mehr als dreißigjährige Friedensära (1815 bis
1848) gestattet hatte, und beschleunigt durch einen Bevölkerungszuwachs, der
gerade in dieser Epoche noch stärker war als in der Zeit von 1865 bis 1895.

Richard Koch hatte ans seiner früheren Tätigkeit große praktische Erfahrungen
auf dem Gebiete des Verkehrs nicht mitbringen können. Als er im Jahre 1871
nach etwa achtjähriger richterlicher Tätigkeit und nicht unerheblicher wissenschaft¬
licher Betätigung seine zunächst nur juristische, dann aber bald immer mehr
finanzpolitische Tätigkeit in der Preußischen und demnächst in der Reichsbank
begann, hatte sich bereits die wirtschaftliche Struktur des Staats und Reichs in
bekannter Weise wesentlich geändert. Die Bevölkerung war auf über 40 Millionen
angewachsen, von denen schon etwa 36 Prozent in den Städten wohnten, und
es gab bereits acht Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, von welchen
Berlin allein damals 774 000 Einwohner zählte. Unter dem tiefen Eindruck
der endlich erreichten Einigung des deutschen Volkes in: Deutschen Reiche und
unter Mitwirkung eines wirtschaftlichen Danaergeschenks, der allzu rasch und
allzu reichlich in den Verkehr gebrachten französischen Kriegsentschädigung von
5 Milliarden Franken, sowie des gewaltigen jährlichen Bevölkerungszuwachses
hatte sofort eine geradezu fieberhafte Entwicklung der deutschen Industrie begonnen.
Ihr fiel die nationale Aufgabe zu, zusammen mit der Landwirtschaft dem
Bevölkerungszuwachs Nahrung und Beschäftigung zu verschaffen und zugleich
den ungeheueren Vorsprung einzuholen, den das Ausland seit langer Zeit auf
den wichtigsten Gebieten wirtschaftlicher Betätigung gewonnen hatte. Man
versuchte jetzt mit Siebenmeilenstiefeln in wenigen Jahren einzuholen, was man
in Jahrhunderten versäumt hatte und was man mangels nationaler und wirt¬
schaftlicher Geschlossenheit und ausreichender Kapitalanlage nicht einmal ernstlich
hatte anstreben können.

Das junge Deutsche Reich konnte und durfte den stürmischen Entwicklungs¬
drang der wirtschaftlichen Kreise nicht niederhalten. Aber es galt, ihn in möglichst


Richard Koch und die Reichsbank

Noch im Jahre .1873, als Koch schon bei der Preußischen Bank war, erfreute
sich das Deutsche Reich des Daseins von nicht weniger als einhundcrtundvierzig
Arten papierner Wertzeichen (Banknoten und Papiergeld), die mehr und mehr
das Hartgeld aus dem Verkehr gedrängt hatten.

Die Bevölkerung Deutschlands betrug um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts nur etwa 35 Millionen Köpfe, also ungefähr ebenso viel als die Frank¬
reichs; das Kapitalvermögen wurde um diese Zeit in Preußen nur auf 720 Mark
auf den Kops der Bevölkerung geschätzt, während man ungefähr um dieselbe
Zeit auf die englische Bevölkerung bereits etwa den vierfachen Betrag berechnete.

Immerhin waren aber seit 1834 durch die Begründung des Deutschen
Zollvereins, der ein einheitliches Wirtschaftsgebiet und eine einheitliche Wirt¬
schaftspolitik ermöglicht hatte, die Vorbedingungen für einen wirtschaftlichen Auf¬
schwung geschaffen, der anch damals bereits in teilweise erheblicher Weise ein¬
setzte, begünstigt durch eine endliche Ansammlung von Kapitalien, die eine in
Deutschland ungewohnt lange mehr als dreißigjährige Friedensära (1815 bis
1848) gestattet hatte, und beschleunigt durch einen Bevölkerungszuwachs, der
gerade in dieser Epoche noch stärker war als in der Zeit von 1865 bis 1895.

Richard Koch hatte ans seiner früheren Tätigkeit große praktische Erfahrungen
auf dem Gebiete des Verkehrs nicht mitbringen können. Als er im Jahre 1871
nach etwa achtjähriger richterlicher Tätigkeit und nicht unerheblicher wissenschaft¬
licher Betätigung seine zunächst nur juristische, dann aber bald immer mehr
finanzpolitische Tätigkeit in der Preußischen und demnächst in der Reichsbank
begann, hatte sich bereits die wirtschaftliche Struktur des Staats und Reichs in
bekannter Weise wesentlich geändert. Die Bevölkerung war auf über 40 Millionen
angewachsen, von denen schon etwa 36 Prozent in den Städten wohnten, und
es gab bereits acht Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, von welchen
Berlin allein damals 774 000 Einwohner zählte. Unter dem tiefen Eindruck
der endlich erreichten Einigung des deutschen Volkes in: Deutschen Reiche und
unter Mitwirkung eines wirtschaftlichen Danaergeschenks, der allzu rasch und
allzu reichlich in den Verkehr gebrachten französischen Kriegsentschädigung von
5 Milliarden Franken, sowie des gewaltigen jährlichen Bevölkerungszuwachses
hatte sofort eine geradezu fieberhafte Entwicklung der deutschen Industrie begonnen.
Ihr fiel die nationale Aufgabe zu, zusammen mit der Landwirtschaft dem
Bevölkerungszuwachs Nahrung und Beschäftigung zu verschaffen und zugleich
den ungeheueren Vorsprung einzuholen, den das Ausland seit langer Zeit auf
den wichtigsten Gebieten wirtschaftlicher Betätigung gewonnen hatte. Man
versuchte jetzt mit Siebenmeilenstiefeln in wenigen Jahren einzuholen, was man
in Jahrhunderten versäumt hatte und was man mangels nationaler und wirt¬
schaftlicher Geschlossenheit und ausreichender Kapitalanlage nicht einmal ernstlich
hatte anstreben können.

Das junge Deutsche Reich konnte und durfte den stürmischen Entwicklungs¬
drang der wirtschaftlichen Kreise nicht niederhalten. Aber es galt, ihn in möglichst


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318308"/>
          <fw type="header" place="top"> Richard Koch und die Reichsbank</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_65" prev="#ID_64"> Noch im Jahre .1873, als Koch schon bei der Preußischen Bank war, erfreute<lb/>
sich das Deutsche Reich des Daseins von nicht weniger als einhundcrtundvierzig<lb/>
Arten papierner Wertzeichen (Banknoten und Papiergeld), die mehr und mehr<lb/>
das Hartgeld aus dem Verkehr gedrängt hatten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_66"> Die Bevölkerung Deutschlands betrug um die Mitte des vorigen Jahr¬<lb/>
hunderts nur etwa 35 Millionen Köpfe, also ungefähr ebenso viel als die Frank¬<lb/>
reichs; das Kapitalvermögen wurde um diese Zeit in Preußen nur auf 720 Mark<lb/>
auf den Kops der Bevölkerung geschätzt, während man ungefähr um dieselbe<lb/>
Zeit auf die englische Bevölkerung bereits etwa den vierfachen Betrag berechnete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_67"> Immerhin waren aber seit 1834 durch die Begründung des Deutschen<lb/>
Zollvereins, der ein einheitliches Wirtschaftsgebiet und eine einheitliche Wirt¬<lb/>
schaftspolitik ermöglicht hatte, die Vorbedingungen für einen wirtschaftlichen Auf¬<lb/>
schwung geschaffen, der anch damals bereits in teilweise erheblicher Weise ein¬<lb/>
setzte, begünstigt durch eine endliche Ansammlung von Kapitalien, die eine in<lb/>
Deutschland ungewohnt lange mehr als dreißigjährige Friedensära (1815 bis<lb/>
1848) gestattet hatte, und beschleunigt durch einen Bevölkerungszuwachs, der<lb/>
gerade in dieser Epoche noch stärker war als in der Zeit von 1865 bis 1895.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_68"> Richard Koch hatte ans seiner früheren Tätigkeit große praktische Erfahrungen<lb/>
auf dem Gebiete des Verkehrs nicht mitbringen können. Als er im Jahre 1871<lb/>
nach etwa achtjähriger richterlicher Tätigkeit und nicht unerheblicher wissenschaft¬<lb/>
licher Betätigung seine zunächst nur juristische, dann aber bald immer mehr<lb/>
finanzpolitische Tätigkeit in der Preußischen und demnächst in der Reichsbank<lb/>
begann, hatte sich bereits die wirtschaftliche Struktur des Staats und Reichs in<lb/>
bekannter Weise wesentlich geändert. Die Bevölkerung war auf über 40 Millionen<lb/>
angewachsen, von denen schon etwa 36 Prozent in den Städten wohnten, und<lb/>
es gab bereits acht Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, von welchen<lb/>
Berlin allein damals 774 000 Einwohner zählte. Unter dem tiefen Eindruck<lb/>
der endlich erreichten Einigung des deutschen Volkes in: Deutschen Reiche und<lb/>
unter Mitwirkung eines wirtschaftlichen Danaergeschenks, der allzu rasch und<lb/>
allzu reichlich in den Verkehr gebrachten französischen Kriegsentschädigung von<lb/>
5 Milliarden Franken, sowie des gewaltigen jährlichen Bevölkerungszuwachses<lb/>
hatte sofort eine geradezu fieberhafte Entwicklung der deutschen Industrie begonnen.<lb/>
Ihr fiel die nationale Aufgabe zu, zusammen mit der Landwirtschaft dem<lb/>
Bevölkerungszuwachs Nahrung und Beschäftigung zu verschaffen und zugleich<lb/>
den ungeheueren Vorsprung einzuholen, den das Ausland seit langer Zeit auf<lb/>
den wichtigsten Gebieten wirtschaftlicher Betätigung gewonnen hatte. Man<lb/>
versuchte jetzt mit Siebenmeilenstiefeln in wenigen Jahren einzuholen, was man<lb/>
in Jahrhunderten versäumt hatte und was man mangels nationaler und wirt¬<lb/>
schaftlicher Geschlossenheit und ausreichender Kapitalanlage nicht einmal ernstlich<lb/>
hatte anstreben können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_69" next="#ID_70"> Das junge Deutsche Reich konnte und durfte den stürmischen Entwicklungs¬<lb/>
drang der wirtschaftlichen Kreise nicht niederhalten. Aber es galt, ihn in möglichst</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Richard Koch und die Reichsbank Noch im Jahre .1873, als Koch schon bei der Preußischen Bank war, erfreute sich das Deutsche Reich des Daseins von nicht weniger als einhundcrtundvierzig Arten papierner Wertzeichen (Banknoten und Papiergeld), die mehr und mehr das Hartgeld aus dem Verkehr gedrängt hatten. Die Bevölkerung Deutschlands betrug um die Mitte des vorigen Jahr¬ hunderts nur etwa 35 Millionen Köpfe, also ungefähr ebenso viel als die Frank¬ reichs; das Kapitalvermögen wurde um diese Zeit in Preußen nur auf 720 Mark auf den Kops der Bevölkerung geschätzt, während man ungefähr um dieselbe Zeit auf die englische Bevölkerung bereits etwa den vierfachen Betrag berechnete. Immerhin waren aber seit 1834 durch die Begründung des Deutschen Zollvereins, der ein einheitliches Wirtschaftsgebiet und eine einheitliche Wirt¬ schaftspolitik ermöglicht hatte, die Vorbedingungen für einen wirtschaftlichen Auf¬ schwung geschaffen, der anch damals bereits in teilweise erheblicher Weise ein¬ setzte, begünstigt durch eine endliche Ansammlung von Kapitalien, die eine in Deutschland ungewohnt lange mehr als dreißigjährige Friedensära (1815 bis 1848) gestattet hatte, und beschleunigt durch einen Bevölkerungszuwachs, der gerade in dieser Epoche noch stärker war als in der Zeit von 1865 bis 1895. Richard Koch hatte ans seiner früheren Tätigkeit große praktische Erfahrungen auf dem Gebiete des Verkehrs nicht mitbringen können. Als er im Jahre 1871 nach etwa achtjähriger richterlicher Tätigkeit und nicht unerheblicher wissenschaft¬ licher Betätigung seine zunächst nur juristische, dann aber bald immer mehr finanzpolitische Tätigkeit in der Preußischen und demnächst in der Reichsbank begann, hatte sich bereits die wirtschaftliche Struktur des Staats und Reichs in bekannter Weise wesentlich geändert. Die Bevölkerung war auf über 40 Millionen angewachsen, von denen schon etwa 36 Prozent in den Städten wohnten, und es gab bereits acht Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, von welchen Berlin allein damals 774 000 Einwohner zählte. Unter dem tiefen Eindruck der endlich erreichten Einigung des deutschen Volkes in: Deutschen Reiche und unter Mitwirkung eines wirtschaftlichen Danaergeschenks, der allzu rasch und allzu reichlich in den Verkehr gebrachten französischen Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken, sowie des gewaltigen jährlichen Bevölkerungszuwachses hatte sofort eine geradezu fieberhafte Entwicklung der deutschen Industrie begonnen. Ihr fiel die nationale Aufgabe zu, zusammen mit der Landwirtschaft dem Bevölkerungszuwachs Nahrung und Beschäftigung zu verschaffen und zugleich den ungeheueren Vorsprung einzuholen, den das Ausland seit langer Zeit auf den wichtigsten Gebieten wirtschaftlicher Betätigung gewonnen hatte. Man versuchte jetzt mit Siebenmeilenstiefeln in wenigen Jahren einzuholen, was man in Jahrhunderten versäumt hatte und was man mangels nationaler und wirt¬ schaftlicher Geschlossenheit und ausreichender Kapitalanlage nicht einmal ernstlich hatte anstreben können. Das junge Deutsche Reich konnte und durfte den stürmischen Entwicklungs¬ drang der wirtschaftlichen Kreise nicht niederhalten. Aber es galt, ihn in möglichst

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/25>, abgerufen am 01.07.2024.